Fünfzehn Jahre jazzahead!, zehn Jahre jazzahead! Festival – dieses Doppeljubiläum sollte eigentlich 2020 begangen werden, aber aus allseitig bekannten Gründen wurde nichts daraus. Diesjahr dann also digital. Hatte man sich schon längst auf der entsprechenden Plattform registriert und auf gemütliche Sofatage mit Live-Stream eingerichtet, hieß es in letzter Minute doch noch: zwanzig Journalisten können pro Produktionstag in Bremen unter Einhaltung eines strengen Hygienekonzepts live dabei sein. Am 22. April – exakt eine Woche vor Festivalbeginn also – rauschte die Einladung durch den Presseverteiler.
Eingedenk der Tatsache, dass ich zu meiner ersten jazzahead! dank genau so einer Spontanaktion gekommen war (und wir alle wissen: wer einmal dabei war, ist ab jenem Moment Teil der Familie und künftig immer dabei, da gibt es keine Ausreden – zum einen, weil man selbst Blut geleckt hat und immer wieder auf der Suche nach einer Wiederholung des allerersten Geflashtseins ist, zum anderen, weil einen die Sippe nicht mehr entkommen lässt), meldete ich mich kurzentschlossen an, nahm einen Urlaubstag im Parallelgewerbe, brachte den eigentlich ununterbringbaren Hund unter – und bin nun also hier: Good morning Bremen, my love!
Wobei es recht eigentlich Abend ist. Aufgrund unvorhersehbarer Terminkollisionen, wie es im Businessdeutsch so schön heißt, was alles und nichts bedeuten kann, in meinem Falle jedoch, dass das Parallelgewerbe mehr als einen Urlaubstag nicht gewähren konnte, fuhr ich erst am Freitagabend in die Hansestadt ein. Dabei war auch diesjahr der Donnerstag, der klassischerweise Eröffnungsreden, diversen Check-ins, ersten (Re-)Meets&Greets und der Showcase-Nacht des jeweiligen Partnerlandes vorbehalten ist, schon Produktionstag. Ich verpasse das Eröffnungskonzert von Markus Stockhausen ebenso wie das dänische Pianosextett Red Kite und drei niederländische Gruppierungen: Sun-Mi Hong Quintet, Guy Salamon Group und Rembrandt Frerichs Trio.
Immer mit dabei: die nicht zu übersehende – und nichts übersehende – Kamera.
Auch am Freitag hat bereits Heidi Bayers „Virtual Leak“ gestreamt, bevor ich auch nur am Bahnhof bin, hat der Zug aus Hamburg doch Verspätung. Der – wie immer – vorzüglichen Pressebetreuung gelingt es jedoch, mich derart schnell mit Bändchen & Badge zu versorgen, dass ich, 17:50 Uhr am Hauptbahnhof angekommen, zu 17:55 Uhr der Livestream-Produktion des Kölner Quartetts NIAQUE beiwohnen kann. Um den tagesaktuellen Corona-Negativ-Test, ohne den niemand in die Messehallen gelangt, hatte ich mich schon am Vormittag in Berlin gekümmert.
Apropos Halle. Da wir es diesjahr mit einer Messe ohne Messe zu tun haben, wird nur eine Bühne gebraucht. Und weshalb nicht die größte und schönste nehmen, die die Messe Bremen zu bieten hat? Was sonst immer auf die Messehallen 7.1/7.2 und den Schlachthof verteilt ist, findet nun in der ÖVB-Arena statt. Das ist eine Halle für bis zu 14.000 Menschen. Wir sind zu zehnt: drei Journalisten, zwei Leute von der Messe, eine Kamerafrau, zwei Kameramänner, ein Licht- und ein Tontechniker. Plus das Quartett auf der Bühne.
Es ist spooky. Vor allem aber wahnsinnig spannend. Ich fühle mich an das Messejahr 2017 erinnert, wo mir das Presseteam den uneingeschränkten Zugang hinter die Kulissen von Festival und Messe ermöglichte, um meine Abschlussreportage „180 Minuten – Countdown zur Eröffnung der jazzahead!“ nebst Recherchedokumentation für das Deutsche Journalistenkolleg zu schreiben. Nicht weniger geisterhaft ist die Stadt selbst, der ich noch am selben Abend einen Besuch abstatte. Bremen hat, im Gegensatz zu Berlin, eine Ausgangssperre ab 21:00 Uhr verhängt, und damit die Pandemie zwar strenger, aber auch deutlich besser im Griff als die Hauptstadt. Der Marktplatz: verlassen. Wo sonst auch um diese Zeit noch Touristentrauben drängen, um sich vor den Stadtmusikanten ablichten zu lassen oder dem Esel einen Wunsch mitzugeben, herrscht gähnende Leere, und das, obgleich einzelne Klimaschützer auf dem Marktplatz protesthalber dauerkampieren. Ein paar Polizeiwannen, ein paar versprengte Aktivisten – und eine Handvoll jener, die berufsbedingt unterwegs sind. Auch wir jazzahead!-Arbeiter haben eine entsprechende Sondergenehmigung in der Tasche. Ich stehe mitten in der Stadt in der Fußgängerzone auf den Straßenbahngleisen. Kein Mensch, nirgends. Allein für dieses dystopische Erlebnis hat sich die Reise gelohnt.
Auch die Glocke, traditionsreicher Austragungsort des jährlichen jazzahead!-Galakonzertes: zu.
Wiese nicht die eine oder andere einsame Leuchtreklame auf sie hin, stolperte nicht der eine oder andere Musiker spätnächtlich zu den wenigen geöffneten Versorgungsquellen – es gäbe keinen Hinweis auf die Messe.
Obwohl am nächsten Tag der 1. Mai und somit Feiertag ist, stehen sechs Produktionen auf dem Plan. Nach dem tagesaktuellen Test in der Messe, der nach meinem Empfinden ebenfalls bedeutend strenger organisiert ist als in Berlin, erlebe ich – und entdecke für mich neu – das niederländische MAKA Kollektiv um die finnische Sängerin und Trompeterin Kirsi-Marja „Kiki“ Harju im Rahmen des European Jazz Meetings, denn seinen vertrauten Formaten ist das Festival weitestgehend treu geblieben. Es gibt neben dem erwähnten European Jazz Meeting die Canadian Concerts des Partnerlandes, die Overseas Night und die German Jazz Expo. Nicht alle davon werden in den Messehallen produziert. Heute stehen nach dem KAMA Kollektiv noch folgende Acts an: Tilo Weber Quartet „Four Fauns“, The True Harry Nulz, Nau Trio, Neferititi Quartett und Tobias Meinharts „Berlin People“. Ich konzentriere mich auf Weber und Meinhart, muss ich doch, wie so oft, extra die Hauptstadt verlassen, um den Berliner Schlagzeuger, Komponisten und Malletmuse-Labelgründer Weber sowie den Saxophonisten und Teilzeithauptstädter Meinhart zu treffen und sprechen. In Bremen ist endlich Muße dafür.
Tilo Weber hat mit seinem All-Star-Quartett Four Fauns gerade das Zweitwerk Faun Renaissance veröffentlicht, wobei sich der Titel nicht auf die Wiederkunft des Quartetts bezieht, sondern tatsächlich auf die Musik der Renaissance, die Weber hier eigenen Worten zufolge „durch den Wolf gedreht“ hat. Dabei hört man schon vom ersten Ton des Openers, der Gesualdo-Komposition „Se la mia morte brami“, dass es sich um das Album eines Schlagzeugers Handelt, denn auch, wenn Bass, Klarinette und die sich sehr ins Soundgefüge flechtende, überraschend WahWah-lose Trompete Richard Kochs über allerlei Tempiwechsel zart Kontra geben – vor allem klappert’s, rührt’s und scheppert’s hier. Erst mit der darauf folgenden Ockeghem-Komposition „O Rosa Bella“, deren Schlagwerk immer etwas enorm Rührtrommelartiges, Marschbegleitendes aufweist, wird dem Hörer bewusst, dass er es mit – bekannten und weniger bekannten – Reinterpretationen von Melodien der Renaissance zu tun hat, hätte das erste Stück doch durchaus auch als Eigenkomposition Webers durchgehen können. Schön: „Calextone, qui futdame d’Arouse“ mit seinem sekundenbruchteilkurzen Intro von gestrichenem Kontrabass, über dem Kochs – immer noch ungewohnte, weil ungedämpfte – Trompete die Fanfare gibt, bis eine gequälte Klarinette den Eindruck erweckt, hier wäre mindestens ein Synthesizer mit am Start, was aber nicht sein kann, weil die Fauns ein Akustikquartett sind. Und das hat offenkundigen Spaß an der Klangauslotung sowie der mal vollendet harmonisch parallelen, mal kunstvoll gegenläufigen Stimmführung.
Seite A der Platte endet mit dem „Canon Couperin“, von dem man annehmen könnte, dass er ins Repertoire der Alten Musik gehört, derweil er tatsächlich eine Neukomposition Webers ist, der hier das Metronomische von Barock und Renaissance, das hier vor allem vom (Walking?)Bass kommt, betont, das sich wiederum mit etwas Oh-So-Luftigem der Klarinette verbindet, zu der sich in perfekter Zweistimmigkeit die Trompete mal hinzugesellt, mal quietschend ausschert, derweil Weber besensanft begleitet, um bald schon wieder in Klappergeräuschexperimente abzudriften, sich insgesamt aber ungemein zurücknimmt, was das Ätherische der Komposition einmal mehr aufblühen lässt. Auf der digitalen Version gibt es jetzt noch „Mesomedes‘ Hymn to the Muse“, ein Jazz-Jazz-Stück – was das ist, steht hier unter der Rezension von Peter Schwebs Quintet – in Reinform, das es nicht aufs Vinyl geschafft hat.
Dessen Seite B startet mit einer weiteren Weber-Komposition: „Kyrie V“. Und als hätte er das Dystopische der leeren Stadt geahnt, ist sie ihm ein bisschen gespenstisch geraten. Da läuten Totenglocken. Nicht ohne Grund gibt es in jedem Requiem eine Kyrie. Ganz, ganz zart schließt sich eine weitere Eigenkomposition namens „Here Comes Everybody“ an, die eine Tür im Hörer zu öffnen versteht, sodass er sich ab 4:20 gern von der einmal mehr alarmistischen Fanfare zum Appell rufen lässt. „Ma fin est mon commencement“ besticht, um nicht zu sagen: erschreckt mit Störgeräuschigem, Electro-Clashigem, und wieder ist da diese Synthesizer-Anmutung, die zum munteren und dabei irgendwie auch pastoral-beschaulichen (Kreis-)Tanz ruft, der zum wilden Gypsie-Swing gerät, bis wir ganz zum Schluss dann auch die Koch’schen WahWahs sowie allerlei anderes Distortion hören. Mit der sehr getragenen, nahezu zeremoniellen „Kyrie“ aus Palestrinas „Missa Papae Marcelli“ entlässt das Album den Hörer … fast möchte ich schreiben: geheiligt. Doch wirkt sie nicht nur erhebend nach, sondern vor allem auch besänftigend, beruhigend, Ja: Ruhe gebend. Geistesruhe. Seelenruhe. Schön, das.
Ich spreche mit Tilo Weber über das Album, klar, aber auch darüber, dass das Tiefe in der Kunst nicht durch Leiden entsteht, sondern durch Hingabe, sowie über die Situation des Jazz im Lockdown. Natürlich gehört auch die Verortung des Gefühls, in die leere Riesenhalle hineinzuspielen, dazu. Zu diesem befrage ich auch den mittlerweile seit dreizehn Jahren in New York lebenden, seine Sommer aber immer in Berlin verbringenden Saxophonisten Tobias Meinhart. Der hatte 2019 mit einer Handvoll Berliner Musiker das Album „Berlin People“ aufgenommen, die Releasetour und ein paar weitere Konzerte gespielt, bevor er vom Lockdown ereilt wurde. Unter dem Motto „ECM trifft Blue Note“ unterhalten wir uns über die europäische und die amerikanische Jazz-Tradition, über Meinharts musikalische Familiengeschichte und das erhoffte baldige Ende der Pandemie.
Das sehnen alle Musiker in Bremen herbei. Manche fragen ängstlich, ob man ihnen angehört hätte, dass sie so lange nicht mehr aufgetreten wären – aber insgesamt überwiegt die Freude darüber, endlich wieder spielen zu dürfen, wenn auch vor leeren Hallen. Vor den Bildschirmen indessen haben neunhundertzwei Teilnehmer aus fünfzig Nationen sowie neunzig Aussteller aus einundvierzig Ländern an der digitalen Fachmesse teilgenommen, zu der auch die Live-Streams der Showcases gehören. Einige Wochen später wird man sie auch einem Nicht-Fachpublikum zugänglich machen. Wie es war, sich auf einer Messe, die von der persönlichen Begegnung lebt, rein digital zu tummeln, müssen indessen die Menschen vor den Bildschirmen beurteilen. Die Live-Produktion ließ wenig Zeit, mich in die bereit gestellte Plattform einzuloggen. Allerdings steht auch diese den Registrierten noch bis Ende Juli offen, sodass das Weiterspinnen des Jazznetzes auch unabhängig von den tatsächlichen Messetagen möglich ist.
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VSz: Ich find es ja ganz lustig, dass der Berliner erst nach Bremen reisen muss, um deine „Berlin People“ zu sehen …
(beide lachen)
… wobei du ja seit mittlerweile gut zehn Jahren, glaub ich, in New York lebst …
TM: Mittlerweile sind es schon zwölf. Aber ich verbring seit den letzten sechs Jahren eigentlich den Sommer immer in Berlin. Wie New York auf Dauer einfach zu anstrengend ist.
Ich hab ja dein Lockdown-Bildertagebuch aus deinem letzten New Yorker Jahr begeistert verfolgt … Warum nennst du die Platte „Berlin People“?
Weil jetzt alle Bandmitglieder in Berlin wohnen. Das ist ein Grund. Und auch, weil ich die Platte im Sommer ein Jahr vorher in Berlin geschrieben habe, wo mich die Berliner Leute und das Berliner Leben beeinflusst hat. Das ist ein sehr großer Kontrast zu New York; und auch die Leute draußen sind anders. Also: Einmal sind die Band „Berlin People“, aber es ging auch, vor allem in dem einen Song, um die Berliner Art.
Du hast gesagt, dass du deine Sommer immer in Berlin verbringst. Ist das so eine Art zweites Zuhause?
Ja, würde ich sagen. Ich kann mir auch vorstellen, wenn mir New York einmal nicht mehr … wenn ich zu müde dazu bin, nach Berlin zu ziehen. Ich finde die beiden Städte in gewisser Hinsicht sehr ähnlich. Da ist die Kunst … Berlin ist sehr künstlerfreundlich, was New York schon teilweise nicht mehr ist, weil es zu kommerziell geworden ist, aber ich finde, dass einen, zumindest anders als in Bayern, wo ich aufgewachsen bin, niemand komisch anschaut, wenn man jetzt keinen Nine-to-Five-Job hat oder wenn man ein bisschen etwas anderes macht.
Man sagt ja, Berlin ist so wie New York vor zehn Jahren.
Ja, oder zwanzig Jahren.
Zwanzig sogar!
Vielleicht so wie in den Neunzigern. Ja. Aber Berlin war auch vor zehn Jahren noch anders …
… als es heute ist, ja. Die Platte, „Berlin People“, vereint ja deine deutschen Wurzeln einerseits, und die US-Tradition, andererseits. Kann man sagen: ECM trifft auf Hot Jazz?
ECM trifft Blue Note. (beide lachen) Darauf bin ich ja noch gar nicht gekommen, ich werde das ausleihen! Nee klar, man kann das auf jeden Fall sagen. Ich bin mit der Musik von meinem Großvater aufgewachsen, dem auch diese spezielle Platte gewidmet ist, der hat viel amerikanischen Jazz gespielt, er hat auch mit Amerikanern gespielt in amerikanischen Clubs. Als die Amerikaner Besatzungsmacht waren und Musiker brauchten. Das war auch für ihn ein Weg, wieder Arbeit nach dem Krieg zu haben. Da hat er ganz viel gespielt und dabei den Jazz gelernt. Ab dann hat er eigentlich immer weiter Jazz gespielt und mich auch zu Bigband-Konzerten mitgenommen, und von demher war ich eigentlich erstmal von dieser amerikanischen Seite beeinflusst und wollte Swing lernen und Standards lernen und Standards spielen. Von daher war es mir auch wichtig, irgendwann in das Land zu gehen, wo das her ist; und erst dann hat es sich so ein bisschen entwickelt, dass ich dachte, hey, ich bin jetzt nicht in Harlem großgeworden, ich habe europäische, deutsche Wurzeln, und bayerische Wurzeln, und dann hat sich das so ein bisschen geöffnet. Ich bin also über den Umweg zurückgekommen.
Hinter den Kulissen der jazzahead!, Meinhart und Szirmai, 1. Mai 2021
Wenn du sagst, schon dein Großvater hat Jazz gespielt – bist du aus einer Musikerfamilie?
Nein, dann gab es ein Gap. Er war Musiker, aber dann meine Eltern, die sind im medizinischen Bereich tätig. Meine Mama hat zwar Querflöte studiert, aber nach einem Jahr … die Nachkriegsgeneration war da, glaube ich, so ein bisschen vorsichtig, um das dann komplett zu machen.
Verstehe. Wir haben ja gerade über das Album gesprochen. Deine damaligen Mitmusiker waren Kurt Rosenwinkel, Ludwig Hornung, Tom Berkmann, Mathias Ruppnig – ist diese Besetzung auch heute mit am Start?
Ja, genau. Bis auf Kurt. Aber sonst genau die Besetzung, die sind alle genauso dabei. Ich hab mich gerade gefragt, ob es unter ihnen wirklich einen Original-Berliner gibt, aber die sind auch alle aus anderen Städten oder Ländern nach Berlin gekommen.
Spielt jemand anders für Kurt die Gitarre oder spielt ihr im Quartett?
Wir spielen im Quartett. Auf dem Album sind ja auch zur Hälfte Quartettstücke ohne Gitarre drauf.
Im März 2020 sollte es ja eine Berlin-People-Tour durch ein paar der schönsten Clubs Deutschlands geben – was ist eigentlich daraus geworden? Konntet ihr die Konzerte noch spielen?
Nee, eine Woche vor Abflug … Also, wir hatten ein Jahr vorher, im März 2019, zum Release eine ähnliche Tour. Die wollten wir dann 2020 wiederholen. Aber eine Woche vorher hat dann New York die Grenzen dichtgemacht. Wir hatten schon alle Flüge gebucht, alle Hotels gebucht, das war schon … das war schon ein bisschen hart. Und das Lustige ist, die Nachholtour war jetzt für den März 2021 geplant, und die ist auch wieder abgesagt worden.
Das heißt, heute Abend hören wir das erste „Berlin People“-Konzert seit der Release-Tour? Oder gab es inzwischen noch welche?
Nee, wir haben schon ein bisschen gespielt, auch noch in Berlin, wo ich den Sommer vor Corona war, im Donau und im Zig Zag …
Klar, 2019, zum Release. Aber 2020 war dann zu, oder?
2020 war zu, ja. Aber wir haben im März 2019 die Release-Tour gespielt, und dann, im Sommer 2019, haben wir noch ein bisschen weitergespielt.
Aber seit dem Lockdown …
… nicht mehr.
Stichwort Lockdown und Konzerte. Die Jazzahead findet jetzt digital statt, es gibt drei Journalisten, die Kamerafrau, Ton, Bild, zwei, drei Leute von der Messe … und sonst eigentlich niemanden. Hast du den Soundcheck schon hinter dir?
Nee, der steht jetzt gleich an.
Dann kann ich nicht fragen, wie sich das anfühlt, da oben. Aber was glaubst du, wie wird es sich anfühlen? Das ist eine Hallo für 14.000 Leute!
Ich stell mir einfach vor, da sind 14.000 Leute! (lacht) Ich hoffe, irgendwann mal wirklich vor 14.000 zu spielen! (lacht nochmal) Aber im Ernst: Das ist natürlich schwierig. Andererseits überwiegt die Freude, jetzt nach … gut, in New York gab es zwischenzeitlich wieder Konzerte, aber es ist mein erstes Konzert 2021. Die Freude, jetzt wieder spielen zu können, überwiegt einfach. Das ist ein Privileg. Im Moment gibt es ja seit November einfach mal gar nichts. Und da ist es dann egal, ob das vor drei Leuten ist oder vor vielen.
Hast du Streamingkonzerte gespielt?
Ja, in New York, im Small’s, die das streamen, aber da war auch immer teilweise Publilkum. Nur Streaming war eigentlich nie. Es war immer ein bisschen Publikum zugelassen.
Ich frag mich einfach die ganze Zeit, wie sich das auf der Bühne anfühlt. In die Kamera, vor allem aber in den leeren Raum zu spielen.
Ja, ich glaube, das ist extrem schwierig. Vielleicht gerade auch bei Jazz, wo sonst immer wieder mal ein Applaus dazwischen kommt und wo man auch vom Publikum mit gepusht wird. Es ist, glaube ich schon, nicht ganz so einfach. Aber hoffentlich ist das ja auch bald vorbei!
Dein Wunsch in Gottes Gehörgang! Vielen Dank für das Gespräch.
Tobias Meinhart, Berlin People, Sunnyside, 2019
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VSz: Dein letztes Quartettalbum hieß „Four Fauns“ …
TW: Ja.
… das aktuelle „Faun Renaissance“. Warum der Faun, was fasziniert dich am Wesen des Waldgeistes?
Das wurde ich schon einmal gefragt – und auch da bin ich in die Bredouille gekommen, das erklären zu müssen. Die bittere Wahrheit ist die, dass ich durch Oliver Potratz, dem Bassisten von Clara (Haberkamp, Anmerkung v. VSz), auf Arno Schmidt aufmerksam geworden bin. Schon vor ein paar Jahren. Oli hat mir die Bücher von ihm gezeigt, die haben mich sofort total infiziert. Und da gibt es diese Geschichte „Aus dem Leben eines Fauns“, wo er so ein bisschen autobiografisch – also, es ist ja fast alles so ein bisschen autobiografisch bei ihm – schreibt von diesem Herren, der irgendwie ausbrechen will. Aus den Konventionen. Aus der Gesellschaft. Aus diesem Kriegsdeutschland, natürlich auch. Und dann so klischeemäßig auch im Wald eine Hütte hat und sozusagen der Faun ist. Und für diese Musik, dachte ich, passt das Bild von diesem Wesen, das so ein bisschen außerhalb steht, ganz gut. Weil es vier Personen sind, die Musik machen und auf der einen Seite natürlich einen Bandsound generieren, der schön zusammenklingt, aber auch jeder oder jede für sich steht. Wie ein Faun, eigentlich. Und dann dachte ich, warum nicht Four Fauns?
Wo du es gerade ansprichst, jeder steht für sich … Jeder hat auch für sich eine recht lange Diskografie! Sind die Four Fauns eine Art All-Star-Quartett?
Für mich ist das ein All-Star-Quartett, absolut! Also, heute ist ja auch Almut mit dabei, Almut Kühne am Gesang, und nicht Claudio Puntin, der leider nicht da sein kann.
Ist Richard Koch heute dabei?
Richard ist dabei, ja.
Ich kenne ihn sehr gut von seinen anderen Projekten, und war ganz überrascht, dass sein typischer Signature-WahWah-Sound nur ganz zum Schluss auf dieser einen Swing-Nummer auftaucht und er sonst auf deiner Platte völlig anders klingt, als er sonst klingt.
Ja, genau! Ich habe, glaube ich, Richard am meisten bearbeitet. Was heißt bearbeitet. Ich glaube, ich habe Richard mit der Musik am meisten aus seiner Komfortzone rausgelockt. Claudio hat ja einen klassischen Background; und auch James (Banner, Anmerkung v. VSz) hat sich damit auseinandergesetzt. Wobei man sagen muss, dass Richard aus einem Elternhaus kommt, wo Alte Musik gespielt wurde. Der ist also durchaus damit sozialisiert. Sein Vater ist da auch Experte. Der kam mal nach einem Konzert zu mir und meinte, das hast du jetzt aber falsch angesagt. Ich habe … ich weiß gar nicht, irgendwie habe ich einen Komponisten in eine Epoche gesteckt, bei der Ansage, die nicht korrekt war. Das kann man nicht sagen, meinte er, Machaut – das ist Mittelalter, da kannst du nicht sagen, das ist Renaissancemusik. Oder irgend so etwas.
Und der Klarinettist, der hat einen echt klassischen Background?
Ja.
Und der Bassist?
James nicht, aber James ist jemand, der auf jeden Fall einen soundästhetischen Background hat. Und den Background, dass er auch Komponist ist. Also, er hat sich einfach mit viel Musik auseinandergesetzt – und wenn man das macht, dann macht man das ganz automatisch auch mit klassischer Musik. Ich hab mal ein Stück mitgebracht, wo ich meinte, es wäre schön, das im Duo zu spielen, dann meinte er, ah okay, er checkt das aus, und dann hat er die stilechten Basstöne durchgängig ausgecheckt – und das war schon cool.
Hinter den Kulissen in Bremen: Weber und Szirmai, 1. Mai 2021
Wir haben die klassische Musik gerade schon angesprochen. Weil: Faun Renaissance ist ja nicht nur im Sinne von Nachfolgealbum des ersten Fauns-Albums zu verstehen …
Ah, okay! Ja …
… sondern es handelt sich tatsächlich um Neuinterpretationen von Melodien der Renaissance. Warum gerade diese Epoche?
Diese Epoche ist ja eine sehr, sehr große Epoche. Wir haben Stücke von Machaut und Solage, das ist noch Mittelalter, dann haben wir Palestrina und Gesualdo und Ockeghem, das ist, insgesamt betrachtet, eine sehr lange Zeitspanne. An dieser Musik fasziniert mich, dass da eine Essenz drin ist, die immer noch wahnsinnig aktuell ist. Also, ich finde, die Musik ist tiefgründig und hat einfach eine sehr starke Stimmung. Die Musik berührt mich einfach.
Und es ist ja nun alles andere als so eine Klassik-meets-Jazz-Platte …
Nee, auf keinen Fall!
Die Sachen sind ja jetzt nicht „verjazzt“ – was ohnehin ein Wort ist, das ich hasse! –, sondern es entsteht etwas total Neues, das sich, wie ich finde, auch so ein bisschen der herkömmlichen Begrifflichkeit entzieht. Ich selbst suche noch nach Worten dafür. Wie würdest du’s denn beschreiben, wenn du denn gezwungen wärst?
Wenn ich gezwungen wäre. Das ist die Frage, die jeder hasst.
Ich weiß. Ist ja auch unser Job, nicht eurer.
Ja.
Aber dennoch!
Ich … Ich … ja. Es ist … puh! Vielleicht kommt man dem mit „kammermusikalischem Jazz“ am nächsten. Zumindest steht das so auf dem Rider. Ich glaube, das stärkste Charakteristikum ist einfach der Sound. Und in dem Sound hört man natürlich ganz klar Jazz. Ich glaube, ein klassischer Musiker oder ein Popmusiker, die würden sagen, das ist Jazz, das ist doch vollkommen klar. Aber trotzdem würde man beim zweiten Hinhören merken, dass wir eine andere Ästhetik verfolgen als so eine normale Jazzästhetik. Wobei … Was ist schon so eine „normale Jazzästhetik“?
Es gibt ja dieses Stück, „Mesomedes’Hymn to the Muse“, das ist für mich so ein klassisches Jazz-Jazz-Stück, wenn ab 1:45 der Bass übernimmt und dann die ganze Band dazukommt, besonders dann ab Minute drei. Wo du wirklich die Ästhetik hast, die jeder gemeinhin als Jazz bezeichnen würde.
Dieses Swingmäßige darauf?
Hm, ein Dark Swing vielleicht … Aber eigentlich schwingt für mich „Ma fin est mon commencement“ am meisten. Wenn es die Störgeräusche hinter sich gelassen hat.
Interessant! Ja, dann gilt das so! (beide lachen)
Wir haben uns jetzt auf „kammermusikalischen Jazz“ geeinigt?
Ja. Und „Ma fin est mon commencement“ mit diesen Geräuschen am Anfang …
… ja, das hat sowas von Electro Clash …
Ja, genau!
… und du denkst zunächst, dass da ein Synthesizer dabei ist, was ja nicht stimmt, weil es ein akustisches Quartett ist … Ich weiß gar nicht, von wem das Distortion kommt!
Das ist ein kleines Megaphon.
Und wer spielt das?
Claudio, die Klarinette. Aber stimmt, es ist da nicht konsequent. Es ist da nicht akustisch, sondern ist ein kleines elektronisches Intermezzo.
Und dann wird das so ein Tanz, ein munterer, pastoraler Tanz, und der gerät dann zum Swing – wirklich ganz klassischer Gypsie-Swing!
Okay! So gesehen, ja.
Und dann zum Schluss haben wir die Koch’schen WahWahs und wieder viel Distortion.
Genau, ja. Das ganze Stück ist auf jeden Fall eine Reise. Das ist Machaut – das ist eigentlich Mittelalter, ganz klar Alte Musik, und ich hab das einmal durch den Wolf gedreht. Ich habe bis jetzt noch keine Rückmeldung von Klassikern, ob die das gräuselig finden oder interessant, wenn man die Musik so arrangiert.
Ich finde, du merkst erst ab dem zweiten Stück, dass es barocke – oder renaissancistische, weil ja dieser Takt, dieses Metronom da immer mitläuft – Originale sind. Beim ersten kannst du noch denken, es ist eine Eigenkomposition.
Das erste ist keine, das ist tatsächlich das Gesualdo-Stück „Se la mia morte brami“. Aber das hab ich auch so verändert, dass es eigentlich nicht mehr erkennbar ist.
Weber vor der Messe Bremen. Im Hintergrund: der Schlachthof, wo bei Normalbetrieb viele der jazzahead!-Konzerte stattfinden
Du hast vorhin gesagt, dass heute der Klarinettist nicht dabei ist – stattdessen Almut Kühne als Sängerin. Kommt ein anderes Blasinstrument dazu oder bleibt es beim Quartett, nur eben mit Stimme, Trompete, Schlagzeug und Bass?
Ja, ganz genau. Auch die gleichen Stücke.
Sie übernimmt quasi den Part des einen Blasinstruments, kann man das so sagen?
Ja, auf der einen Seite übernimmt sie den Part, auf der anderen Seite ist das eine neue Band. Also, als klar war, Claudio kann nicht dabei sein, hab ich kurz überlegt, ob ich jemanden frage, der auch Klarinette spielt, und hab gemerkt … Um auszuholen: In der ersten Band war Hayden Chisholm am Altsaxophon. Und Hayden hat einen ganz, ganz tollen Saxophonsound, das ist für mich *der* Altsaxophonist, eigentlich. Wenn ich an Altsaxophon denke, dann denk ich an Hayden. Und so war’s bei Claudio auch. Wenn ich an Klarinette denke, dann denke ich an Claudios Sound. Und deswegen war ich total happy, dass Claudio mit dabei war, mit dabei ist. Genau. Und deswegen hab ich jetzt nicht einfach einen Sub geholt, der auch Klarinette spielt – es gibt ja auch andere Klarinettisten! –, sondern ich wollte dieses Konzept weiterführen. Ich hab mir gedacht, mit Almut ist es einfach eine neue Band, es ist ein neuer Sound, der ist ähnlich wie der alte Sound, aber … Ich wollte sie immer schon irgendwie in die Band integrieren. Gern, dass wir dann zu fünft sind. Jetzt sind wir wieder zu viert, das passt auch super.
Ich habe Almut vor ein paar Jahren hier auf der jazzahead! im Duo mit Gebhard Ullmann gehört, und das geht ja gern auch mal in eine sehr fordernde Richtung. Wird auch euer Sound dadurch … fordernder?
Würde ich nicht sagen. Nee. Ich empfinde das nicht so. Sie kann ja auch einen sehr klassischen Sound haben, sie singt ja auch in Chören … Ich habe sie eigentlich, interessanterweise, meistens in klassischen Settings gehört. Bei dem Duo mit Ullmann, da geht es um Sounds, um freie Impro – das find ich auch spannend; in unserer Band macht sie das aber nicht. Das klingt ganz natürlich. Es geht darum, diese Linien zu singen, und – das klingt jetzt so trocken, aber – sie hat auf jeden Fall den Background dazu und macht das ohnehin auch in Chören, und genau diesen Sound wollte ich in der Band haben.
Wie ist das eigentlich … Ich war gestern bei dem letzten Konzert dabei, in einer Halle, die für 14.000 Leute ausgelegt ist … Es waren drei Journalisten im Publikum, drei von der Messe, eine Kamerafrau, ein Kameramann, Licht und Ton – fertig. Hattest du schon Soundcheck?
Wir hatten schon Soundcheck, ja.
Wie fühlt sich das an? Wie wird sich das anfühlen?
Also … Ich war überrascht, wie gut es sich tatsächlich anfühlt. Weil das Team sehr eingespielt ist, alle sind supernett, und der Bühnensound war gut – wir haben von vornherein gesagt, wir wollen möglichst ohne Monitor spielen …
Saalsound ist auch sehr gut!
Ja, Saalsound ist auch gut, das ist immer so schwer einzuschätzen von der Bühne aus, aber … Ja, klar. Ich mein, dass das komisch ist, in einer Riesenhalle vor keinem Publikum zu spielen, das ist klar. Das ist total komisch. Man ist ja jetzt erschreckenderweise schon ein bisschen daran gewöhnt.
Es ist nicht dein erstes Mal, dass du in einen leeren Saal hineinspielst.
Nee. Also, ich glaube, wir alle sind natürlich schon so ein bisschen müde, dass es jetzt immer noch so ist, aber es ist einfach nicht … Wir können’s nicht erzwingen. Wir können weiter das machen, was wir tun, das ist in unserem Fall eben Musik machen. Vielleicht berührt es ja die Entscheiderinnen, die Entscheider da oben irgendwie oder sie merken selbst, dass es durchaus eine Notwendigkeit hat.
Hast du perspektivische Szenarien, Vorschläge, wie das …
… politischer Art?
Ja.
Ich habe ja am Mittwoch schon ein Interview gegeben für 3Sat und Arte, das gestern ausgestrahlt wurde. Und auch da habe ich gesagt: Es ist immer wahnsinnig schwierig, etwas dazu zu sagen. Ich glaube, was nicht gut ist, aber gern mal gemacht wird, ist, die Jazzmusikerinnen und Jazzmusiker in so eine Ecke zu drücken: die armen Schlucker, die eh nichts haben. Und diese ganzen Klischees zu bedienen. Das Leben steht eh Kopf, da passt der Jazz wunderbar rein. Aber ich persönlich möchte das auf jeden Fall nicht haben. Es geht mir nicht darum, kommerzielle Musik zu machen oder irgendwie den Jazz zu verleugnen, auf gar keinen Fall, aber ich möchte nicht diese komischen Klischees bedienen. Dass wir arm dran sind und dass wir leiden müssen …
… um Kunst machen zu können?
Um Kunst machen zu können. Ich glaube, diese Tiefgründigkeit, die Tiefe in der Musik, die kommt durch andere Dinge. Die kommt durch Hingabe, durch Arbeiten mit dem Material, dass man richtig darin wühlt und richtig daran arbeitet. Und das muss reichen. Deswegen habe ich schon den Appell, dass es nicht in Ordnung ist, was gerade abläuft. Dass die Kulturbranche, die ganze Veranstaltungsbranche einfach lahmgelegt wird. Die Wirtschaft dagegen läuft, soweit ich das beurteilen kann, einfach weiter. Frau Merkel hat auch letztes Jahr schon gesagt, wie die Kosten der Pandemie wieder eingeholt werden: durch Wirtschaftswachstum. Also, die politisch-wirtschaftliche Marschroute ist total klar, nach wie vor: Exporte raushauen. Und da ziehen wir natürlich den Kürzeren mit unserer Branche. Wir sind einfach nicht darauf ausgerichtet – so funktionieren wir nicht! Ich meine, Till Brönner hat das auch angesprochen, wir haben ja sogar eigentlich belegbare Zahlen, was wir umsetzen. Wie groß oder klein die jetzt sind, ist aber fast unerheblich.
Wobei es schon eine nennenswerte Größe war!
Das war eine nennenswerte Größe! Ich kann die Zahlen jetzt nicht zitieren und weiß auch nicht, ob die nun genau stimmen oder ob es ein bisschen weniger ist oder ein bisschen mehr ist, aber auf jeden Fall war mir eigentlich schon vorher klar, dass es nicht so wenig sein kann. Aber es hat auch für mich noch mal bestätigt, dass es – selbst, wenn man Zahlen auf den Tisch legt – selten genau darum geht. Es geht oft darum, „Ja, das ist ja nur Kultur …“ Und wir wiederholen das so mantramäßig: Kultur und Kunst, das sind keine Accessoires, das ist wichtig. Das ist nicht einfach nur ein Luxusgut. Das ist wichtig für die Gesellschaft. Dass wir als Gesellschaft bestehen. Das wiederholen wir mantramäßig. Aber mehr als das zu wiederholen, als das zu zeigen, können wir nicht. Wenn es nicht wirklich verstanden wird, von den Menschen, die das entscheiden, dann haben wir keine Chance.
Und dann läuft Jazz ja ohnehin noch unter ferner liefen, unter Nischenkultur …
Ja, es ist eine Nischenkultur. Jazz ja sowieso. Genau. Aber es gibt ja auch viele andere Sachen, die eigentlich keine Nischenkultur sein sollten. Und da wird es sich dann zeigen: Geht die ganze Schlagermusik, mit dem Musikantenstadl, als erstes wieder ans Netz? Und wir als letztes? Was ich befürchte. Ich glaube, Almut meinte sogar, nein, wir werden die ersten sein, bei den großen Acts dagegen wird es schwierig. Vielleicht. Das wäre interessant.
Das ist eine interessante These. Aber ich fürchte, ich teile deine Befürchtungen.
Also, es ist ja … Ich glaube, der Pessimismus gehört schon fast so ein bisschen dazu. Aber nichtsdestotrotz sind wir ja hier. Wir machen unsere Musik, jazzahead! stellt das hier auf die Beine, was toll ist, es sind alle da, es haben auch alle Bock – und das ist das Wichtige.
Ich bin gespannt, wie das Format digital funktionieren wird. Wir haben jetzt viel über den Lockdown gesprochen …
Ja.
Kann man sagen, dass „Faun Renaissance“ ein Lockdown-Album ist?
(überlegt kurz) Von der Stimmung, ja. Aber vom Konzept her, nein. Konzipiert wurde es …
… länger her?
Ja. Auf jeden Fall. Also, wir haben es tatsächlich in der Märzwoche aufgenommen, wo am Freitag dann die ersten Maßnahmen beschlossen wurden.
Im März 2020.
Ja. Und geprobt und erarbeitet haben wir das schon Ende des Jahres davor, 2019. Ewig her! Und deswegen ist es vom Konzept her kein Lockdown-Album. Aber es ist sehr interessant, dass mich viele darauf angesprochen haben, ey, du musst das jetzt schon im Winter, im Herbst 2020 rausbringen, das ist so eine starke Musik für diese komische Zeit, in der wir sind … Und das stimmt auf jedem Fall! Aber ich würde mal kühn behaupten, dass ich die Musik auch genauso gemacht hätte ohne Lockdown, mit einem fröhlichen Sommer – weil es einfach die Musik ist, die ich gerne mache.
Die raus musste.
Ja, die musste raus.
Das nehm ich gern als Schlusswort. Vielen Dank für das Gespräch.
Faun Renaissance, die neue Platte von Tilo Webers Quartett Four Fauns. Neben Weber an den Drums sind Claudio Puntin an der Klarinette, Richard Koch an der Trompete und James Banner am Bass zu hören. Malletmuse Records, Berlin 2021.
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Das Bedürfnis, sich ganz zu zeigen, Steinlawinen, die im Vagen lassen, ob sie auf ehemalige Geliebte herniedergehen oder doch nicht, die Gnade der Nichtbenennung – wer mit Anette von Eichel über ihr neues Album Inner Tide spricht, gräbt tief in der Introspektion, die auch den Frager nicht außen vor lässt, und fördert dabei so manch schillerndes Vexierstück zu Tage.
Ich durfte mit der Sängerin, Texterin, Komponistin und Produzentin für die Mai/Juni-Ausgabe des Jazzthetik Magazins über im Sinne des Jazz befreite Songs, blaubartische Wendungen und tilleulenspiegelige Endungen sprechen. Hier das Gespräch im Volltext.
Anette von Eichel in der Mai/Juni-Ausgabe des Jazzthetik Magazins
VSz: Dein neues Album heißt „Inner Tide“, und tatsächlich gibt es da ja so einiges an innerem Aufruhr zu hören …
AvE: Ja.
… fast entsprechend der Phasen, wie man sie durchlebt, wenn eine Liebe zu Ende gegangen ist. Ist das die Idee dahinter?
Interessant, dass du das fragst, weil ich glaube, dass sich die Texte auf Liebesbeziehungen beziehen lassen, auf jeden Fall, aber auch auf Beziehungen von uns zu uns selbst. Und das finde ich total spannend: Dass man, wenn man über die Beziehung zu anderen schreibt, auch immer über sich selbst schreibt, aus dem eigenen Blickwinkel. Die Idee dahinter ist, dass ich einen inneren Garten habe und darin ja auch alle meine Teile vertreten sind, also sowohl die schönen wie auch die unschöneren Teile, die sind alle in meinem Garten drin. Und von daher lassen sich die Texte, glaube ich, unterschiedlich lesen.
Gestern hat mich zum Beispiel jemand angerufen und „Merry-Go-Round“ – wo ich singe Let us give it no name – mit der Bibel verbunden. Und zwar mit dem Ersten Gebot, dass man sich kein Bild von Gott machen soll und dass die Idee dahinter ja wäre, dass, wenn du den Dingen einen Namen gibst, sie in ein Bild formst. Und das stimmt! Aber das war eben so eine Parallele, die ich überhaupt gar nicht gezogen hatte.
Und umgekehrt gilt das genauso: Manche Dinge werden erst dadurch gebannt, dass du sie benennen kannst. Unbestimmte Ängste zum Beispiel. Das Ungeheuer ist gebannt, sobald es einen Namen hat.
Das ist richtig.
Vielleicht auch so ein bisschen wie bei Rumpelstilzchen: Ach wie gut, dass niemand weiß. Und sobald der Name erraten ist, verschwindet es auf Nimmerwiedersehen. Dingen einen Namen zu geben kann also auch etwas Positives sein. Nicht wie beim Göttlichen, dem man durch den Namen ein Bild geben und es dadurch profanieren würde, sondern wenn man einen Namen für etwas hat, das man fürchtet: dann fürchtet man es nicht mehr so sehr.
Auch das würde mit Bezug auf das Stück passen. Weil es die Geschichte einer Beziehung ist, wo der Vorschlag gemacht wird: Lass sie uns instandhalten, indem wir sie nicht benennen. Aber vielleicht ist es ja gar keine so positive Beziehung und man würde sie im Sinne von Rumpelstilzchen entlarven, gäbe man ihr einen Namen. Und das stimmt auch! Klasse, oder? Ich bin immer total froh – und auch ein bisschen stolz –, wenn Leute mir erzählen, was sie zu meinen Texten denken und wenn das ein bisschen anders ist oder ein bisschen einen anderen Dreh nimmt als das, was ich mir ursprünglich gedacht habe. Weil ich finde: Eine gute Geschichte kann unterschiedliche Gesichter haben.
Und manchmal auch ein Eigenleben entwickeln, dass sie zum Schluss eine ganz andere Bedeutung bekommt als jene, die man ihr ursprünglich zugedacht hat. Bist du einer jener Schreiber, die gern darüber sprechen, was sie sich ursprünglich gedacht haben oder hältst du es lieber mit denen, die sagen, wenn das Kunstwerk erst einmal in der Welt ist, spricht es für sich und jeder soll sich seine eigene Interpretation davon, seine eigenen Gedanken dazu machen?
Das zweite. Absolut. Das finde ich auch so spannend. Ich möchte gar nicht … Ich finde es einfach so schön, dass wir mit Kunst und Musik die Menschen anregen können zum Denken. Und ich möchte nicht vorgeben, was die Leute denken. Ich find’s auch gar nicht … Ich freu mich immer total, wenn Leute meine Musik mögen und darauf stehen und Spaß haben dabei. Und wenn Leute sagen, das ist mir unbequem – zum Beispiel kriege ich öfter zu hören, dass ich ein sehr spezielles Timbre habe, und das finden nicht alle einfach –, das finde ich auch okay, darüber freue ich mich auch. Ich finde, Kunst soll uns dazu bringen, dass wir uns öffnen und dass wir unsere Gedanken öffnen. Und das geht in viele Richtungen.
Wobei: Klar, man merkt gleich beim allerersten Akkord der Platte, Achtung, das hier ist Jazz-Jazz, aber er löst die Drohung des Anstrengenden ja nicht ein; im Gegenteil! „Angenehm“ ist sicherlich das falsche Wort, aber er ist total inspirierend, anregend und wohltuend – und du hast, wie ich finde, ein sehr beruhigendes Timbre, von dem man sich gern in seine Geschichten ziehen lässt. Und wenn man sich erst einmal darüber hinaus, was so manchem am Jazz so sperrig erscheint, darauf einlässt, dann ist das doch ganz wunderbar!
Ich finde, gerade das Anregende ist das Interessante. Ich glaube, bei der neuen Platte … also, ich seh mich selbst zwar wirklich als Jazzsängerin, aber ich glaube, bei der neuen Platte ist das Spannende, dass die Lieder auf der einen Seite etwas sehr Songhaftes haben …
Pop, eigentlich!
Ja. Voll! Das finde ich auch bei Joni Mitchell total inspirierend: wie sie ihre Musik ihren Texten folgen lässt. Und das war hier auch meine Idee. Ich habe zuerst die Texte und dann die Songs geschrieben – und ich wollte wirklich, dass die Musik verkörpert, was die Texte für mich verkörpern. Das ist die eine Seite der Platte. Und die andere, finde ich, ist, dass wir das dann als Band im Sinne des Jazz befreien. Es bleibt nicht nur bei den Songs, die einfach schön sind, sondern es macht dann einfach nochmal wusch!
Ja, das stimmt. Aber natürlich stehen schon die Geschichten, die Geschichtenlieder ganz klar im Mittelpunkt der Platte.
Ja.
Im Livestream-Konzert aus dem Kölner Stadtgarten vor ein paar Tagen hast du gesagt, das Besondere an dieser Platte sei zudem, dass du zum ersten Mal alles allein gemacht hättest. Kannst du das ein bisschen näher erläutern?
Ja. Ich habe zwar auf allen meinen Alben Stücke von mir gehabt – und auch besonders viele Texte, denn ich habe viele Stücke von Kolleginnen und Kollegen vertextet … Was für eine süße Tasse! (Off-topic: VSz hat im Videobild gerade eine Herzchentasse zum Mund gehoben, prostet AvE damit noch einmal zu und beide lachen jetzt erstmal.) Aber ich wollte jetzt bei dem neuen Album … Ich habe vor etwa drei Jahren angefangen, daran zu arbeiten. Vor dreieinhalb Jahren. Und ich hatte diese Sammlung von Texten, mit denen ich etwas machen wollte. Und dann hab ich gedacht: Lass ich die jetzt von tollen Kolleginnen und Kollegen vertonen, so, wie ich das in der Vergangenheit auch zum Teil gemacht habe? Doch dann dachte ich plötzlich: Nee. Nee, nee. Ich improvisiere total gern, und Improvisation ist ja eigentlich Komposition on the spot, ich hab dann gedacht, nee, jetzt will ich das alles von vorne bis hinten selbst machen, das soll wirklich nur ich sein.
Es ist auch das erste Album von mir, wo ich geradeaus in die Kamera gucke. Weil ich finde … Wir haben, ich weiß nicht, vielleicht kommen wir da im Gespräch dahinter … Ich bin jetzt an dem Punkt, wo ich mich wirklich ganz geradeaus zeigen möchte. Meine Plattencover davor sind auch unheimlich schön, aber da gucke ich verträumt nach links oben oder kokett nach rechts unten … Ich weiß nicht, vielleicht haben wir in unserer Gesellschaft so eine Art Tabu, uns ganz direkt zu zeigen. Und ich hatte das Bedürfnis, mich zu zeigen. Das sollte einfach von vorn bis hinten von mir sein. In Komposition, in Text, in der Reihenfolge auf der Platte und eben auch im Coverfoto von vorn.
Vielleicht auch … „sich nicht verstecken“ ist die falsche Wortwahl … aber: das Bedürfnis haben, sich nicht nur komplett zu erkennen geben, sondern auch erkennen zu lassen. Erkannt zu werden.
Ja. Ich steh auch auf Auseinandersetzungen. Auf konstruktive, offene Auseinandersetzungen. Und ich finde auch, mich mit meiner Innerlichkeit – also diesem inneren Garten, dieser Inner Tide – zu konfrontieren, erfordert auch Mut. Sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Und damit so geradeaus rauszugehen, das war für mich einfach jetzt genau der richtige Moment. Ich glaube, vorher hätte ich damit auch noch gar nicht richtig umgehen können.
Angeregt durch den Lockdown auch, wo man ohnehin so ein bisschen auf sich zurückgeworfen ist und dazu neigt, mehr als sonst Introspektion zu betreiben? Wobei, du sagtest ja, es ist schon dreieinhalb Jahre her, seit du mit der Platte angefangen hast … Also einfach auch angeregt durch das gelebte Leben, das sich im Laufe der Jahre so ansammelt?
Ja, ich glaube, angeregt durch das gelebte Leben trifft es gut. Ich war lange im Ausland, habe zwölf Jahre in den Niederlanden gelebt, und ich hab jetzt zwei Kinder, die zwölf und fünfzehn Jahre alt sind. Ich glaube, ich komm jetzt einfach in die Phase meines Frauseins, wo ich recht mittig bin. Wo ich ganz gut weiß, was ich kann, und ganz gut weiß, was ich will – und mir auch nicht mehr so viel erzählen lasse. Und das klingt jetzt vielleicht aggressiver, als ich es meine. Ich habe einfach das Gefühl, diese neue Phase in meinem Leben ist noch einmal unheimlich produktiv: Gewisse Dinge sind fertig, und das gibt jetzt wieder Raum für ganz neue Aspekte.
Das kann ich auch persönlich ganz gut nachvollziehen – wie ohnehin vieles auf der Platte oder zumindest, wie ich es verstehe.
Ja, wie schön! Ich find auch deine Webseite so klasse: Klangverführer!
Dankeschön.
Was für ein cooler Titel!
Der Name ist tatsächlich einmal in einem Branding-Workshop entstanden, wo man sich ein Wochenende lang eingeschlossen hat, um einen Markennamen zu finden. Als ich mit Klangverführer herauskam, war mir gar nicht bewusst, dass es damals schon den Sonic Seducer für die Gothic Szene gab. Ich war also nicht besonders originell. Glücklicherweise übersetzt Wikipedia ihn mit „Schallverführer“. (beide lachen) Aber nochmal zu deinem Konzert im Stadtgarten: Da hattest du auch einen Song gespielt, der nicht auf dem Album ist, „The Bridge“.
Ja, genau!
Und du sagtest dazu so etwas wie: Manchmal braucht es die Antwort nicht, um die Frage zu lösen. Das fand ich total spannend. Was genau meinst du damit?
Ich glaube, und da zähle ich mich selbst auch dazu, dass man eine Frage gestellt bekommt, und dann überlegt man sich eine Antwort. Diese beiden Menschen im Song treffen sich an irgendeiner Küste oder irgendeinem Strand, und sie schauen übers Wasser und sehen dort etwas, das sie mögen. Und dann überlegen sie. Also, die Frage ist: Wie kommen wir dahin? Und die Antwort, die sie sich geben, ist: Wir bauen eine Brücke. Aber das scheitert ja. In dem Moment, wo sie anfangen, die Brücke zu bauen, merken sie, dass das überhaupt nicht funktioniert. Und das frustriert sie total! Und was auch passiert, ist, dass sie anfangen, ihr Ziel in Frage zu stellen. Dass sie glauben, weil es nicht funktioniert, diese Antwort zu konzipieren, wäre auch das Ziel, wo die Antwort hinführen soll, Quatsch.
Dass sie also sagen, wir wollen, wir müssen da ja eigentlich gar nicht hin.
Die Lösung am Schluss ist: Sie haben das Gefühl, es ist eigentlich wie bei Sisyphos. Der eine ist Sisyphos und der andere ist der Stein, und sie kugeln sich dauernd den Berg hoch und rollen wieder runter, bis sie zu einem Zaubertrick greifen und sagen, wir verwandeln den Stein erst in einen Ball und dann verwandeln wir den Ball in einen Ballon und dann hängen wir uns da dran und fliegen einfach rüber. Und ich glaube, dass wir ganz oft in diese Situation kommen, dass wir … na, wir lernen irgendwie: zwei plus zwei ist vier. Aber das muss ja gar nicht unbedingt stimmen. Also, wenn ich zum Beispiel zwei plus zwei Eier in eine Schüssel kloppe und die dann durchrühre, habe ich keine vier Eier. Das ist dann ein Ganzes. Und es gibt da ja so viele unterschiedliche Antworten! Ich hab mal ein tolles Buch gelesen, vielleicht kennst du das, „Der Rabbi hat immer recht“. Kennst du das Buch?
Nein, ich fürchte nicht.
Das ist ein Wahnsinnsbuch! Da geht es genau um diese Idee, dass im Judentum – und gerade im Judentum, weil es so viel Verfolgung und Bedrängung gab – eine Kultur entstanden ist, wo man genau drauf achtet, was man für Antworten gibt. Wenn ich meine Tochter losschicke, und ich geb ihr zwei Euro mit, und dann kommt sie wieder und hat drei, dann kann ich ja vermuten, sie hat einen geklaut, oder sie hat einen geschenkt bekommen oder gefunden. Es kann aber auch sein, dass sie etwas für zwei Euro gekauft und das dann für drei Euro wieder verkauft hat, das weiß man ja nicht! Ich glaube, es ist ganz schnell so, dass wir von der Frage zur Antwort springen, basierend auf einer Vermutung, und dann mit der Antwort natürlich scheitern. Darum dreht sich das.
Was du mit den Eiern auch sagst: dass das Ganze immer mehr ist als die Summe seiner Teile.
Ja! Ja, und das nicht immer die Antwort, die uns gleich anspringt, die richtige sein muss.
Ja, das stimmt. Ist das Lied von einem deiner früheren Alben oder gehört es zu dem Inner Tide-Zyklus, hat es aber nicht auf die Platte geschafft?
Nee, das ist jetzt erst ganz neu entstanden. Für unser Arbeiten schreibe ich weiter, und da hatte ich zwei Stücke fertig, aber bei dem zweiten konnte ich den Text noch nicht auswendig. Deswegen habe ich dann gesagt, nee, dann mache ich das nicht. Weil: Ich will immer auswendig singen.
Verstehe. Kommen wir mal zu den Stücken auf dem Album zurück. Da gibt es diesen verheißungsvollen „Secret Garden“, in dem man sich selbst verlieren – und auch wiederfinden – kann, und dann gibt’s auf „All We Need“ all die Dinge, die wir im Leben brauchen, vom Apfelbaum über die Zahnbürste zum Mechaniker und natürlich den Rausschmeißer vom Stadtgarten-Konzert, „Merry-Go-Round“, über den wir zu Beginn schon sprachen und wo es heißt: „let’s not give it a name“. Du hast gesagt, es geht hier darum, einer Verbindung zwischen zwei Menschen keine Definition überzustülpen und, wenn ich dich vorhin richtig verstanden habe, einer nicht ganz so gesunden Verbindung.
Oh, ich glaube, das lässt sich auf … Das ist jetzt der Anlass für das Stück, aber der Gedanke dahinter ist: Wir sind ja so schnell damit beschäftigt … Wir sehen irgendwas, und dann überlegen wir, in welches Schublädchen das bei uns passt – und dann haben wir das in dem Schublädchen und denken nicht mehr drüber nach. Und dieses „let us give it no name“ ist eigentlich die Idee davon, es überhaupt nicht in Schublädchen zu tun und es dadurch nicht klein zu machen, indem wir, etwa auf Beziehungen übertragen, sagen, das ist jetzt eine Freundschaft oder das ist eine Liebesbeziehung oder das ist der Mensch fürs Leben. Ich kann mir da ja lauter Korsette überlegen. Die Idee hinter dem Stück ist, genau das nicht zu tun. Und was mir jetzt gerade klargeworden ist, als du vorhin meintest, bei Ängsten ist es ganz gut, wenn man sie benennt – so hatte ich das noch gar nicht gedacht, aber das stimmt auch. Dann würde es bedeuten, dass man eigentlich dadurch, dass man einer Beziehung keinen Namen gibt, sie am Leben erhält, obwohl sie vielleicht gar nicht so …
Ah ja, das war der Punkt, der auf das Negative abzielte.
Genau, obwohl es vielleicht gar nicht so gut ist. Ich habe jetzt das Studiovideo zu „All We Need“ veröffentlicht, und einer hat da jetzt als Kommentar dazugeschrieben: Bravo! How about decision? (lacht) Da habe ich gedacht: Ja, stimmt!
Mir ist das mit den Zuschreibungen neulich tatsächlich passiert, dass jemand angefangen hat, mir Projektionen – oder, wie du es nennst: Korsette – überzustülpen und mich entsprechend zu behandeln, obwohl die überhaupt nichts mit mir zu tun hatten.
Ja!
Und ich dachte nur, das ist eine ganz seltsame Sache, die hier passiert. Da muss man wirklich sehr vorsichtig sein, ob man irgendwem reflexartig Dinge überstülpt, von denen man annimmt, dass sie so sind, oder ob man nicht viel eher genau hingucken sollte, wieviel hat das jetzt mit mir zu tun und wieviel mit ihm. Denn irgendwann wird derjenige genau zu dem Korsett, das er übergestülpt bekommt. Das ist das Gefährliche daran. Sag jemandem oft genug, was er ist, und er wird es.
Ja. Ich weiß nicht, wie’s dir geht, aber ich hab auch oft das Gefühl, wenn Menschen miteinander reden, dann erzählen sie über sich selber. Es ist gar nicht immer automatisch so, dass Menschen sich dann auch austauschen. Das passiert mir auch manchmal, dass ich dann in so einem Gespräch bin und denke, wieso? Was hat das jetzt mit mir zu tun?
Das heißt, du fühlst dich in der Situation zum Stichwortgeber für einen Monolog reduziert?
Ich glaube, das passiert jedem. Dass man dann merkt, jetzt geht das Gespräch eigentlich nicht mehr über uns. Sondern du möchtest mir jetzt was mitteilen, was wichtig für dich ist. Und das kann ich dann ja auch versuchen zu hören und zu verstehen, aber es muss tatsächlich nicht unbedingt etwas mit mir zu haben.
Die Corona-Zeit hat dazu geführt, dass sich mein Album unheimlich zeitverzögert hat. Eigentlich wollten wir im April aufnehmen, und im September sollte das Ganze erscheinen. Und dann konnten wir im April nicht aufnehmen wegen Corona, also hab ich für Mai geplant. Und dann konnten wir im Mai nicht aufnehmen wegen Corona, und dann hab ich für Juni geplant. Und dann wurde Ende Mai klar, dass wir im Juni nicht aufnehmen können, und ich hab gedacht, es kommt überhaupt nicht mehr auf die Welt. Da war ich ein paar Tage lang wirklich sehr niedergeschlagen.
Es ist ja auch extrem unschön, etwas Unabgeschlossenes mit sich herumzutragen!
Ja. Gerade, wenn es so wichtig ist wie dieses Album für mich. Und dann haben wir im Juli dieses Zeitfenster gehabt, wo es dann klappte, und dann war auch klar, dass das funktioniert, aber die Platte ist eben dadurch ein halbes Jahr später erschienen als geplant, sie wurde vier Monate später aufgenommen … Es hat sich halt alles sehr verzögert. Und das ist eigentlich interessant, weil gerade auch diese retrospektiven Aspekte der Platte in die Corona-Zeit total reinpassen.
Retro-, aber vor allem auch introspektive Aspekte, finde ich. Ich höre das Album als eine komplette Introspektion.
Ja, ich glaube, das stimmt auch. Das ist auch wahr.
Und dann gibt es noch „Fallen“, eines meiner Lieblingsstücke. Ich möchte dir gern vorlesen, was ich dazu gestern Nacht notiert habe: Fallen. Eine ganze Welt in einem Wort. Gefallen. Was wäre (gewesen), wenn ich gefallen, dir verfallen wäre? Wäre ich zerfallen? Machen wir uns nichts vor: Fallen ist toll. Die Kontrolle abgeben, völlig. Sich dem Fall ins Unbekannte überlassen. Klar, das geht nur, wenn Vertrauen da ist. War es wohl hier – auf dem Lied – nicht. Aber manchmal möchte man Round Midnight dessenungeachtet über your touches, your kisses, then sinking back again reminiszieren. Übler als fehlendes Vertrauen wie hier ist nur, wenn es da war, dann plötzlich aber nicht mehr, wie du sagst: I’m alone now deep in your forest. Und dann die Einsicht “All the women that ever were yours – and me”. Möchtest du dazu etwas sagen?
Ja. Der Text kam wirklich so in einem Fluss raus. Und: Das ist ja nicht passiert. Weil es am Anfang ja heißt: If I had fallen for you, then … Das Ich war so schlau, das nicht zu machen. Weil das Ich irgendwie gespürt hat: Ich kann nicht vertrauen. Aber das Ich war total verführt, es zu tun, total verführt! Und es war soviel Vertrauen da, dass das Ich durchaus mit diesem Du in den Wald reingegangen wäre. Und ich liebe den Wald, muss ich dazusagen. Ich bin wirklich voll der Waldmensch. Und ich wäre tatsächlich auch wahnsinnig gerne mitgegangen. In diesen Wald, denn Wahnsinn, der ist ja so schön! Da ist alles grün, ganz moosig, da gibt es Farne, und die hohen Bäume erst … Ich stelle mir hier einen Buchenwald vor, wo sich das Licht so bricht, das finde ich wunderschön. Ja, ich glaube, in dem Text … der hat ja dann diese blaubartische Wendung, dass dieses Du so ein Verführer ist, der mit allen eigentlich das Gleiche macht, egal, wie nah sie ihm stehen, mit allen Frauen: Diese Erkenntnis, dass das, was für das Ich so besonders war, letztendlich gar nichts Besonderes ist, weil: Das Du macht das halt. Mit den Frauen, die ihn umgeben, an die es herankommt. Und ich glaube, diese Erleichterung, dass das Ich sich nicht dafür entschieden hat … aber gleichzeitig auch die Idee der Symbiose mit dem Geliebten, die ja unheimlich verführerisch ist und in unserer Gesellschaft ja auch unheimlich romantisiert wird … Die meisten romantischen Hollywoodenden sind ja symbiotische Enden … Und ich meine, es ist ja auch eine Riesensymbiose, wenn du dann plötzlich Teil von so einem Wald bist! Das Ich wird ja in gewisser Weise auch durch die Situation aufgefangen. Weil: Du kommst ja quasi an. In diesem Wald. Aber halt nur in dieser einen Rolle. Das ist die einzige Möglichkeit, und da kommst du auch nicht mehr raus.
Du sagtest ja, das Ich war so schlau, es nicht zu tun – aber stellt sich hier nicht vor allem die Frage, was stärker wiegt: Die Freude darüber, dass das Ich so schlau war, oder die leichte Wehmut über die verpasste Chance? Denn wenn das Ich dem nachgegeben hätte – zum Verführen gehört ja nicht nur der Verführer, sondern auch der, der sich bereitwillig und gern verführen lässt –, wiegt diese Erfahrung letzten Endes nicht mehr? Will man zum Schluss nicht sagen: Hätte ich mich doch nur verführen und fallen gelassen und alles, was das nach sich zieht, dafür in Kauf genommen? Einfach für diese symbiotische Erfahrung, so kurz sie auch ist?
Ich glaube gar nicht, dass das Ich so schlau war. Ich glaube, es war so intuitiv.
Oder ängstlich?
Vielleicht auch eine Mischung aus all dem. Für mich als Ich wäre, so verführerisch so eine symbiotische Beziehung auch wäre, das überhaupt nichts. Ich bin ein total beweglicher Mensch. Für mich ist die Idee, dass du mich in so einen Baum reinfesselst, puh, echt hart! Also, ich glaube, das war mehr als schlau. Das war klug. Auch vertrauend auf sich selbst. Vielleicht nicht checkend warum, aber irgendwie merkend: Da stimmt was nicht. Und die Geschichte erzählt das im Nachgang auch mit Wehmut, auf jeden Fall! Von der Schönheit dieser Verführung. Wenn sich das Ich komplett drauf eingelassen hätte. Aber die Frage ist: Muss man jede Verführung auch tatsächlich erleben? Oder passiert sie nicht auch schon zu einem Großteil dadurch, dass wir sie denken und empfinden? Das ist in dem Moment ja gar nicht so richtig getrennt.
Sie kann ja tatsächlich nur dann passieren, wenn wir sie schon zu achtzig, neunzig Prozent gedacht und antizipiert haben. Natürlich passiert Verführung größtenteils im Kopf. Aber wenn sie schon so weit gediehen ist, dann ja, dann möchte man sie auch tatsächlich erleben. Umsetzen, gewissermaßen, vom Kopf in die Realität.
Ja, das war auch wirklich … Ich weiß gar nicht mehr genau, wann ich den Text geschrieben habe. Aber er blubberte einfach so komplett aus mir raus. Wie ein Märchen. Das ist eigentlich so eine Art Märchengeschichte.
Ja. Dann gibt es gleich danach noch die „Stones“, auch ein Lieblingsstück von mir – und das komplette Gegenteil eines Märchens, diese kleine Abrechnung, die ohne politisch korrekte Ich-Botschaften auskommt, dafür aber mit einer Menge herrlichstem Blaming aufwartet: our love is getting smaller, you cut it in pieces, bit by bit, oder: you cut off our connection. Alles, was man nicht machen soll: Du hast! Nicht: Ich empfinde das so und so. Was ich daran aber davon abgesehen so toll finde: Wo du dich mit Emotionen wie Wut oder gar Boshaftigkeit zurückhältst, scheint das Saxophon sie zu kanalisieren und regelrecht auszuspeien, dem Angesprochenen direkt vor die Füße.
Ja, das finde ich so schön an instrumentaler Musik: dass sie mir keine Bilder vorgibt. Instrumentale Musik schafft gleich eine emotionale Verbindung zu uns, während Sprache das Schöne aber auch gleichzeitig das Gefährliche hat, dass ich in ein Bild gepresst werde. Und ich wollte gern, dass in der Musik dieser emotionale Gehalt drin ist, auch in den Melodien und den Taktverschiebern und diesem ganzen Engen und Eckigen, aber ich fand, dann muss ich das gar nicht mehr so nötig in den Gesang reinlegen. Ich erzähle es ja auch retrospektiv. Mir ist ja klar, da hängt eine Steinlawine, und die kommt auch runter, und ich werde gehen. Also, ich trenne mich davon. Genau, ja. (lacht) Es ist fies, oder?
Es ist schon fies, wobei du im Konzert sagtest, es habe trotzdem einen positiven Ausklang, da du nunmal ein positiver Mensch wärst …
Oh Mann, ja, ich habe mir so überlegt, wie ich das enden lassen soll! Mir war klar … Dieser Aufbau: erst ist es so kalt wie’n Stein, dann ist es so schwer wie’n Stein, und dann ist es die Steinlawine … Mir war also klar, dass dräut alles so sehr, die muss runterkommen. Und dann habe ich echt überlegt: Aber wie? Kommt die jetzt runter und ich wünsch mir, du liegst drunter und bist platt? Oder kommt die runter und ich bin auch drunter? Und dann habe ich aber gedacht, nee, ich will das abschließen. Die kommt runter und ich wünsche dir, dass sie dich nicht kaputtmacht. Und dann werde ich mich umdrehen und gehen. Damit schließe ich das wirklich ab.
Das heißt, sie kommt einfach so neben dem Du herunter? Das ist aber auch ein bisschen enttäuschend, oder?
Ich glaube, in dem Text ist es gar nicht ganz sicher. Also, sie kommt runter, aber im Text ist nicht ganz sicher, ob das Du drunterliegt oder nicht. Das ist auch nicht mehr so wichtig für das Ich.
Das Ich geht ohnehin. Und schaut nicht zurück, was da noch passiert.
Ja.
Das Ich sagt ja dann auch noch etwas im Sinne von „go for good now“ oder „leave for good“ oder „leave you for good“, ich habe das genau Zitat gerade nicht im Kopf.
„I leave you for good“, ja.
Dabei kann man dem Ich ja nur viel Glück wünschen, denn wenn diese ganzen Emotionen noch da sind, kann man sich gar nicht vorstellen, dass dem Ich das gelingt. Mit all dem, was da noch ist.
Weiß nicht! Das ist ja auch wieder … Das ist ja total unreflektiert. Im Sinne von: Das Du macht ja den ganzen Scheiß. Das Du macht ja alles kaputt! Aber wenn ich mich reflektiere und in meinem inneren Garten bewege, ist das ja auch ein Teil von mir. Jeder kennt so einen dunklen Anteil. Und ich glaube auch, dass wir Sängerinnen und Sänger nicht alles erleben müssen, worüber wir singen – du brauchst nur Vorstellungsgabe. Und ich persönlich glaube, dass in uns als Menschen alles drin ist, vom guten Menschen bis zum Menschen, der böse Dinge tut. Ich glaube, jeder Mensch ist in der Lage, das alles zu erfüllen. Das heißt, auch ich kann so jemand sein, der so ein Du ist. Der jemanden so schlecht behandelt. Und von daher muss die Frage, glaube ich, nicht sein, ob ich das komplett hinter mir lassen kann, sondern vielleicht eher, wie ich damit umgehe. Inwieweit ich das einbetten kann. Die Schmuddelecke in meinem Garten. Da mach ich ein Insektenwildgebiet draus, zum Beispiel.
Oder indem ich gesehen habe, wie es bei anderen sein kann und mir deshalb nicht erlaube, es bei mir auszuleben? Weil ich gesehen habe, dass es verheerende Wirkung hat?
Vielleicht auch das. Man sucht ja im Gegenüber auch immer das, was man braucht.
Man bekommt automatisch genau das Gegenüber, das man gerade braucht. Das ist nicht immer angenehm und kuschelig und schön, es ist meistens anstrengend, aber … ja. Es findet einen immer zur rechten Zeit.
Ja. Und dann ist die Frage eher: Wie gehe ich damit um? Und vielleicht ist es auch Teil von dieser Phase in meinem Schaffen, mich dem zu stellen. Zu sagen: Auch diese Anteile sind in mir. Und sind auch in den Gegenübern, die ich mir suche. Und wie gehe ich jetzt damit um? Ja. (lacht)
Und dann haben wir hier noch das letzte Stück, ein kurzes Instrumental. Du hast ja gerade schon gesagt, dass du an Instrumentalmusik magst, dass sie dir kein konkretes Bild liefert, sondern sich direkt mit deinen Emotionen verknüpft … Ich bin gar nicht sicher, ist das noch ein gestrichener Bass oder doch schon ein Cello?
Ein gestrichener Bass.
Er bringt zum Schluss so einen hohen Ton, wo ich gezweifelt habe, dass der noch vom Bass sein könnte.
(lacht) Ja.
Jedenfalls kommt dadurch so eine völlig neue kammermusikalische Tonalität in die Platte. Und das macht natürlich neugierig, was es damit auf sich hat, das Album so enden zu lassen.
Wir haben das Stück in unterschiedlichen Besetzungen ausprobiert und mussten dann einfach feststellen, dass es so am besten klingt. Ursprünglich wollte ich „In Silence“ ohne Text singen, aber es wurde durch den stimmlichen Sound so dinglich. Und das war mir dann zu viel. Das fand ich nicht richtig, es hat musikalisch einfach nicht gemacht, was ich wollte. Dann haben wir überlegt, und ich habe gesagt, ich würde es eigentlich gern ohne Gesang machen und ohne Schlagzeug, einfach nur ihr zwei – und als diese Idee erst einmal im Raum war, fing sie an zu leben. Ich sagte, ich sing da nicht, und die Band sagte, wie, du singst da nicht? Aber dann dachten wir, das ist eigentlich genial! Die beiden hatten dann total Spaß, das zu machen, und ich fand’s einfach auch … hm, wie sagt man das? Es ist ein großartiges Narrenstück, die Platte einer Sängerin mit Eigenkompositionen enden zu lassen ohne Gesang. Sie hat das Stück geschrieben, aber sie ist nicht dabei. Das fand ich so ein bisschen tilleulenspiegelig.
Du bist quasi schon Backstage und schminkst dich ab, während deine Band noch in der Bühne ist. Oder wie bei so manchem Superstar – du bist schon auf dem Weg zum nächsten Flieger, und deine Band spielt noch.
Ja, so! Oder „In Silence“ ist halt komplett still und nicht nur ohne Text.
Quasi John Cage mit Bass und Klavier.
(beide lachen)
Wenn man auch das stille Verschwinden am Ende mit in Betrachten zieht – kann diese Platte retrospektivisch als Abschiedsplatte gelten?
Was für eine gute Frage! Ja, vielleicht! Aber sind nicht alle Platten Abschiedsplatten? Weil sie in gewisser Weise Abschlüsse einer Phase sind. Ich schreib ja jetzt auch schon wieder weiter. Und ja, so eine Platte hat auch schon ein bisschen was von einer Geburt. Sie fasst eine Phase zusammen. Und ich glaube wirklich, dass dieses Album sehr viel von mir zeigt. Sehr viel. Und ich finde das auch in Ordnung. Ich bin auch auf der Bühne jemand, der gern etwas von sich zeigt. Das ist alles gut. Und ich fände es schön, wenn wir das alle ein bisschen mehr machen würden. Ja. Wenn einfach der Raum da wäre, dass Menschen trauen, sich zu zeigen.
Für mich ist es so: Ich habe jetzt das Ei ausgebrütet, jetzt geht es weiter, ich schreibe weiter, und dabei geht es natürlich immer um meine Wahrnehmung der Welt, von mir selbst und meiner Beziehungen. Und insofern ist das natürlich auch ein Abschluss. Vor ein paar Jahre ist meine Mutter verstorben und meine Töchter sind jetzt zwölf und fünfzehn, die gehen also so langsam aus dem Haus, und ich glaube, ich habe da als Mensch vielleicht auch so eine familiäre Nestphase hinter mich gebracht. Vielleicht ist diese Platte auch ein bisschen Ausdruck dessen.
Ein schöner Schlusssatz, den ich gern als solchen nehmen würde – es sei denn, du sagst, es gibt da noch etwas, das wir unbedingt über diese Platte erfahren sollten.
Nein. Ich find’s super, was du mich jetzt alles gefragt hast! Ich find’s auch so schön und ich bin so froh darüber, dass –wenn ich mit dir jetzt oder auch mit anderen über die Musik rede oder höre, was die denken, wenn sie sie hören – ich jedes Mal noch etwas darüber lerne. Das finde ich total spannend. Ich setze so etwas in die Welt und gebe damit die Deutungshoheit weg. Und ich finde das gut. Und dadurch, dass ich jetzt Feedbacks kriege, wie die Leute das hören oder was das mit denen macht, denke ich: Okay! Und das lässt mich total wachsen. Weil ich es cool finde, dass es Bewegung hat. Ich find Beweglichkeit so wichtig.
Dass die Musik ein Eigenleben entwickelt. Sich dadurch aber auch deiner Kontrolle entzieht.
Ja. Das halte ich für ein Zeichen von Stärke. Dass die Platte das kann. Offensichtlich.
Und auch von dir, dass du sie loslassen kannst.
Ja? Ja, das muss man ja. Da hast du gar keine Wahl.
Ich glaube, die Deutungshoheit abzugeben, würde mir schon schwerfallen.
Ja, aber es ist wie Samen: Ich habe die jetzt so rausgestreut und es ist unheimlich spannend zu sehen, nicht nur was, sondern dass da überhaupt etwas draus entsteht! Das finde ich eigentlich das Tollste. Dass das irgendwie ausschlägt. Das ist gut. Was dann daraus wächst? Ja, hoffentlich wächst was draus!
Ich freu mich einfach sehr über dieses Album. Ich habe in diesem Jahr festgestellt, dass es wie mit den Menschen ist, über die wir vorhin sprachen, die dann in dein Leben kommen, wenn du sie am nötigsten brauchst, gar nicht mal, dass die deine Baustellen beheben, sondern dich dazu anregen, deine eigenen Baustellen zu beheben – und so geht es mir zurzeit auch mit Musik. Dass dich wirklich die Musik findet, die du gerade brauchst.
Ohhh, schön. Das ist auch tatsächlich … Also, ich sehe mich sehr als Jazzsängerin, aber das hat auch Qualitäten von guter Popmusik.
Ja, weil es so songbasiert ist. Und auch wirklich ein Album. Nicht nur eine Aneinanderreihung von möglichst vielen Tracks, um die CD-Spielzeit maximal auszunutzen, sondern acht Songs mit Instrumental“reprise“ dran, also achteinhalb, das passt super auf Vinyl … Ja, ich finde, es ist ein klassisches Singer/Songwriter-Album!
Ja, ja.
(beide schauen sich einen Moment des Einverständnisses an und nicken sich zu, um dann laut loszulachen)
Ach, voll schön! Danke für das tolle Gespräch, es hat mich gefreut, dich kennenzulernen!
Ja, ich fand unser Gespräch auch sehr schön. Vielen Dank dafür!
Das Gespräch führten wir am 13. März 2021 via Videocall
Kommentare deaktiviert für Sind nicht alle Platten Abschiedsplatten? Anette von Eichel im Klangverführer-Interview
Hingabe kann ich. Das ist im Allgemeinen eine gute Sache. Die Kehrseite: Ich kann auch Besessenheit. Im besten Falle ist es jene mit (oder von?) einem Lied: Ganz so, wie ich auch tage-, wochen-, monatelang das Gleiche essen kann, kann ich tage-, wochen-, monatelang das Gleiche hören – ohne, dass mir auch nur im Allergeringsten langweilig würde. Diesen Januar standen drei Songs auf meiner Speisekarte: „Colors“ von den Black Pumas in der Live in Studio-Version, „Highway 74“ von The Hamiltones, wie sie es bei den Roots Music Series spielten – und „Sugar“ von Kristiina Tuomi. Die Besessenheit mit Letzterem äußert sich ganz konkret darin, dass das Lied die wohl meistmitgesungene Zweitstimme meines Lebens hat, und zwar zu solch einem Ausmaß, dass ich meine eigene Stimme im Moment nicht mehr denken kann, ohne jene von Tuomi darunter zu hören.
Alles begann am 9. Januar 2020 mit einem Konzert namens The Dark Night of Soul im Orania, zu dem ich, von jeher zu jeglichem Seelendunkel hingeneigt, natürlich hingehen musste. Die Erinnerung an dem Abend spülte mir ein dafür berüchtigtes soziales Netzwerk ein Jahr später wieder in die Timeline, hatte ich damals doch ein paar Videos gemacht und gepostet. Das Stück, das ich schon vor einem Jahr als „coolsten Song des Sets“ beschrieben hatte, der als einzige Eigenkompositionen zwischen all den berühmten Covern nicht nur nicht verloren ging, sondern sie noch um Längen schlug, sollte mir zum intimen Begleiter der letzten Wochen werden. Nicht zuletzt, weil mich die „she keeps your heart on a shelf in a jar/and your soul on a chain in the yard“-Zeile getriggert hat, bin ich doch jüngst erst einer nämlich kurzgehaltenen Seele begegnet.
Wie es der glückliche Zufall wollte, wird „Sugar“, unten in der damals von mir gefilmten „Rioja-Version“ (Tuomi) zu sehen, heute von Tuomis neuem Quintett Glymmar veröffentlicht. Ich traf die Berliner Sängerin und Songwriterin, die vielen noch vom auf Traumton veröffentlichten Trio Tuomi im Ohr sein dürfte, zum Gespräch – ’ronakonform per Videokonferenz. Darin ging es nicht nur um die in „Sugar“ besungene dunkle Seite der Hingabe, den eher unjazzigen Stil und ein melancholisches Vernebeltsein, sondern erst einmal – wie das wohl unausweichlich ist, wenn das finno auf das ugrische Element trifft – um Lakritz.
Klangverführer: Schön, dass das mit uns beiden unter diesen widrigen Umständen geklappt hat. Wir wollen heute über deine neue Band Glymmar sprechen. Wie ist die zu diesem flimmernden Namen gekommen?
Kristiina Tuomi: Es ist eine alte Schreibweise von „glimmer“ aus dem Frühneuenglischen. Wir haben ja diesen Song namens „Fire“ gemacht und etwas in der Richtung gesucht – was heutzutage gar nicht mehr so einfach ist mit den Domains! Oder überhaupt einen Bandnamen zu finden, der nicht schon von einer koreanischen Punkband gekapert wurde.
Ich finde, in dem Namen schwingt auch etwas Nordisches
mit …
Ja, durch die Schreibweise denken das viele. Ich bin Halbfinnin – aber das wäre jetzt eher ein typisch skandinavischer, also schwedischer oder norwegischer, Name. Und das Skandinavische ist ja auch immer ein Thema. Ich meine, man sieht ja auch so ein bisschen, dass ich aus der Ecke komme. Aber die Finnen sind wirklich nochmal ein eigenes Völkchen und haben mit den Skandinaviern ursprünglich gar nichts zu tun. Die haben sich da angesiedelt, aber eigentlich sind sie mit den Ungarn verwandt.
Ja, ich bin Halbungarin …
Ja, richtig! Es gibt aber nur noch ein einziges Wort, das
sich Ungarn und Finnen teilen: „voi“ bzw. „vaj“,“Butter“. Sonst gibt es ja
keinerlei Überschneidungen im Vokabular mehr. Hab ich zumindest von einer
Ungarin gelernt.
Wenn wir schon keine Worte teilen: Ich habe gehört, dass
du eine typisch finnische Vorliebe für Lakritz hast, die ich mit dir teile.
(lacht): Ja, das ist ein Riesenthema. Lakritze! Ich kenn das
von klein auf. Meinte Mutter isst keine Süßigkeiten, aber Salmiak, diese
salzige Lakritze.
Da bin ich total bei ihr. Ich verabscheue Süßes, aber
Salmiak ist super!
In Finnland gibt es sogar Kartoffelchips mit Salmiakaroma. Und diverse Eiskremsorten, das ist so wie hier Schokoladeneis … Da gibt’s Glasur, und mit Stückchen und so fort. Überhaupt gibt es alles mit Lakritze: Es gibt Lakritzpudding, es gibt Lakritzsoße für Eis, das ist da wirklich so ein Standard-Flavor. Und ich liebe das echt. Da muss man aber, glaube ich, mit aufgewachsen sein. Sonst findet man das … Die meisten finden das echt nur eklig! (lacht)
Ich fahr da auch total drauf ab, obwohl ich nicht damit aufgewachsen bin. Wie dem auch sei: Sprechen wir wieder über Glymmar. Wie die Band zu ihrem Namen gekommen ist, haben wir schon gehört – jetzt interessiert mich natürlich ein bisschen was zur Bandgeschichte, wie, wann und warum ihr euch gegründet habt, zum Beispiel.
Also, die Band kam eigentlich eher so ein bisschen nach der Musik. Ich hab angefangen … Also, ich hab eine längere … Ich meine, ich bin ja jetzt keine zwanzig mehr. Ich hab ja schon ein bisschen was auf dem Buckel. Damals war ich sehr viel in der Jazz-Szene unterwegs, und da hat sich auch schon so ein bisschen abgezeichnet, dass ich einen eher unjazzigen Stil verfolge – man sucht sich’s ja nicht aus, es kommt halt so aus einem raus.
Ich bin da ein sehr intuitiver Songwriter. Ich setz mich dann wirklich hin und versuche, in so einen Flow zu kommen, und dann kommt es aus mir raus, ich zeichne alles auf, und im Nachhinein such ich mir dann die schönen Sachen raus, die da gekommen sind. Und irgendwie ist das, was kommt, immer etwas Dunkles, Melancholisch-Verträumtes – das muss jetzt nicht immer Moll-ig sein, aber es ist irgendwie immer ein bisschen vernebelt. Und es hat auch Anleihen an Minimal Music – ich mag halt solche repetitiven Patterns.
Schon damals im Jazz hatte ich ein Trio mit Carlos Bica und Carsten Daerr, Tuomi. Als wir das gegründet haben, hab ich noch studiert. Und das ist auch schon durch besonders dunkle Töne aufgefallen. Das hat immer polarisiert. In den Jazzclubs immer so düstere Stücke zu bringen, das ging für manche gar nicht! (lacht) Es gab halt einerseits richtige Fans, die auch immer noch Fans sind, das ist total süß, von denen höre ich immer wieder, Mensch, wann gibt es mal wieder was von Tuomi? Und dann gab es eben auch Leute, die kamen und sagten, das ist doch kein Jazz mehr!
Carlos Bica war dabei, sagst du?
Ja, er ist ein Kontrabassist, der sehr virtuos mit seinem Instrument umgehen kann, er spielt sehr melodiös und teilweise in Cellolage. Er ist in Portugal recht bekannt, da kommt er her, lebt aber mittlerweile hier. Er hat viel mit Maria João gespielt und hatte dann ein Trio mit Jim Black und Frank Möbus, Azul. Wir haben ihn uns damals rausgepickt, weil er sehr … er hat halt selbst auch so romantische Stücke geschrieben, und wir haben gemerkt, er passt einfach seelisch zu uns. Und das hat mich lange geprägt.
Ich hab das zehn Jahre lang gemacht. Wir haben getourt und alles, Goetheinstitutstouren und Touren durch die Jazzclubs im deutschsprachigen Raum, wir haben zwei Alben bei Traumton gemacht … Und dann habe ich gemerkt, dass ich immer mehr den Drang hatte – und ich scheue den Begriff „Popmusik“ immer so ein bisschen, weil die Leute immer sofort so eine ganz klare Vorstellung haben, was das ist, und das ist es dann meistens doch nicht so ganz! – also den Drang hatte nach etwas, das so ein bisschen zwischen den Stühlen hängt. „Sugar“ zum Beispiel, der Song, um den es heute geht, der hängt auch zwischen den Stühlen: Er ist tatsächlich sehr poppig, so richtig mit durchgehendem Schlagzeug, aber auch so ein bisschen … „zwischen den Stühlen“ trifft es schon ganz gut. Es war schon immer zwischen den Stühlen gewesen – und das ist auch jetzt so.
Tuomi haben wir aufgelöst, das hatte sich irgendwann totgelaufen. Das war eine ganz natürliche Entwicklung: Irgendwann war es einfach genug. Wir hatten auch nicht mehr so richtig Lust gehabt, noch weiter daran zu arbeiten, und ich wollte immer schon mehr mit Percussion machen, ich wollte gern ein Schlagzeug dabei haben, aber nicht alle im Trio waren damit einverstanden. Ich habe dann erstmal mit meinem eigenen Zeug eine Pause gemacht und als Profisängerin gearbeitet, richtig knackig: Ich hab Event-Jobs gemacht, Werbung eingesungen, Filmmusiken eingesungen … Ich hab einfach Geld verdient – und musste dann erstmal gucken, was ich jetzt überhaupt will, weil ich gemerkt habe, dass ich in der Jazz-Szene nicht weitermachen möchte. Ich musste mich also erstmal finden. Ein bisschen spät – aber ist ja egal! (lacht) Als Frau denkt man ja sowieso immer, man ist zu alt. Es ist eigentlich egal, wie alt man ist, man ist eh immer zu alt! (lacht wieder) Das ist dann aber auch schön, weil man sich dann sagen kann, das ist jetzt auch schon egal!
Ich hab dann jedenfalls ein Kind bekommen, das dann alles an Zeit und Plänen nochmal torpediert hat … Aber ich habe immer zwischendurch Songskizzen aufgenommen. Mich über die Jahre immer wieder hingesetzt, an die Rhodes, ans Klavier, und immer wieder Sachen aufgenommen. Und mein Mann, der zufälligerweise Produzent und Toningenieur ist, hat dann irgendwann gesagt: Ach, lass uns die doch jetzt mal hübsch machen! Damit haben wir dann auch angefangen, aber immer nur sporadisch, weil er halt auch viel gearbeitet hat – er ist der Schlagzeuger der Geschwister Pfister und macht auch viele Aufnahmen … Ja, als Working Musician sein eigenes Zeug zu machen, besonders, wenn man dann schon in der Szene einfach viel zu tun hat, ist nicht so einfach! Aber dann kam der Lockdown. Und wir beide waren plötzlich arbeitslos. Da haben wir uns gesagt: Jetzt machen wir das.
Ist Glymmar eine Lockdownband?
Nicht wirklich. Wir haben die Musiker schon vor dem Lockdown ausgesucht. Dafür haben wir auch länger gebraucht. Zum Beispiel mit dem Pianisten: Es war so ein Ding einen Pianisten zu finden, der das so spielen kann, wie ich es höre, in mir drin. Ich spiel ja selbst Klavier beim Schreiben, aber für die Bühne – das würd ich mir nicht anmaßen! Und ich brauchte halt jemanden, der so Minimal-Patterns spielen und die nageln kann – aber auch ’nen Touch hat! Also quasi ’nen Klassiker, ’nen Popmusiker und ’nen Jazzer in einer Person. (lacht) Ich hab da viel rumprobiert. Und war da auch so ein bisschen Diva. Und dann kam mir Benedikt in den Sinn, der mit mir zusammen studiert hat und der in einer ganz anderen Ecke vom Jazz unterwegs war. Ich hab ihn auch privat mal ab und zu gesehen und dachte dann, warum frag ich ihn denn nicht einfach? Der kann das bestimmt!
Und dann hat sich herausgestellt, dass er tatsächlich auch so ein Minimal-Music-Fan ist und das total versteht – einfach *total* versteht, was ich da mache. Das ist wirklich ein Phänomen. Dieses „Secrets“-Stück, das ist ganz ohne Click eingespielt. In der Popmusikproduktion arbeitet man ja eigentlich so, dass man so einen Click reinlegt, und dann spielt jeder einzeln auf den Click seine Sachen ein, und dann legt man das übereinander. Wir haben das aber tatsächlich alles live gemacht. Benedikt hat sich hingesetzt, ich war im selben Raum, Mikrofon vor der Nase, ohne Click, und dann ging’s los! Und er hat das einfach perfekt … Wir haben wirklich gleich den zweiten Take genommen. Unfassbar! Als wäre er ich. Also, meine Verlängerung.
Schön!
Ja, das war großartig. Ich bin ein ganz großer Fan von ihm.
Und das ist auch das Herz der Band: das Piano. Wir haben ein echtes Klavier; wir
benutzen tatsächlich keine Synthies oder so etwas, es ist ein echtes Klavier,
es steht im Studio, es ist ein ganz altes, warmes … Es hat so einen ganz
dicken, warmen Sound, auf dem hab ich das geschrieben und damit nehmen wir auch
alles auf. Es hat einen ganz charakteristischen Klang. Und es knarzt auch
richtig! Am Ende von „Secrets“ hört man, wie das Pedal so Krrrk-krrrrk macht.
– Interviews in Zeiten der Pandemie –
Ihr habt bislang drei Singles veröffentlicht: „Moon Behind A Cloud“ im November 2020, „Fire“ im Dezember,„Secrets“ im Januar und jetzt im Fast-Februar „Sugar“. Was steckt hinter dem Konzept, jeden Monat eine Single, aber kein Album zu veröffentlichen?
Damit habe ich mich ziemlich beschäftigt. Also alles, wie es normalerweise läuft, geht ja gerade nicht. Normalerweise, in unserer Szene als Live-Musiker, als Band, die live auftritt und kein Studioprodukt ist, läuft es so, dass man Konzerte spielt und dabei eine kleine Fanbase aktiviert, die dann das Album auf den Konzerten kauft. Das geht halt im Moment nicht.
Das war ja der Hauptvertriebsweg für Alben in
Streamingzeiten: der Merch-Stand auf den Konzerten, oder?
Normalerweise ja. Aber bei Tuomi war es so – aber das ist auch wirklich schon länger her, da gab es noch kein Spotify, und noch nicht mal Facebook war da so richtig am Start, das war 2004 und 2007, als wir die Alben gemacht haben –, dass es da noch ganz anders war: Da ging man in den Plattenladen und holte sich eine CD. Und da war das auch für Musiker noch nicht so schwierig, wir haben da auch was verkauft! Die Stefi von Traumton hat ein paar Pressebemusterungen gemacht, dann haben wir Presse gehabt und dann sind die Leute losgegangen und haben die CD gekauft! Oder sie bestellt. Und das lief ganz gut!
Und auch live war es bei uns immer ganz gut besucht, auf Tour haben wir immer auch verkauft, das war schon schön. Und im Radio liefen wir auch mal. Also, jetzt nicht bei Radio Energy (lacht), aber im Kulturradio. Also in der typischen Jazz- und Kulturnische. Und das funktionierte ja auch, denn die Fans dort wissen ja, dass man die Künstler unterstützt, indem man die CD kauft.
Das hat sich seitdem, während dieser Pause, die ich gemacht habe, alles total geändert. Ich saß dann da, mit dieser Musik, und dachte: Wie mach ich’n das jetzt? Und dann hab ich einfach mal geguckt, wie die anderen das so machen. Vor allem in diesem Lockdown. Wir sind ja jetzt rein digital. Man kann nicht spielen – also, man könnte jetzt ein Live-Stream-Konzert machen, das ist bei uns aber tatsächlich nicht so einfach, weil wir so viele sind. Wir sind jetzt fünf Leute, für live würde ich dann natürlich auch Backgroundgesang dazunehmen, dann sind wir bei sieben Leuten … Also, ich bin ja nicht so ein Fan davon, wenn man sagt, och, für die Musik treff ich mich jetzt doch mal auf eine kleine Corona-Party …
Dazu kommt, dass mein Mann, der bei Glymmar Schlagzeug spielt, und ich ein Kind haben – überhaupt haben alle unsere Bandmitglieder Kinder. Und die müssen betreut werden, wenn wir proben. Das ist nicht so einfach, wenn die Kita nicht da ist. Es sind halt diese praktischen Dinge, am Ende. Meine Eltern zum Beispiel sind schon etwas älter. Sie betreuen öfter mal unseren Sohn, aber wenn wir uns jetzt mit mehreren Personen zu Proben treffen würden, dann könnten sie ihn nicht mehr nehmen. Es sind die profanen Dinge, die jetzt entscheiden.
Ihr seid aber alles Berliner, das heißt, wenn Konzerte
wieder möglich sind, könntet ihr euch leichter zusammenzufinden, als wenn ihr
über ganz Deutschland verteilt wärt?
Ich bin die einzige gebürtige Berlinerin in der Band, aber
wir sind alle in Berlin ansässig. Das geht alles. Wir haben auch schon geprobt,
bevor es so schlimm wurde, aber dann ging wirklich alles drunter und drüber.
Alles sind Profimusiker – bis auf den Pianisten, der hat noch einen normalen
Job.
Einen Daytime-Job, der nichts mit Musik zu tun hat?
Ja, das ist seine zweite Leidenschaft, er ist nämlich auch
noch Doktor der Mathematik. Hat er einfach noch so rangehängt (lacht). Er
arbeitet als Mathematiker. Deswegen macht er jetzt seinen Job – aber für den
Rest von uns ist es schwierig. Ich denke immer wieder, man könnte die Zeit zum
Proben nutzen, aber das zieht eben solch einen unglaublichen Rattenschwanz an
Problemen hinter sich her – und dafür, dass wir dann für einen Facebook-Stream
dasitzen, fühlt es sich auch nicht so gut an. Ich bin schon eher so eine
Rampensau! (lacht wieder) Und das fehlt mir dann.
Kann man sagen, es gibt die sukzessive veröffentlichten
Singles und kein Album, weil es eben keine Record Release Konzerte gibt?
Also, ich glaube, es ist erstmal so, dass diese Songs auch als Singles sehr gut funktionieren. Das macht auch künstlerisch für mich schon Sinn. Weil … Die sind alle in Phasen entstanden und haben auch so ein bisschen ihre jeweils eigene kleine Welt. Es gibt dann auch nicht wie bei einem Album so zwei, drei Songs, die man halt noch macht, weil man ein Album füllen muss, sondern ich versuche wirklich, dass jeder der Songs eine kleine Perle ist. Mir gefällt auch die Idee, für jede Single ein eigenes Cover zu haben. Ich mag Alben, ich höre auch Alben – ich bin ja auch noch alte Schule, aber ich kann diese andere Welt der Singles auch sehr gut verstehen. Mit den neuen Plattformen, wo jetzt Musik gehört wird, macht das schon Sinn.
Ich hab auch noch mehr Songs, die kommen jetzt auch alle nach und nach, aber so bekommt halt jeder Song seine Aufmerksamkeit und seinen Platz. Ich finde das irgendwie schön. Dass alle mal dran sind. Das ist wie so eine Familie mit lauter kleinen Kindern, und jedes hat halt mal Geburtstag. Und nicht alle auf einmal.
Nochmal kurz zu den neuen Plattformen, zu dieser Situation mit dem ganzen Streaming: Ich benutze für Glymmar ja Spotify, und, das muss ich auch sagen, Spotify ist natürlich ein schlimmer kapitalistischer Konzern, der uns alle ausbeutet. Ich mach jetzt mit bei dem Game, mal für ’ne Weile, um das mal auszuprobieren, aber ich werde auf Dauer wahrscheinlich auch zu Bandcamp gehen oder so. Weil: Eigentlich darf man das nicht unterstützen.
Du hast von dieser eigenen kleinen Welt der Songs
gesprochen. Lass uns über die Welt vom heutigen Release „Sugar“ sprechen – über
die Situation, die der Song reflektiert.
Das ist ein kleines Märchen. „Sugar“ ist ja zweideutig: Es ist nicht nur der Zucker, es ist auch ein Name, so wie „Sugar“ in „Manche mögen’s heiß“. „Sugar“ sehe ich als eine Art Hexe, eine Sirene. Aber ich bin kein konkrete-Lyrics-Mensch. Ich erzähle keine Geschichten, sondern Bilder. Und mir ist es auch recht, wenn es Bilder bleiben. Wenn es zu konkret wird, auch bei Musik, bei Kunst generell, finde ich das problematisch. Aber ich kann auf jeden Fall sagen, „Sugar“ ist so eine Hexe, eine wunderschöne, verführerische Hexe, die süß ist und einen umgarnt, die einen aber auch heimsucht. Wie Zucker fühlt sie sich toll an, bringt aber auch superviele Schwierigkeiten mit sich. Sie macht süchtig.
Wie eine Droge.
Ja. Und die Zeile „Sugar in my bed“ – ich meine, wenn man
Zucker im Bett hat, ist das auch nicht wirklich angenehm, das kratzt halt! Und
auch im Blut kann es unheimlich nervig sein. Im Prinzip wie mit allen tollen
Dingen, die einen wahnsinnig vereinnahmen: die haben oft auch Nachteile.
Drogen, Alkohol, Sex … solche Geschichten haben ja auch immer den Reiz des
Problematischen. Ich glaube, dass das etwas zutiefst Menschliches ist, dieses
„Ich will, aber ich sollte nicht“. Dieses Gefühl steckt in dem Song: Ich will
eigentlich, ah, aber ich weiß, ich darf nicht. Ich sollte nicht. Dieses: Ah, du
wirst es bereuen.
Ich wusste doch, es gibt einen Grund, weshalb das Lied mich
so triggert!
(beide lachen)
Damit kann wohl fast jeder etwas anfangen. Und die musikalische Umsetzung … Also, mein Mann hat das ja produziert. Ich schreibe nur Riffs auf dem Klavier. Ich mag Rockmusik, ich mag auch harte Rockmusik. Und Riffs auf dem Klavier zu machen, finde ich wahnsinnig spannend. Ich kann leider überhaupt nicht Gitarre spielen, das ist einfach nicht meins, war es auch nie – aber ich versuche, was so ein Rockgitarrist auf seiner Gitarre entwirft, eben: das perkussive und das harmonische Element miteinander zu verbinden, aber auf dem Klavier. Es gibt ein paar Künstler, die das gemacht haben, zum Beispiel Trent Reznor von den Nine Inch Nails. Ich bin immer ein Riesenfan gewesen, schon seit Teenie-Tagen … Halt so ein Rock’n’Roll-Klavier! Tori Amos macht das auch oft, oder Kate Bush. Das sind so meine Einflüsse, und das hört man sicherlich auch im Gesang.
Ich merke bei mir, ich sing jetzt nicht so, wie man heutzutage singt. Da merk ich, dass ich schon ein bisschen länger dabei bin. Meine Einflüsse sind aus einer anderen Zeit – und das hört man auch. Dieses Vollmundige … also, ich habe eigentlich die Stimme dafür, ich könnte das machen, aber es kommt einfach nicht aus mir raus. Was kommt, ist immer dieses Kopfstimmige. Das ist so eher meins. Und dazu diese Riffs. Mein Mann hat zu diesem Song dann auch diese Stimmeffekte gebaut, das bin ja auch ich, so eine beschnittene Stimme, wie ein Sirenengesang, der auch so ein bisschen gruselig ist. Das passt schon zu der klassischen Geschichte von der bösen Hexe im Lebkuchenhaus. Und am Ende nimmt sie dir die Seele und das Herz, und du bist ihr Gefangener.
So ist das mit den Hexen im Lebkuchenhaus: Du landest als
Herz im Einmachglas auf dem Regalbrett und als Seele an der Kette im Hinterhof.
(beide lachen)
Ihr bezeichnet das Ganze ja als „Dreampop“. Bei dem
Begriff habe ich immer ganz fürchterliche Assoziationen an Weichspülklänge, die
in Cover mit dem Sonnenuntergang entgegenspringenden Delphinen verpackt sind …
Aber sowas höre bei euch, bis auf dieses Flächenhafte, ja überhaupt nicht,
gottseidank.
Es ist ja immer das Problem: Was ist das denn, was wir da
machen? Keine Ahnung! Aber ich fand es ganz passend, weil: The Cure gilt ja
auch als Dreampop.
Naja, wenn überhaupt, dann Dreampop noir, wobei ich da ganz klassisch mit Gothic oder Wave glücklicher wäre …
Ich glaube einfach, dieses Flächige, diese vielen Schichten,
die da so ineinanderwabern … das passt da rein. Bei „Sugar“ tatsächlich nicht
so sehr, aber „Fire“ und „Moon Behind A Cloud“, die passen da gut hinein. Aber
wenn du einen besseren Genrevorschlag hast, ich bin da ganz offen!
Ich empfinde etwa „Secrets“ als totalen Torch
Song. Nicht im klassischen Sinne, sondern im
buggewesseltoftschen. Aber es ist tatsächlich eine der großen Herausforderungen des Musikjournalismus, passende Genreeinordnungen vorzunehmen bzw. neue Genres zu schaffen.
Ja, und heutzutage ist das wirklich
interessant! Ich hab ja jetzt kein Label hinzugezogen, weil: Wenn man nicht
spielen kann und auch keine CDs oder was auch immer verkauft, zahlt man ja
erstmal nur drauf – außerdem wollte ich wirklich auch mal die volle Kontrolle
haben. Einmal alles alleine machen – und vielleicht auch auf die Schnauze
fallen, aber ich wollte mal wissen … man lernt auch sehr viel. Was da alles so
dahintersteckt. Dass man sich zum Beispiel Genres ausdenken muss.
Und wie fühlt sich die bis jetzt an,
diese volle Kontrolle?
Naja, es ist halt alles total komisch retortig, weil man nicht auftreten kann. Wir sind jetzt gerade in einer rein digitalen Welt unterwegs. Das geht ja nicht nur den Musikern so. Die Leute sind im Homeoffice, dahinten turnen die Kinder rum und vorne will man irgendwie … wie soll ich das nennen? charismatisch rüberkommen. Mir macht das wahnsinnigen Spaß, weil ich eh gerne gestalte und auch ein Typ für Social Media bin. Es ist nicht so, dass ich mich dazu zwingen muss, mir macht das Spaß. Ich habe so eine kleine exhibitionistische Ader, sonst wäre ich auch nicht Sänger geworden, das ist schon okay. Für meinen Mann aber zum Beispiel ist das Horror, der kriegt da gleich Panik.
Ich glaube, man muss dafür auch ein bisschen gemacht sein. Und ich finde es auch ganz schön, weil man so einen Reality Check kriegt, das ist sehr interessant. Aber es ist natürlich auch superschwierig! Ich bin keine kleine, süße Maus, die irgendwie da bei Instagram voll viele Follower hat, weil sie halt so supersexy und so hyperjung und niedlich ist – das kann ich nicht bieten. Das heißt, ich bin eine erwachsene Frau, die sich erlaubt, noch Popmusik rauszubringen, die dann noch nicht mal wirklich in ein Genre reinpasst! Also, man kann es sich bestimmt leichter machen im Leben.
Aber ich merke tatsächlich, dass mich das trotzdem sehr glücklich macht, weil es *wirklich meins* ist. Das ist total ehrlich: Das bin ich und so kling ich und so ist meine Musik und die hab ich selbst geschrieben und ich hab die Covers zwar nicht gemacht, aber ausgesucht, ich habe die Leute ausgesucht, die das spielen, und das ist so richtig mein Baby. Mal ganz hundert Prozent. Sich zu trauen, das rauszubringen, einfach so: Hier, guck mal, mein Herz, bitteschön – das fühlt sich toll an! Selbst, wenn nur drei Leute sagen, ach, ich finde das schön. Es ist ja jetzt nicht so, dass hier die Tausenden von Followern kommen und sagen, darauf haben wir schon immer gewartet! Aber jeder Mensch, den das glücklich macht, der ist für mich … das ist einfach wahnsinnig schön. Man teilt sein Herz mit anderen Leuten.
Glymmar sind Kristiina Tuomi (Vocals),
Samuel Halscheidt (Gitarre, Keys, Vocals), Benedikt Jahnel (Piano), Carsten
Hein (Bass, Keys) und Immo Philipp Hofmann (Drums).
Es ist so ein Morgen
danach, an dem man zwar nicht wirklich verkatert ist, aber: Alles geht langsamer.
Der September hat sich noch einmal zu dreißig Grad aufgerafft, nur der Mensch
kann ist zu nichts in der Lage – und richtig wach wird er auch nicht. Ein Tag,
an dem der Start zum Ganztagesprojekt gerät. Ein Tag wie in Sirup getaucht.
Die Playlist der letzten Nacht
möchte man nicht mehr hören, allein, man bedarf schon einiger Musik, um über
die Runden zu kommen, die sich zäh anfühlen, klebrig nachgerade. Schließlich
verlangt auch gepflegtes Sichtreibenlassen nach einem Minimum an Energie,
zumindest nach so viel, um den Wasserkocher für eine Tasse schwärzesten Kaffees
auffüllen und anschalten zu können. Oder um eine stumpfe Hausarbeit anzugehen,
die man hasst und auf die man keinerlei wache Energie verschwenden möchte, die
aber dennoch erledigt sein will. Wenig komplexe Handlungen wie Gläserpolieren
oder Bügeln, die sich auf Autopilot bewerkstelligen lassen, derweil man seinen
Gedanken nachhängen kann.
Natürlich kann man jetzt das
zu Teenagerzeiten heiß und innig geliebte Machwerk der seinerzeit favorisierten
Achtziger-Hair-Metal-Combo anwerfen und den Körper, wie zuvor den Magen mit dem
Kaffeeschwall, schockwecken. Muss man aber nicht. Das Berliner Duo Goldesel –
das da sind: Ruben Giannotti und Tobias Fiege – leistet mit seiner Vier-Track-EP
Kayak nämliches. In sanft. In Zeitlupe. Für den Schonlängstnichtmehrteenager
in uns.
Gleich die trunken wabernden Stolperbeats des namensgebenden Openers garantieren ein sanftes, ja: faules Indentaghineingleiten, noch dazu beamen sie direkt in Prä-NuSoul-Zeiten, zu denen man Erykah Badu, D’Angelo oder Maxwell erst ahnen konnte, zurück. Die Beats von Soulparlor fallen hier sofort als Referenzklang ein, und das bedeutet hier wie dort: ein Höchstmaß an Eleganz. Luxusbeats sozusagen, die Fiege selbst als „lofi, jazzy hip hop beats“ bezeichnet.
„Riding On A Red Horse“
versetzt in selige After-Work-Lounge-Zeiten zurück, die von Lounge-Heroen wie
De-Phazz dominiert wurden, klingt – nicht zuletzt ob der nervösen Edel-Drums von
Clemens Grassmann – aber sehr viel mehr noir: Giannotti und Fiege
begeben sich tief in die Chillout-Beats hinein, derweil Giannotti weder sein
Wirken als Large-Ensemble-Leader verleugnen kann, wird hier doch zeitgleich das
große Bigbandarrangement aufgefahren, noch das als Trompeter, glaubt man doch gleich
zu Beginn, in eine Aufnahme von Roy Hargroves RH Factor reingestolpert zu sein.
Dessen „Forget Regret“ ist hier jedenfalls nicht weit weg.
„Wes0“ gibt sich als
beschwipster James-Last-Wiedergänger, wobei das Easy-Listening-Element mancherorts
ins nahezu Ironische überzeichnet ist, haben wir es hier doch mit einer untergründig
gestörten Idylle zu tun, der es gelingt, die elegante Abendgesellschaft samt ihren
fancy Cocktails und einem immerzugewandten Conferencier in trügerische Sicherheit
zu wiegen. Vielleicht geht es aber auch nur um falsche Erinnerungen. Süße,
gefährliche Fehlerinnerungen, die sich anfühlen wie dieser Tagesstart, irgendwo
zwischen Traum und wach.
„Liberation“ wabert so
gedämpfter Stimmung wie gleichgültig vor sich hin, alldieweil ein stellenweise
recht aufregender Bass die Berechtigung des Stücks auf der EP erkämpft, das
später noch zu stolpern anhebt, ins Taumeln gerät und mit seinem offenen Ende
eher ratlos zurücklässt. Dennoch wird auch dieser am wenigsten berührende Track
– wobei wir hier auf höchstem Niveau jammern, natürlich weist auch er Beats der
Luxusliga auf – seiner Funktion als Rausschmeißer gerecht.
Was soll man noch sagen? Kauft Kayak!
Und zwar hier auf allen einschlägigen Portalen, oder, besser noch, bei Bandcamp.
Alle Einnahmen gehen an Campain Zero, Giannotti dazu: „Both of us (super white fellas) perpetually checked black musicians and composers together and soaked in their vocabulary. Last winter, I myself released a big band album borrowing heavily from the hip hop culture, while the grande finale is a piece by Wayne Shorter, one of the greatest black composers still alive. So here you have it: a sweet little mix tape of beats with swag and jazz, humbly dedicated ex post to the rich heritage of the black music community.“
Kommentare deaktiviert für Tage wie diese. Und ein Gegenmittel: die Goldesel-EP „Kayak“
Ich gestehe freimütig: Magischer
Realismus war noch nie so meins. Hundert Jahre Einsamkeit? Fünfhundert Seiten
Langeweile! Lediglich Borges mag ich gelten lassen, aber ist der nicht ohnehin
eher stilsicherer Philosoph denn literarischer Phantast?
Nun hat mir ausgerechnet ein Musiker den Magischen Realismus nähergebracht. Die Rede ist vom 1986 geborenen Modern-Creative-Bassisten Reza Askari und seiner heute erscheinenden Veröffentlichung Magic Realism, die er mit seinem 2012 gegründeten, mit Stefan Karl Schmid am Tenorsaxophon und Fabian Arends am Schlagwerk besetzten Trio ROAR eingespielt hat. Allein das quietschbunte – und dennoch seltsam düstre – Voodoo-Cover, das azurblaues, von karmesinrotem Inlay umhülltes Vinyl birgt, welches wiederum ob seines butterblumengelben Etiketts sehr Bauhaus daherkommt, wird jeden Davringhausen-Liebhaber für sich einnehmen können!
Schon zum Auftakt stellt der Landfermann-Schüler mit „Firefly“ unmissverständlich klar, dass wir es hier mit dem Werk eines Bassisten zu tun haben, genauer: eines Bassisten, der seinem Trio den nervösen (Ab-)Grund bereitet, auf dem das Sax sich röhrend entfaltet und die Drums in sanfte Hypnose trommeln. Im Grunde ist dieses Glühwürmchen der jazzgewordene Hummelflug, nervös zuckt es mal hier-, mal dorthin. Der gleich an zweiter Stelle folgende, orientalisierende Titeltrack indessen ruft im westlich geschulten Gehör das Bild der Schlangenbeschwörung hervor, verstärkt durch Schmids Griff zum Sopransaxophon, das die dazu unerlässliche Flöte gibt: Es ist ein fortwährendes Locken und Widerstehen, Näherkommen und sich Entziehen. Und dann – eine Ballade! Aber ist das überhaupt eine Ballade? „Marimonda“ jedenfalls präsentiert sich sehr, sehr kind of blue, wozu mir der Begriff „Ballade“ im Traum nicht in den Sinn käme, wennauch nicht modal, sondern funktionsharmonisch in C-Moll.
Was für eine großartige Leistung vom Saxophon, die auch von Drums & Bass gewürdigt wird, indem diese unendlich behutsam und ihr musikalisches Ego völlig uneitel zurückhaltend sekundieren. Sich derart zurückzunehmen, muss man auch erst einmal können! Dann aber: Chaos pur! „The Return of the Beam“ klingt eher, als wäre das Glühwürmchen vom Opener der Flamme nun endgültig zu nahe gekommen und tanzte da, halb strauchelnd, halb sich wieder erhebend, aber immer lichterloh brennend, mit allerlei weiteren der Anderswelt geweihten Gestalten seinen Abschiedswalzer am Rande der Schlucht, die es unweigerlich zu verschlingen droht, was keine Frage des Ob? mehr, sondern nur noch des Wann? Ist, und da ist er auch schon, dieser einem Aufschrei gleichende hohe Ton, mit dem Stück und Plattenseite gleichermaßen enden.
Müsste man jetzt nicht aufstehen, um die Platte umzudrehen – oder hat hier noch jemand so ein Schallplatten beidseitig abspielendes Ungetüm, einen Sharp namens RP 115 etwa? In den Achtzigern war das ja das Fancieste, was man sich vorstellen konnte! –, könnte man den schlicht mit „Play“ betitelten Opener der zweiten Seite glatt für eine Reprise von „The Return of the Beam“ halten. Zwar mögen sich die stärksten Rauchschwaden nun verzogen haben, doch wabern sie immer noch über die Szenerie – und weiterhin herrscht Chaos. Mit so einem Untergang nämlich ist es gar nicht so einfach: Da ist nicht alles auf einen Schlag vorbei. Im Gegenteil: Mit dem Untergang fängt es erst richtig an.
Richtig fängt auch „Pain Man“ an, nämlich mittels fulminantem Basssoloauftakt, der – neben dem hervorragenden, ich geb’s zu, in meinen Notizen steht: geilen Klang, der hier mal ausdrücklich erwähnt sein soll –, ob seiner A-Tranehaftigkeit einen Seufzer des Wohlbefindens, des Wiedererkennens, der Erleichterung ausstoßen lässt, dass es ihn noch gibt, den guten alten Mitternachtsjazz, der derart viel Interpretationsspielraum lässt, dass er von jedem Hörer mit einer ganz individuellen Bedeutung aufgeladen werden kann, ja: durch diese erst anfängt zu leben, weshalb das Stück – in a nutshell – zeigt, was den Jazz zur Musik der Musiken macht, vor allem dann, wenn das hypnotische Besenschlagzeug und das (wieder Sopran-)Sax à la Jonas Knutssons „Syskonöga“ zusätzlich a little magic in this noisy world bringen. Dazu der Künstler: „Ich freue mich immer sehr, wenn Musik, die durch einen kommt, anderen Menschen etwas gibt. Dafür macht man es ja schließlich.“ Und wie man es macht! Oh, die Emotionen! Die tanzen Jive wie bei einer zeit- und möglichkeitenoffenen Ausgehnacht mit dem Einen, auf den man ein Auge geworfen hat, aber noch nicht die mindeste Sicherheit darüber, ob das auch auf Gegenseitigkeit beruht. Aufregend. Inspirierend. Das beste Ich hervorbringend. Kurz: magisch.
Die klanggewordene Night out gibt‘s dann mit dem „Bottrop Bebop“, schreitet der Abend doch, mehr und mehr seinen Höhepunkt antizipierend, voran, man geht vom Jazzclub in die Bar – oder setzt sich einfach nur auf den Bordstein, redet und redet und mit einem Mal ist es vier Uhr morgens. Begegnungen, wie sie nur die Großstadt möglich macht. Selbst, wenn sie Bottrop heißt.
Ob sich das mit bedrohlichem Trommelschlag und angstzitterndem Saxophon eröffnende „Korma Koma Karma“ als Liebesritual oder Hinrichtungskommando erweisen soll, ist völlig dahingestellt. Sicher ist nur, dass die vielbeschworene Schlange wieder ihr verschlagenes Haupt habt, wobei sie den Beschwörungstrick mittlerweile durchschaut zu haben scheint und sich nicht mehr zurückzieht: Sie greift an. Das Tenor röhrt, quiekt, und schreit, ob um sein Leben oder um jemanden in Schach zu halten – wer weiß das schon. Ein im besten aller Sinne magenumdrehender Closer einer viel zu schnell endenden Platte, die einmütig ins Fazit des Bandleaders einstimmen lässt, wenn der sagt: „Ich war und bin dankbar, dass wir diese schönen Momente im Studio einfangen konnten. Ist ja auch nicht immer der Fall.“ Hier schon. Hier sehr!
Kommentare deaktiviert für Jazzgewordener Hummelflug. Happy Release Day, Reza Askari!
Nun also De-Phazz mit der STÜBAphilharmonie. Lounge goes Klassik. Natürlich nicht ohne Spacecakebreak on the Titiicaca lake, um den die „Lounge-Punks“ ebenso wenig herumkommen wie die Stones um „Satisfaction“. Subversive Texte wie diese, eingebettet in wohlfühlige, um nicht zu sagen: -gefällige Easy-Listening-Klänge, wissen vor allem die Fans aus dem ehemaligen Ostblock zu goutieren, wo vieles auch nur verbrämt gesagt werden durfte.
Warum sich De-Phazz mit dem Begriff „erwachsen“ trotz gut zwanzig Jahren im Geschäft schwertun, weshalb sie sich als „eigentlich eine Wende-Band“ bezeichnen und was das alles mit dem Russenschwarzmarkt zu tun hat, steht hier. Anlass für das Gespräch mit De-Phazz-Erfinder Pit Baumgartner und -Sängerin Pat Appleton war ein Doppelseiter in der Januar/Februar-Ausgabe des Jazzthetik-Magazins, die druckfrisch an den besser sortierten Kiosken ausliegt.
Die De-Phazz’schen Luxus-Remixe in der Januar/Februar-Ausgabe des Jazzthetik-Magazins
Noch bevor ich dazu komme, meine erste Frage zu stellen,
übernimmt Pit Baumgartner das Kommando: Du bist doch die Erfinderin des
Begriffs „Lounge-Punks“!
Victoriah Szirmai:
Dieser Begriff wird mir zwar immer zugeschrieben, aber tatsächlich hab ich ihn
nicht erfunden, sondern damals auch irgendwo abgeschrieben. Nur, seitdem
kursiert tatsächlich im Netz, dass ich das erfunden hätte.
Pat Appleton (lacht): Hihi, genau.
Pit: Aber das ist doch schön,
oder? Das erinnert auch an die Frage an Beethoven, warum er immer von Haydn
abschreibe, woraufhin er meinte: Von wem denn sonst?!
VSz: Aha! Leider kenne ich ja den
Urheber des Begriffs nicht, deshalb kann ich nicht mit „Von wem denn sonst?“
antworten.
Pit: Aber es ist so eine alte
Tradition, hier bei uns.
VSz: Und das führt mich auch zu
meiner ersten Frage, denn mit diesem Album kann man ja überhaupt nicht mehr von
„Lounge-Punks“ sprechen. Wollt ihr damit das Image als „Lounge-Punks“ hinter
euch lassen und nach mehr als zwanzigjähriger Bandgeschichte erwachsen werden?
Immerhin ist es euer 15. Studioalbum!
Pat: Du hast das Album noch nicht
gehört, deswegen weißt du noch nicht, wie … (bricht in einen Lachanfall aus)
Oder hast du’s schon gehört?
VSz: Ich? Natürlich hab ich’s
gehört!
Pat: Ah, siehste, da haste mir ein
bisschen was voraus!
VSz: Und ich hab es sogar schon
rezensiert.
Pat: Oh!
Pit: Ja, ich muss gestehen, mir
gefiel der Begriff „Lounge-Punks“ irgendwie sehr, weil er trifft eine Seite von
mir, denn ich bin ja The Clash-Fan und so weiter, deswegen kann ich damit was
anfangen! Aber du hast recht, das vorliegende Album hat sich … nun ja … ein
bisschen davon entfernt, aber man darf uns halt nicht aus den Augen lassen! Es
hat sich unheimlich schnell ergeben, muss ich gestehen, Anfang des Jahres war
das noch gar kein Thema. Da waren Konzerte anberaumt mit dem Orchester, aber
keine Aufnahme. Und es hat sich so ergeben, in einem schwachen Moment sagt man
dann mal ja – und der Sommer ist vorbei. (lacht) Das heißt, ich war seit Juli
sechs Wochen im Studio und hab das gemischt. Für mich natürlich als Produzent
eine wunderbare Erfahrung, sehr anstrengend, aber lehrreich: Also, ich weiß
auch jetzt, wie man ein Orchester stimmt und wie die Kollegen sitzen und so
weiter, also, man lernt doch nie aus. Was die Musik betrifft, muss ich
gestehen, da sollen andere sich den Kopf zerbrechen. Ich hab diese Gelegenheit
wirklich äußerst gerne wahrgenommen und hab auch natürlich meine drei, vier
Lieblingssongs, aber ich musste das erstmal auch Dinge in fremde Hände geben.
Das war auch so’ne Übung …
Pat: Die Arrangements, halt.
Pit: Zum Beispiel die
Arrangements.
VSz: Du sagst, das Ganze ist erst
aus einem Live-Projekt entstanden und nachträglich auf Platte gebannt worden.
Wie ist es denn überhaupt zur Zusammenarbeit mit dem Erfurter Sinfonieorchester
STÜBAphilharmonie gekommen, wie ist diese Idee entstanden, euer Repertoire in
ein klassisches Gewand zu hüllen?
Pit: Also der Dirk, unser
neuerlicher Manager seit Kurzem, ja doch, seit zwei Jahren, der ist in Berlin
umtriebig und er hatte halt diesen Kontakt. Er kannte die von einer anderen
Künstlerin, mit der sie vorher ein Projekt gemacht haben …
Pat: Alin Coen.
Pit: … Danke Pat, weil ich
tatsächlich ein sehr schlechtes Namensgedächtnis habe!
Pat: Dafür bin ich ja da!
(alle lachen)
Pit: … und ganz vorher noch mit
Clueso, den hab ich mir gemerkt! Weil: Der fiel mir selbst auch schon auf. Und
da hab ich mir das mal angehört. Äh, ich muss gestehen: Ich bin jetzt nicht der
klassische Komponist vor dem Herrn, und so eine Gelegenheit – meine
bescheidenen Kompositionen oder auch unsere Texte – in so einem Rahmen zu hören
und zu verwirklichen, da musste ich sofort zusagen! Da gab es dann überhaupt
kein Überlegen, obwohl es dann doch viel Zeit in Anspruch nimmt und auch die
Kollegen, die dann denken, was machen wir jetzt? Klassik? Und um unser Publikum
kümmern und Konzerte spielen … aber für mich ist es natürlich immer eine
Herausforderung, sowas zu machen. Wir haben ja auch schon Bigband gemacht, und
um jetzt mal den Zeitaspekt zu betonen, wir arbeiten auch gerade an einer
Kinderplatte …
VSz: Diese Sache mit der
HR-Bigband, das war ja 2006, da hattet ihr mit denen ein Live-Album
aufgenommen, aber ein Sinfonieorchester ist dann ja nochmal was ganz anderes. Lounge
und Klassik – wie passt das zusammen?
Pit: Also, wenn du jetzt zum
Beispiel … puh …
Pat: „No Jive“!
Pit: Ja, „No Jive“, aber auch …
Komisch, in jedem Stück findet sich was … Ein Pariser Kollege, der mit uns mit
Videos zusammenarbeitet, meinte: Das könnten eigentlich die Ursprungsversionen
gewesen sein und die anderen Sachen sind Remixe.
VSz: Das ist schön!
Pit: Fand ich eine interessante
Ansichtsweise. Weil, du findest in jedem Stück diese unheimlich cheesy Geigen
oder sowas. Und da find ich, da gibt es Berührungspunkte.
VSz: Stimmt, das klingt manchmal
sogar so wie so’n Disneyfilm-Soundtrack, mit den Geigen …
Pit: Das sind einfach
Deluxe-Remixe, sagen wir es mal so! Deluxe-Remix, weil: Du kannst sowas
eigentlich nicht bezahlen. Wenn du sowas buchen möchtest, würde das unsere
wirtschaftlichen Kapazitäten empfindlich überschreiten. Aber in dem Kontext mit
diesen … sag ich mal: unheimlich motivierten jungen Menschen, die natürlich
alle Musiker sind, aber halt nicht im Orchester arbeiten, weil da auf zwei
Posaunenstellen hundert Bewerber kommen, die sind nichtsdestoschlechter oder
untalentierter. Die haben unheimlich viel Motivation! Wo die noch um halb zwölf
Geigen eingespielt haben, hätten die Babelsberger schon längst Feierabend
gemacht.
VSz: Hinter den Babelsbergern
steht vermutlich auch eine Art Gewerkschaft, und hinter der STÜBA nicht.
Pit: Eben. Ich will den Kollegen
da jetzt nicht an den Karren fahren, ich hab früher auch für das ZDF
gearbeitet, da geht’s … um vier ist da Tuck! Und wir sind halt gewohnt so zu
arbeiten: Wenn’s fertig ist, hören wir auf. Aber gut.
VSz: Genau. Das läuft bei mir hier
nicht anders. Wie hieß der Kollege nochmal, der gesagt hat, für ihn sind
eigentlich die Orchester-Versionen die Originale und die Originale die Remixe?
Pit: Unser Freund Basil Cremer aus
Paris!
VSz: Basil Cremer … schreib ich
den mit K oder mit C?
Pat: Mit C wie Bruno! Bruno
Cremer. Basil ist der Enkel von ihm.
Kurz vor dem Auftritt im Volkshaus Jena: Wiedersehen mit Pit Baumgartner und Pat Appleton. Foto: Karl Frierson
VSz: Das Programm der CD steht ja
unter dem Motto „Lounge goes Classic“ – oder zumindest wird es in der
Pressemitteilung so angekündigt. Die Arrangements allerdings wurden von
verschiedenen Personen aus beiden Genres gemacht – du hast ja vorhin auch
gesagt, dass du sie erstmals aus den Händen gegeben hast, unter anderem in die
von Joo Kraus. Wie ist es denn zu dieser kunterbunten Aufteilung der
Arrangements gekommen?
Pit: Wenn ich vorher noch kurz
ergänzen darf, ohne mich da jetzt andauernd frei zu machen: Wir haben
verschiedene Listen zusammengetragen, die Kollegen hier, die Pat, oder Karl,
welche Stücke denn in Frage kämen, und dann sollten es sich die Arrangeure
selbst aussuchen, denn ich wollte da niemandem irgendwas aufdrängen. Und die
haben sich dann ihre Lieblingsstücke ausgeguckt und haben sie dann auch
arrangiert. Ich hab noch mal kurz drübergeguckt, ob was dabei ist, was
vielleicht kritisch ist bezüglich der Rechtevergabe und so, da war aber alles
okay, und dann sind die losmarschiert! Und ich war selbst überrascht, als man …
beziehungsweise, ich konnte mir erst überhaupt nichts vorstellen, sondern war
überrascht, als dann langsam die Demos reinkamen und dachte, na, schaun mer
mal! Du musst wissen, ich bin … Ich hatte in Englisch eine Fünf und verdiene
mein Geld mit englischen Texten; ich kann keine Noten lesen und verdiene mein
Geld mit Musik. Ich bin da Zaungast gewesen, erstmal als Zuschauer oder
Zuhörer.
VSz: Apropos englische Texte: Wem von euch beiden
verdanken wir eigentlich die legendäre Zeile vom Spacecake break on the Titicaca
lake?
Pit: Die Dame sitzt da gegenüber. Ich glaub, sie
war damals mit ihrem Verflossenen in Südamerika unterwegs.
Pat: Genau. Und ich hatte schon so die Idee des
Space Cake Picknick, weil: Ich war tatsächlich am Titicacasee auf 4.200 Metern
Höhe, und ich hab mir dann vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn man sich da oben
dann so’n Keks einwirft. Meine erste Erfahrung mit solchen Drogen war, dass mir
eine einen Keks gab und mir nicht sagte, was das für ein Keks war. Und der
schmeckte mir so gut, dass ich gleich noch einen zweiten dazu gegessen hatte
und war völlig … Also ich hatte … danach war ich satt. Ich hab gesagt, ich
brauch nie wieder irgendwas von diesem Zeug! Es war fürchterlich, zu Fasching
irgendwie drei Tage völlig neben der Spur zu sein, alle Leute sagen irgendwie
komisch aus … Und da hab ich mir gedacht, weil man da oben bei 4.000 Metern ja
auch so einen komisch aufgeblähten Kopf hat, weil ja das Blut völlig anders
fließt als sonst, wie das dann wohl sein würde, wenn man sich dann da oben noch
so’n Keks einwirft. Und dann hab ich zu Pit gesagt: Wie wäre es denn mit Space
Cake Picknick? Und dann sagte er, mach doch einfach Space Cake Break draus!
Weil: Picknick ist zu lang. Und so ist das dann entstanden. Aber es war witzig,
weil wir haben das Lied zuerst angefangen, und dann bin ich in den Urlaub
gefahren, und wir wollten erst so Orte wie Beirut oder so einbauen, also so
Krisenurlauber haben wir da schon früh beleuchten wollen, und dann kam ich aus
Südamerika zurück und hab gesagt, du, da sind die Namen von den Orten viel,
viel schöner, lass uns doch das nehmen! Und so kam das dann.
VSz: Es ist wirklich meine Lieblingstextzeile von
euch, ich hab mich sehr gefreut, dass sie hier wieder auftaucht!
Pit: Ja klar, der „Mambo“ muss natürlich rein, weil
das ist … ich mein, frag mal Mick Jagger, der kommt um „I can’t get no“ auch
nicht mehr rum – und die Leute hätten gefragt. Weil, ich finde auch …
lustigerweise, „Mambo“ kannste eigentlich nicht kaputtmachen, der klingt immer
gut, wie er klingt, ob das jetzt mit der Philharmonie war oder mit der Bigband
… Der Mambo ist irgendwie immer der Mambo.
VSz: Er ist ja auch irgendwie euer Signature-Song.
Und ich finde ihn auch subversiv – das ist eigentlich das, was ich damals mit
den „Lounge-Punks“ meinte, dass ihr so etwas Hintergründiges an euch habt.
Pit: Das zieht sich ja wie ein roter Faden durch
unsere Kunst. Das fängt bei der ersten Platte mit den „Rosenbergs“ an,
eingebettet in ein zartes Lounge-Gewand, da geht es um rauchende Köpfe, oder
„Something Special“ ist auch so’ne Umkehrung, das klingt nett, ist aber
eigentlich auch eine ganz profane Popbotschaft. Ich funktioniere selber so,
wenn ich Musik höre, ich sprech auf ganz profane Zeilen an, die retten dann den
Tag oder machen dich beschwingt oder lösen kurz Mal dein Problem …
VSz: Hören das die Fans auch so oder genießen die
einfach die Leichtigkeit der Musik?
Pat: Ich glaube, die Verklausulierung von Dingen
ist zum Beispiel ganz besonders in Russland beliebt, weil die da auch nicht
immer sagen dürfen, wie es eigentlich ist. Deswegen mögen die auch solche
verschachtelten Gedanken. Also man merkt schon, dass die Leute sich das dann
auch irgendwann mal anhören oder plötzlich macht es ping! und sie sagen, ach,
das habt ihr gesungen? Das hab ich ja gar nicht mitgekriegt! Es ist auch
manchmal erst bei der Lektüre der Texte dann klar, was da eigentlich so unter
der Oberfläche noch alles schimmern könnte. Und deswegen glaube ich schon, dass
das auch gut ankommt – gerade in Osteuropa, weil die Leute da irgendwie gewöhnt
sind, in blumigen Bildern zu sprechen, um Dinge zu beschreiben, die man
eigentlich gar nicht ansprechen darf.
Pit: Was mir dazu auch einfällt, ist, wo ich beim
Mischen auch nicht sicher war, ist es kitschig oder nicht, ist bei „No Jive“
die Kinderstimme mit den Waffen. Das ist ein ganz süßes Thema, und dann hast du
dieses Kind, das Waffen aufzählt …
Pat: „Rifle … twenty-two“.
Pit: Genau. Und lustigerweise mache ich gestern
beziehungsweise am Freitag die Süddeutsche auf, und der Leitartikel geht um
„Gott gab uns die Waffen“, da ist ne Mutter mit ihrem Kind und in der Mitte ne
Kalaschnikow. Weil die Amis sich das Recht auf ihre Waffen nicht nehmen lassen.
Ich hab den Artikel nicht gelesen, weil ich fand’s abstoßend, aber dieses Thema
ist im Grunde eigentlich aktuell wie nie! Oder immer aktuell, keine Ahnung.
Aber da sind wir schon wieder beim Thema! Wir könnten uns über Waffenlieferungen
unterhalten, kein Problem, aber wir können’s auch über Lounge-Musik machen –
was der Tag braucht.
VSz: Ihr macht ja beides: Ihr unterhaltet euch
innerhalb süßer Lounge-Musik über diese ernsten Themen. Aber ich möchte noch
einmal kurz darauf zurückkommen darauf, was Pat eben gesagt hat, mit Russland –
ihr habt eure größte Fanbase eigentlich dort, oder?
Pat: Ja, könnte man sagen. Auf jeden Fall unter den
Leuten, die zu Konzerten erscheinen.
Pit: Mir ist es immer noch ein Rätsel. (alle
lachen)
Pat: Naja, es ist ganz einfach, der Schwarzmarkt
hat uns da weitergebracht …
Pit: Das klingt gut!
Pat: …es war einfach relativ billig, da zu kaufen,
überall, an jeder Ecke, und es gab Alben, die haben wir hier nie gesehen.
Manchmal, wenn mir etwas zum Signieren gereicht wurde, dann habe ich gedacht,
was ist denn das bitte für ein Album? Es gab da auch ganze Alben, wo nur
Barbara drauf ist oder wo nur Pat drauf ist oder wo nur Karl drauf ist, die
haben sich da echt die Mühe gemacht, die dann auseinanderzuklauben und deswegen
… Das war einfach in einer Zeit, da kommen sie heute noch auf uns zu und sagen,
das war der erste Moment eines kleinen bescheidenen Wohlstandes. Wo sie einfach
gemerkt haben, oh, es geht bergauf, die Sowjetunion verschwindet, wir können
unser Leben selber gestalten, in Gänsefüßchen, und wir können ein bisschen
Luxus genießen. Und da war unsere der Soundtrack dafür. Es war einfach toll,
und das danken die uns bis heute.
VSz: Ihr wart also zur richtigen Zeit bei der
richtigen historischen Entwicklung dabei.
Pat: Wir sind sozusagen eigentlich auch ne
Wende-Band! Nur ist das hier in Deutschland nicht so bekannt.
VSz: Eine Wende-Band! Das heißt, ihr hättet
eigentlich gestern zum dreißigjährigen Mauerfalljubiläum spielen müssen.
Pat: Eigentlich hätten wir da rumspringen müssen.
Wobei ich froh bin, dass wir nicht da in der Kälte stehen mussten!
Pit: Ich bin ja weit weg von der Hauptstadt!
Pat: Sei froh!
VSz: Apropos Konzerte – das Orchesterprojekt wird
es jetzt ja auch wieder live geben, ich weiß zumindest von zwei Konzertterminen
in Hamburg und Berlin. Wie viele Musiker stehen denn da letzten Endes
eigentlich auf der Bühne?
Pat: In Berlin? Ich glaube, da spielen wir bis
jetzt noch nicht.
VSz: Warte mal … Ach nee, Jena. Im Volkshaus. Entschuldigung.
Hamburg und Jena.
Pat: Berlin ist leider noch nicht dabei. Wir planen
natürlich für nächstes Jahr noch weitere Konzerte, aber es ist erstmal so’n
bisschen schwierig, die Leute davon zu überzeugen, dass das jetzt geil ist.
Deswegen müssen wir da langsam drangehen.
Pit: Wir stoßen da auch an logistische Grenzen. Die
Menschen im Orchester haben teilweise auch Jobs nebenbei, die können sich jetzt
nicht Zeit nehmen für vier Wochen Tour. Also muss man alles auf ein enges
Zeitfenster begrenzen, und dann wird es schwer, so stringente Termine zu
finden. Es sind fast sechzig oder siebzig Leute oder irgendwas in der Art –
find mal ne Jugendherberge für die …
VSz: Oder finde überhaupt mal einen
Konzertveranstalter, der sagt, ich zahle jetzt für siebzig Leute auf der Bühne
statt für sieben!
Pit: Ja, das muss dann in einem anderen,
gesponsorten Rahmen laufen oder mit irgendwelchen Goethe-Instituten, keine
Ahnung. Ich bin natürlich auch am Fühlerausstrecken – wir haben hier ja auch
die Rheinland-Pfalz-Philharmoniker, die haben, so wie damals die Bigband,
natürlich professionelle Strukturen, das könnte man natürlich nutzen. Vielleicht
gibt es auch ein entsprechendes Orchester in Moskau, ich weiß es nicht. Wir
sind da im Moment dran, es ist jetzt erstmal auf dem Tisch, es muss jetzt
erstmal zerrissen werden von der Kritik und dann werden wir sehen, ob wir noch
irgendwo spielen können!
(alle lachen)
VSz: Ich hab hier noch zwei Fragen eher technischer
Natur, die sich wahrscheinlich eher an Pit richten …
Pat: Kein Problem!
VSz: Beim zweiten Stück, den „Roses“, da setzt bei
Minute 2:20 so ein schleppender 2010-Beat ein und man fühlt sich wieder ganz in
den After-Work-Soundkosmos von DePhazz zurückversetzt … Wird der Beat jetzt
wirklich live gespielt oder ist der programmiert?
Pit: Nee nee, wir hatten schon einen Schlagzeuger
dabei, der hat ja das ganze Orchester geleitet! Im Grunde hat die Band das
Fundament gelegt, das muss verteilt sein, zusammengehen, das gibt ja, wie ich
gelernt habe, Vorschriften auf dem Notenblatt, das heißt, wenn da steht, auf der
Eins fangen wir an, dann sollten alle auf der Eins anfangen. Und der
Schlagzeuger hat die Grundierung gelegt, und das Orchester hat sich dann im
Idealfall draufgesetzt. Der ist natürlich auch dabei. Das ist vom Klang her
natürlich ein Unterschied, ob du im Raum spielst oder ob man im Studio nochmal
die Möglichkeit hat, einen anderen Klang beizumischen wie ein Klangmaler, so
dass es noch ein bisschen wie in dem Fall elektronisch klingt. Das weiß ich
noch, bei den „Roses“ wollte ich es ein bisschen elektronischer haben, weil
auch das Stück daherkommt, aus der Technophase vom Anfang, oder der
Drum&Bass-Phase. Auf der Bühne wird es dann natürlich erdiger klingen und
live – das ist aber ein komplett anderes Medium, da ist wirklich der Moment
wichtig. Wenn du dahinkämest, würdest du glaub ich nicht auf den Snare-Sound
achten, sondern das Gesamtkunstwerk anhören in dem Moment.
VSz: Wahrscheinlich. Das heißt, du warst mit dem
Stück aber nochmal nachträglich im Studio.
Pit: Ich war mit allen Stücken nochmal nachträglich
im Studio. Das musst du auch! Das ist, tja, wie soll ich sagen, ein Thema, da
könnten wir jetzt zwei Stunden drüber reden – das war ja für mich die große
Erfahrung in diesem Projekt. Wie klingt es in der Halle – ich stand da erstmal
überwältigt in diesem Raum, als das Orchester vor mir stand –, und danach hast
du den ganzen Schmutz auf hundert Spuren im Studio. So. Da geht es plötzlich um
was ganz anderes. Räume, um Wiederverschmelzung, es geht um: Wie dämme ich
diese Gewalt ein und unterordne sie der Stimme?
Pat: Ja, und es geht ja auch um deinen Sound, so ein
bisschen, weil du bist ja eigentlich derjenige, der diesen Sound auch erfunden
hat und den dann auch irgendwie wiederfinden will auf dem Album.
Pit: Ja, einerseits das, andererseits sind das ja
auch immer noch Popsongs, und ein Popsong besteht aus einer Stimme und wenn du
ne Stimme hast, muss sich die Band hinter die Stimme einfügen, sonst hat das
keinen Zweck. Wenn du im Radio irgendso’ne halbherzige Stimme da irgendwo in
der Ferne hörst, nur, weil ein Orchester spielt … Das muss den Popkriterien
unterworfen werden! Und da, liebe Victoriah, wenn du mir ʽne Freude machen
willst, da gibt es einen ganz wichtigen Menschen in dem Prozess, das ist der
Horst Schnebel, der mir da unheimlich beigestanden hat bei dem Ganzen. Ich wäre
da technisch überfordert gewesen. Du musst die Geigen in den Raum bringen, du
hast Blechbläser, die müssen hörbar sein und grooven, aber die müssen hinter
der Stimme sein! Du hast Holzklapperleute überall, du hast Pauken drin, mein
Gott, ein Paukenschlag, und der Song ist zu! Also, du musst das alles bändigen.
Und das war für mich die große Erfahrung. Aber wie gesagt, ein Thema, könnten
wir zwei Stunden drüber reden! Darüber könnte ich jetzt eine Abhandlung
schreiben!
VSz: Horst Schnebel, der ist
Tontechniker?
Pit: Tontechniker, ja. Der macht
schon immer unsere Platten. Und er kannte auch schon die Aufnahmeprozesse von
einem Orchester, weil er in Russland einen Popstar damit aufgenommen hat.
Deswegen hat er mir da auch die Angst genommen. Ich selbst wäre da
wahrscheinlich erstmal …
VSz: Noch eine Frage zu Stück, zum
„Mambo Craze“: Dieser Auftakt, der wieder so etwas Märchenhaftes,
Die-Fee-erscheint-mäßiges hat, so etwas Magisches … Ist das ein verfremdetes Vibraphon?
Pit: Eine Harfe! Also, entweder es
kann die Harfe sein – oder es ist ein Vibraphon. In so einem Orchester hast du
ja alles. Live sogar noch! Es muss wohl ein Vibraphon gewesen sein, ich geh mal
davon aus, oder auch die Harfe. Weil die muss natürlich … Eine Harfe ist so ein
zerbrechliches Instrument, und das kämpft dann plötzlich gegen sechs Posaunen
an, und das ist ne Aufgabe, das dann noch so rauszuarbeiten, dass es dann immer
noch zerbrechlich klingt!
Pat: Wobei die Harfenistin auch
wirklich ein steiler Zahn war, eine tolle Frau!
Pit: Hat Spaß gemacht, ihr zuzu- …
äh … -hören.
VSz: Gibt es noch etwas zu dieser
Platte zu sagen, von dem ihr unbedingt wollt, dass die Welt es erfährt?
Pit: Wenn du mich so fragst, dann
fällt mir immer in erster Linie ein, dass ich diese ganze Platte mache, weil
ich Musiker bin und kein Schreiber, das heißt, die Antwort steckt bei mir
eigentlich in der Musik. Mir fällt da jetzt nichts anderes zu ein, außer liebe
Grüße aus der Provinz!
Pat: Ich würde sagen, da sollen
endlich auch mal wieder Leute kommen, die sich bei der letzten Tour beschwert
haben, dass sie stehen mussten. Weil wir sind ja auch nicht mehr die Jüngsten!
VSz: Das werden jetzt also
Sitzkonzerte …
Pat: Genau, es werden
Sitzkonzerte. Wer tanzen möchte, der möge sich an die Seite stellen, solange
die Ordner das zulassen, aber man könnte sich auch einfach mal schön in einen
kuscheligen Sitz hüllen und die Musik in ihrer neuen Form auf sich wirken
lassen. Also, das wäre glaube ich für uns alle schön, weil es einfach auch so
einen feierlichen Rahmen hat, das ist etwas ganz Besonderes. Wir geben uns da
echt redlich Mühe, das super hinzustellen, also, wir freuen uns alle drauf!
Pit: Du siehst, Victoriah,
dahinter verbirgt sich das wahre Motiv für die Produktion dieser Platte. Damit
wir in richtigen Konzertsälen sitzen können und nicht in klebrigen, schmutzigen
Clubs herumstehen müssen.
(alle lachen)
VSz: Also doch erwachsen geworden
mit diesem Album.
Pit: Ich tu mich so schwer mit dem
Wort „erwachsen“.
Pat: Nennen wir es „alt“ …
Vsz: Das wollte ich gerade
vermeiden!
Pit: Man muss sich manchmal in
unserer Branche noch diesen Kopf fürs Querdenken erhalten, und der ist so gar
nicht erwachsen, manchmal. Den brauchst du, um auf dumme Ideen zu kommen oder
für kreative Prozesse.
VSz: Nach dem Alterswerk frage ich
dann also in zehn Jahren nochmal …
Pit: Das ist eine gute Idee! Lass uns da in zehn Jahren nochmal drüber reden. Wenn die uns aus den Opernhäusern wieder entlassen haben.
Das Motto eines rauschenden Abends: pures Glück!
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Den mittlerweile in Berlin lebenden Zürcher Geiger Tobias Preisig kenne ich seit seiner ersten Platte – dem im Frühjahr 2012 auf Traumton erschienenen „In Transit“. Er wird nicht müde zu erzählen, dass unser damaliges Gespräch sein erstes Interview überhaupt war – und das, obwohl wir uns im verflixten siebten Jahr unserer Bekanntschaft befinden!
Für meine Kolumne Szirmais Fermaten in der frisch erschienenen Januar/Februar-Ausgabe des Jazzthetik Magazins durfte ich seine neue Platte „Diver“ – ein Album, so schön, dass es kurzerhand noch auf meine Critics‘ Picks-Liste rutschte – besprechen. Natürlich nicht, ohne dem Künstler vorher einmal mehr persönlich auf den Zahn zu fühlen!
Mitte Oktober sprach ich mit Preisig von unfassbarem Glück, gelernter Reduktion und der DNA des Tons – und was das alles mit gutem Techno zu tun hat, der experimenteller und avantgardistischer als Free-Jazz ist, wie sich einladende von ablehnender Musik unterscheidet und warum Spotify eine „großartige Geschichte“ ist.
Spaß beim Gespräch am 19. Oktober 2019. Foto: Tobias Preisig
Victoriah Szirmai: Tobias, ich kenne dich nicht nur von Egopusher und im Duett mit Stefan Rusconi (Levitation, 2016), sondern auch von deinen beiden Traumton-Soloplatten In Transit (2012) und Drifting (2014). Trotzdem hast du im Chat „mein erstes Soloalbum“ geschrieben, als es um „Diver“ ging. Warum?
Tobias Preisig: Genau. Also, die Platten bei Traumton, das war eigentlich mein Quartett. Im Jazz hat man ja ein Quartett, wenn man zu viert ist. Und wir waren wirklich auch ein eingeschworenes Team und haben uns eigentlich mehr als Band verstanden, obwohl es meinen Namen führte. Und darum ist es kein Soloalbum, weil du hast da vier Musiker, Bass, Schlagzeug und so fort, wo die Rollen klar verteilt sind – und „Diver“ ist wirklich ein Geigenalbum.
VSz: Das heißt, obwohl nicht „Tobias Preisig Quartett“ draufstand, war es eigentlich ein Bandalbum.
TP: Absolut, das war für uns immer so.
VSz: Und jetzt bist du das ganz allein. Wobei … Im Grunde handelt es sich ja auch um eine Kooperation, nämlich die mit Jan Wagner.
TP: Genau, ja. Aber Jan Wagner war der Produzent, der das Ganze geformt hat, und in dem Sinn: Es ist wahr, es ist interessant, die Reduktion auf solo hat mir komplett neue musikalische Wege gezeigt – aber ich brauchte doch einen Partner, um sie auf Band zu bringen. Ich hab’s alleine nicht geschafft.
VSz: Erzählst du mir ein bisschen von ihm?
TP: Gerne. Jan Wagner ist ein Pianist und Produzent. Und, wie gesagt, ich habe mein Solo-Repertoire über Jahre aufgebaut, viele Konzerte gespielt, die Musik hat sich entwickelt, sie wurde immer stärker … Und ich habe immer versucht, sie irgendwie selbst aufzunehmen. Aber ich hab das nicht geschafft. Ich hab dann auch ein Studio und einen anderen Produzenten und alles ausprobiert, es hat sich aber nie richtig angefühlt. Und dann hat Alessandro, mein Egopusher-Partner, gesagt, hey, zeig das doch mal Jan Wagner, der ist in Berlin, ist ein Super-Typ, ein Super-Musiker, zeig’s ihm einfach mal, vielleicht kann er es mischen, vielleicht kann er was damit machen. Ich hab Jan geschrieben, es hat es sich am nächsten Tag angehört und gesagt, hey, lass uns das nochmal machen. Du klingst so verloren in diesem riesigen Studioraum, die Musik … da ist noch viel mehr drin! Und dann haben wir einfach das unfassbare Glück gehabt, dass wir beide einen vollen Monat Zeit hatten, praktisch nichts anderes zu tun hatten, und uns einfach vergraben haben. Er hat mich in meinem Studio so eingerichtet, dass ich einfach am Morgen kommen, „Rec“ drücken und loslegen konnte. Und er hat das so hingebracht, dass ich eigentlich nur noch Musik gemacht habe. Trotzdem habe ich sie irgendwie selber aufgenommen. Mit ihm. Er hat mich geleitet. Aber eigentlich war es wirklich so: Ich geh rein, nehm‘ auf und tschüss. Und am Abend habe ich ihm die Sachen geschickt, dann ist er vorbeigekommen, wir haben die Sachen angehört und dann einfach so nahdisnah weiterentwickelt.
VSz: Du hast gesagt, du hattest schon mal mit einem anderen Produzenten probiert, es aufzunehmen. Wo war denn der Unterschied zwischen jenem Aufnehmen, das nicht so klappte, und dem jetzt?
TP: Es war einfach … Die Chemie mit dem Produzenten hat nicht funktioniert, mit dem Ingenieur, das war dann nur noch ein Missverständnis und eine Momentaufnahme des Live-Moments. Ich wollte das aber nicht so. Für mich ist ein Live-Konzert ein Live-Konzert, und eine Platte ist eine Platte, die im Studio passiert. Für mich ist das nicht das Gleiche.
VSz: Heißt das, du bist kein Freund von Live-Platten?
TP: Doch, bin ich sehr – vor allem im Jazz! Aber ich wollte mehr weiterkomponieren, weiterproduzieren und ich wollte irgendwie tiefer gehen als der Live-Moment geht. Ja. Und das hat wahnsinnig gutgetan mit ihm, weil alleine habe ich das nicht geschafft.
VSz: Die Musik dieser Platte ist ja auch wirklich wie gebaut, wie aufgeschichtet. Vielleicht ist das der Unterschied zwischen dem Live-Moment und der Studio-Produktion.
TP: Nein, ich kann das live eins zu eins umsetzen, das ist überhaupt kein Problem. Aber für mich ist das so: Der Live-Moment – da spiele ich mit dem Raum, ich spiele mit den Zuschauern, ich spiele mit dem Moment, ich kann extrem viel Energie reinstecken, ich kann mal wild, mal laut, mal intensiv spielen … und ich habe das Gefühl, das einen das auf der Platte komplett überrennen kann und dass es gar nicht bei einem ankommt, weil man das Bild nicht hat und den Raum nicht hat. Auf der Platte kann ich viel, viel reduzierter arbeiten, was vielleicht auf der Bühne komplett langweilig wäre, wenn ich es eins zu eins so übernehmen würde. Und jetzt ergibt sich irgendwie eine neue Mischform: Diese Platte hat mich gelehrt, noch reduzierter zu werden, was ich live eh schon ein bisschen wurde, aber eben noch reduzierter, noch konzentrierter, noch fokussierter, und live nehme ich es jetzt und fange wieder an, es ein bisschen mehr zu umspielen.
VSz: Es sind andere Energien, live und im Studio …
TP: Es sind komplett … Für mich sind es andere Energien! Ich wollte die Platte produzieren. Ich wollte mir Zeit nehmen, ich wollte neue Sachen entdecken – und für das muss man produzieren und nicht einfach auf „Rec“ drücken und ein Konzert aufnehmen.
VSz: Kann man auch sagen, die Platte als Nicht-Live-Platte ist eher der introvertierte, der Live-Moment der extrovertierte Aspekt daran?
TP: Ja, absolut! Und ja, man hat irgendwo die Möglichkeit, Neues zu entdecken, auf beiden Ebenen, auf der Bühne und im Studio, das sind zwei verschiedene Sachen.
VSz: Die Musik selbst hast du vorhin im Chat und jetzt auch wieder als „ultrareduziert“ bezeichnet. Die Presse-Info spricht von „Ambient“ und „Neo-Contemporary“. Dennoch ist sie für mich persönlich vor allem gekennzeichnet durch diesen unverkennbaren, immer etwas heiseren, stets tastenden, grenzauslotenden, nahe am Ultraschallbereich angesiedelten Ton, der immer sucht, immer im Werden und Wandeln ist … Den würde ich wohl unter tausenden wiedererkennen, und ich kenne ihn schon von deinen alten Platten. Was ist für dich der Unterschied zu deinen bisherigen Arbeiten?
TP: Wahrscheinlich ist es halt die persönlichste Platte, weil halt alles weggeschält wurde, was eben nicht dieses Suchende und dieses, was du jetzt gerade beschrieben hast, ist. Jetzt ist es eigentlich nur noch das. Und dieses Wegschälen von ah-jetzt-versuche-ich-etwas-zu-sein-was-ich-nicht-bin und hier-spielt-noch-jemand-anderes-mit-und-macht-sein-Ding – was ja auch völlig okay ist, weil der hat sein Space –, führt dazu, dass es jetzt nur noch dieser Sound ist. Und ich finde es sehr schön, dass du ihn wiedererkennst! Für mich persönlich ist er auch da, seit Jahren, er entwickelt sich einfach weiter, aber der Kern, die DNA ist die gleiche. Das Neue ist wirklich, die Reduktion gelernt zu haben, dass in wenigen Tönen eine riesige Tiefe ist. Wirklich so: Jeder Ton, der gespielt ist, ist gewollt und gemeint. Hinter jeden Ton eine Bedeutung reinstecken – das ist schon lange ein Thema für mich, und das ist jetzt einfach noch stärker geworden.
VSz: Das gibt dem ja auch diese Dringlichkeit, dieses Gewollte, oder, wie du sagst, diese Bedeutung. Kann man sagen, dass das jetzt im Grunde die Essenz, deine Essenz ist? Wenn du sagst, alles sei weggeschält? Das bist jetzt: du?
TP: Ja. Genau. Das ist das pure Öl. (lacht) Nein, nicht das Öl! Aber die Essenz, ja! Ich weiß auch nicht, ich hab … (überlegt) … ja, doch, das kann man wirklich so sagen!
VSz: Was für mich dabei auch immer mitschwingt, ist … nicht unbedingt die Barockzeit selbst, aber ihre fast mathematische Präzision. Ist die Geigenliteratur bzw. generell die Musik aus dieser Zeit eine Inspirationsquelle für dich?
TP: Wie gesagt, es hat überhaupt keine …
VSz: Bezüge?
TP: Doch, natürlich, es hat all diese Bezüge aus meinem Leben und aus meinem Umfeld. Aber nein, barocke Musik … mag ich eigentlich, aber ist keine Referenz.
VSz: Ich merke einfach … Zwischen dem ganzen Musikhören und -schreiben kriege ich den Kopf ausschließlich mit Bach’schen Cellosuiten freibekomme. Die laufen dann vier Stunden sehr, sehr laut …
TP: Herrlich, ja!
VSz: … und dann ist erstmal wieder gut. Und bei deiner Musik, also der neuen Platte, habe ich ein ähnliches Gefühl des Hirn-Klärens. Du hast da zum Beispiel dieses acht-Ton-Motiv, dauerrepetiert …
TP: Ja …
VSz: … in einem ganz strengen, formalen Korsett, und das erinnert mich an diesen barocken Geist.
TP: Das stimmt. Ich würde aber vor allem eher noch eine Parallele zu guter Techno-Musik sehen, weil: Das ist eigentlich dasselbe! Es ist sehr …
VSz: Gute Techno-Musik *ist* Barock!
(beide lachen)
TP: Genau, ja! Vielleicht ist es eher das. Barock hatte ich im klassischen Studium gelernt und auch spannend gefunden, aber Referenz wäre wirklich eher elektronische Musik, auch, wenn das vielleicht nicht gleich als Erstes zu hören ist, aber dieses Strukturierte, dieses Organisierte, das kommt vielleicht von dort.
VSz: Woher kommt denn deine Faszination für diese Art der elektronischen Musik?
TP: Das ist, wenn man in Berlin ist … (beide lachen) … gezwungenermaßen läuft man dem über den Weg! Ich fand es einfach wahnsinnig faszinierend, ich bin sehr viel ausgegangen, habe Sachen entdeckt, die ich viel, viel avantgardistischer und experimenteller erlebt habe als Freejazz-Konzerte. In totalen Clubs, also, wo die Leute tanzen, umherfliegen, driften … Ich habe da eine wahnsinnig neue, experimentelle Welt entdeckt, die mich irgendwie interessiert.
VSz: Das ist lustig, denn zu deiner Platte habe ich auch am Ende notiert: „Ich würde gern Avantgarde! ausrufen, wenn es mich emotional nicht so berühren würde“. Avantgarde ist für mich eher etwas, das einen intellektuell so ein bisschen wegschubst … Und das passiert bei deiner Musik definitiv nicht! Das ist eigentlich das Erstaunliche an ihr, dass sie beide Aspekte so sehr vereint.
TP: Das ist natürlich schön. Ich finde es schön, wenn Musik einladend ist und nicht ablehnend. Für viele Musiker mag das Ablehnende wichtig sein, mich interessiert das jetzt überhaupt nicht. Ich finde es sehr schön, wenn etwas passiert beim Zuhörer. Und dann passiert auch bei mir was. Das kann sich dann gegenseitig befruchten.
VSz: Das ist so ein Ding bei diesem achten Track. Ich dachte zuerst, eigentlich könnte das Album für mich mit „Isolation“, dem siebten Track, aufhören, aber trotzdem saugt dich dieses „Collective“ irgendwann so ein, und du merkst die ganze Zeit, da passiert was, und da passiert ’ne ganze Menge und da passiert viel, aber du weißt nicht genau, was da passiert, aber irgendwo rührt es dich an. Das heißt, für dich ist wichtig … Also, du hast es nicht auf Virtuosentum abgesehen, um die Leute davonzuspielen, sondern es geht bei der Einladung doch um emotionale Berührung?
TP: Absolut, ja. „Virtuosentum“ finde ich einen spannenden Begriff, weil man Virtuosität ja mit technischen Mitteln, mit Schnelligkeit in Verbindung bringt. Aber eine Virtuosität kann genauso einen klanglichen, verspielten Reichtum bedeuten. Für mich bedeutet Virtuosität, dass klanglich oder emotional viel möglich ist. Und das ist bei mir jetzt so. Auch bei diesem „Collective“, da passiert ja eigentlich überhaupt nichts, wie du sagst …
VSz: … aber eben doch so viel!
TP: Genau. Es ist ein Ton. Und plötzlich habe ich gemerkt: Du spielst einen Ton – und auch der ist eigentlich schon fast zu viel.
VSz: Das ist völlig faszinierend!
TP: Das ist absurd! Aber wenn man sich mal drauf einlässt und zehn Minuten so was hört, dann entdeckt man darin die klitzekleinsten Härchenverbindungen, und plötzlich wird das sooooo intensiv! Und das meine ich, das ist eigentlich die Quintessenz.
VSz: Von Virtuosentum.
TP: Dieses Suchen im Nichts kann plötzlich so wahnsinnig reich werden.
VSz: Das ist schön … „Das Suchen im Nichts“ … Eine neue Definition von Virtuosentum.
TP (lacht): Ja, genau …
VSz: Und demgegenüber die Schnelligkeit und all das, was man landläufig so darunter versteht. Man hat dich ja bei deiner ersten CD total gern mit dem Etikett des Teufelsgeigers belegt, und seitdem zieht sich das durch die Presse, die dich begleitet.
TP: Ja klar, das hat man als Geiger schnell. Wenn man ein bisschen verrückt ist oder anders klingt als alle anderen, ist man schnell der Teufelsgeiger. Und das ist auch völlig okay …
VSz: Wobei da natürlich immer Paganini mitschwingt und die Capricen …
TP: Genau, genau!
VSz: … was aber dein Album ja nun mal so überhaupt nicht ist!
TP: Das Gegenteil, ja! Aber es hat irgendwie … Ich liebe Paganini! Ich finde, er ist der absolute Wahnsinn!
VSz: Es sei denn, David Garrett spielt ihn …
TP: Ja, gut, das ist …
(beide lachen)
TP: … ein ganz, ganz, ganz schwieriges Thema!
(noch mehr Lachen)
TP: Aber eben diese Intensität, finde ich, und du hast es anscheinend auch gefunden, sogar in einem Track, wo nur ein Ton gespielt wird, das ist doch eine unfassbare Erkenntnis! Für mich.
Tobias Preisig, Diver, Quiet Love Records, 2019
VSz: Absolut, für mich auch. Diese Platte muss man durchaus noch viel öfter und vor allem bei Nacht hören! Was mich aber noch interessiert: Warum „Diver“, warum das Bild des Tauchers? Ist es, weil er eintaucht in das, was da unter der Oberfläche lauert?
TP: Genau.
VSz: Dieser flüssigen Textur begegnen wir musikalisch ja auf der gesamten Platte, titelgebend auch in „Flooding“. Ich finde, es ist sehr flüssige, sehr liquide Musik …
TP: Voll, ja. Also, der „Diver“ ist eigentlich … Ich habe immer von Eintauchen gesprochen, „lass uns in diesen Ton eintauchen“, „lass in diesen Klang eintauchen“, in diese Räume, diese Hallräume, das ist ein Riesenthema auf dieser Platte! Der Taucher war also immer schon da, und dann habe ich einen Film gesehen über Apnoe-Tauchen, das sind die, die ohne Flasche …
VSz: Ja, ich weiß, das ist meine persönliche Horrorvorstellung, ich hätte eine Scheißangst davor!
TP: Ja, ich auch! Also, ich mach das nicht. Tauchen ist gar nicht meine Welt. Aber der Film hat mich so fasziniert, weil ich solche Parallelen, emotionelle Parallelen, gefühlt habe. Die lassen sich so runtergleiten und erzählen von diesem Gefühl, wo plötzlich alles … also, am Anfang ist das so Panik-Panik-Panik, und dann, wenn man sich drauf einlässt, ist das so ein Runtersinken und ein die-Welt-weg-von-sich-lassen und dass man eine komplett neue Welt entdeckt in diesem Nichtunten. Das wird sehr frei, es wird sehr leicht, plötzlich, und man vergisst die Zeit. Und das ist so ein bisschen … Dieses Gefühl hatte ich andauernd, und so bin ich auf diesen Taucher gekommen. Es ist auch ein bisschen das Gefühl, man taucht in dieses schwarze, dunkle Meer runter und geht ganz bis zum Grund und zeigt auf diesen kleinen Stein oder diese kleine Muschel da unten. Das ist für mich diese Platte.
VSz: Das ist ja eine sehr intime, sehr persönliche Erfahrung, Eintauchen in Schwärze, um auf diesen Stein, diese Muschel zeigen zu können. Diesen nahezu unscheinbaren Ton, zu welchem sich vorzuarbeiten so viel Mühe kostet. Wenn du sagst, Jan war die ganze Zeit dabei – wie schwer ist es, so persönlich zu werden, wenn man nicht ganz allein ist?
TP: Das war halt überhaupt kein Problem, weil es einfach symbiotisch funktioniert hat. Und bei den anderen Produzenten hat es halt nicht funktioniert. Und daher musste ich das alles wegwerfen. Und das ist genau das: Plötzlich kommt jemand, und der hat, das habe ich, glaube ich, auch schon einmal gesagt, der hat den richtigen Schlüssel gehabt und das Tor geöffnet – es floss einfach alles dahin. Und es war keine Frage mehr im Raum! Ich weiß auch nicht, das ist einfach auch ein riesiger Glücksfall! Es ist einfach: Er hat es geschafft, dass es bei mir einfach … blubbert.
VSz: Du legst dich damit ja offen, du machst dich damit ja bloß.
TP: Genau. Wir hatten viele Gespräche, und es war einfach alles inspirierend. Darum wird unsere Zusammenarbeit auch weitergehen, ganz klar! Und wenn du sowas erlebst, dann ist das auch wie: Jetzt macht es Sinn, eine Platte zu machen! Davor hat das keinen Sinn gemacht. Ich habe viel live gespielt, und alle haben gefragt, warum hast du keine Platte? Und ich konnte immer nur sagen: Ich fühl’s nicht.
VSz: Das Repertoire hat sich über einen Zeitraum von drei Jahren entwickelt?
TP: Ja, drei Jahre und ich hab es nicht gefühlt. Und jetzt ist es einfach da und es macht total Sinn und ich habe keine … also, es gibt viele Fragen, aber diesbezüglich gibt es keine Fragen mehr.
VSz: „Ein Jedes hat seine Stunde“ – und das war jetzt die von „Diver“.
TP: Absolut. Das war jetzt der Moment dafür.
VSz: Sprechen wir noch einmal von Reduktion und Verlangsamung bei dennoch stets vorhandener strenger äußerer Form. Ist es so, dass dieses sehr formale Korsett dazu führt, dass man emotional freier sein kann als man es könnte, wenn die äußere Form weniger streng wäre?
TP: Also, dass man in der Stenge …
VSz: … viel freier ist als in der, sagen wir, antiautoritären Form.
TP: Ja, ich finde das absolut. Das andere ist dann vielleicht mehr punkig und chaotisch, und das ist ja auch wunderbar, das sind ja auch Sachen, die vielleicht mal in so einem Ursprung stattgefunden haben, aber dann war es mir wichtig, den eine Form zu geben, eine ganz klare Form, eine Klarheit zu finden in dieser Sprache, eben, damit es keine Fragen mehr aufwirft – aber sehr gerne beim Zuhörer etwas auslösen soll.
VSz: Ich empfinde es ja gerade dadurch als emotional noch berührender. Mir ist ein Vergleich aus der Literatur in den Kopf gekommen. Es gab im Ungarn der letzten Jahrhundertwerde zwei konkurrierende Dichter, Ady Endre und Mihály Babits. Und während der erste ein der freien Form huldigende Hitzkopf war, schrieb der andere ausgeklügelte, streng formalisierte Sonette. Babits machte sich in einem Sonett sogar darüber lustig, was seine Gegner über ihn sagten. „Ezek hideg szonettek“, schrieb er, „dies sind kalte Sonette“, aber das so formvollendet und feinziseliert, dass jeder die Überlegenheit der Form über den Freigeist erkennen musste. Ich war immer „Team Babits“. Für mich reicht es einfach tiefer, in der strengen Form die Emotion zu finden, als in der Expressivität.
TP: Vielleicht ist man auch weniger abgelenkt im Vergleich dazu, wo alles immer und überall möglich sein soll. Dass man sich da gar nicht so sehr damit befassen kann, weil man …
VSz: … diesen Ozean an Möglichkeiten hat. Und andersherum sperrt man ihn von vornherein aus.
TP: Ja, ich hab auch das Gefühl. Das meinte ich auch mit Abschälen. Mit wie-eine-Schlange-Haut-abstreifen. Sachen, die einfach nicht mehr zu dir passen – weg. Komplett weg damit! Auch wenn man sich überlegen könnte, ah, der eine Kritiker wird sagen, das ist schlecht, und die andere Kritikerin wird sagen, das ist lustig oder was auch immer, dass einfach alles von dem weg ist und nur noch Was-bin-ich-wirklich und Wer-bin-ich-wirklich übrig bleibt. Es hat sich einfach so am besten angefühlt, und es fühlt sich immer noch am besten an.
VSz: Apropos abschälen – du hast mir geschrieben, dass diese Musik nicht nur Raum, sondern vor allem auch Zeit braucht. Dabei hast du mich auf die einstündige Belichtungszeit des Coverfotos bei Nacht hingewiesen. Erzähl mir doch ein bisschen mehr davon!
TP: Der Fotograf ist ein portugiesischer Künstler, der war im Studio und hat gehört, was ich da mache – zufällig, er ist ein Freund von mir. Er ging dann, und eine Stunde später kam das Bild per Handy. Er hat geschrieben, hey, ich hab vor zwei, drei Jahren ein Bild gemacht, und diese Musik ist das Bild.
VSz: Was genau stellt das eigentlich dar?
TP: Es ist ein riesiger Stein – der westlichste Punkt von Festlandeuropa.
VSz: Ein Stein, der von oben nach unten wächst?
TP (hantiert mit dem Cover): Also, das Meer ist da, und der Stein ist so. Es ist einfach ein riesiger Stein. Ich komm gleich nochmal dazu! Das Schöne ist, es ist hier von allen Seiten beleuchtet vom Mond. Wenn man jetzt aber einen Schnappschuss von ihm macht, dann ist er immer nur partiell beleuchtet. Aber weil er halt über eine Stunde eine Langzeitbelichtung hatte, ist er auf der ganzen Breite beleuchtet. Es ist eigentlich ein irreales Bild, das gibt es so in der Natur nicht. Es ist eigentlich ein Film. Ein Film auf einem Bild. Und um das zu erreichen, hat er halt eine Stunde in der Nacht da stehen müssen, für dieses perfekte Bild. Und er hat es ein paar Mal gemacht, weil irgendwie hat es nicht funktioniert wegen des Wetters oder was auch immer, es ist halt so ein Vollmond-Ding. Und mir hat es gleich sehr gefallen, einerseits wegen der Langzeitbeleuchtung, für die man sich Zeit nehmen muss, man muss dort hingehen, man muss sich drauf einlassen, und andererseits hat mich halt dieses Steinige, dieses Kantige, in dieser Weichheit dieses Kantige, Goldige, extrem fasziniert. Ein Stein ist ja sowas Festes in der Landschaft. Trotzdem hat er ganz viele kleine Details. Und jetzt, um auf deine Frage zurückzukommen, hat der Grafiker ihn umgedreht. Weil, der hat … Wie der Taucher, taucht hier alles so ab ins Dunkel, in das Nichts. Und diese Welt wird hier ein bisschen angedeutet.
VSz: Und als das Weiche – du sprachst vorhin vom Kantigen in der Weichheit – betrachtest du die Dunkelheit, das Wasser, das da den hier gar nicht hart aussehenden Stein umspült.
TP: Genau. Der Fotokünstler heißt übrigens André Carvalho. Er macht wahnsinnig viele und wahnsinnig schöne dieser Langzeitbelichtungen. Und irgendwie war es einfach so passend!
VSz: Im Grunde macht er ja das mit Licht, was du auf dem Album mit der Geige machst: Dass du Dinge, und sei es ein Ton, in Langzeit beleuchtest. Ich finde auch, zum Schluss, auch wenn das ganze Album so viel mit Wasser zu tun haben scheint, zum Schluss hat es auch viel mit Licht zu tun.
TP: Ja, das stimmt. Schon der erste Titel heißt „Néon“! (kichert vergnügt vor sich hin, als hätte er etwas entdeckt, woran er große Freude hat)
VSz: Ich hatte noch zu „Collective“ notiert, diesem Schlussstück, wo vordergründig gar nichts, aber dahinter umso mehr passiert: „Es ist etwas jenseits von Inwortefassbarkeit, ein Spiel mit Schichten, Frequenzen, und, ja, auch wenn das mit Tönen eigentlich unmöglich ist, mit Licht. Im Grunde gilt das für die ganze Platte, die eine tongewordene Schwarzweißfotografie ist, voller flüssiger Schatten und im Moment eingefrorener Begegnung“. Und wenn du mir jetzt sagst, dass das Cover im Grunde ein eingefrorener Film ist, dann bin ich überrascht, wie das zu passen scheint!
TP: Total! Also, diese wie du sagst: Schichten in schwarzweiß, die sind nicht einfach schwarzweiß, da kann man so viel entdecken! Wenn es aber ein vollfarbiges, leuchtendes Bild wäre, wäre man vielleicht auch überfordert und könnte darin weniger entdecken!
VSz: Die freiwillige Selbstbeschränkung der Form!
TP: Ja, Weil man dann einfach sagt, meine Aufnahmekapazität ist voll. Und darum finde ich die Schwarzweißparallele sehr schön.
VSz: Und dennoch muss man sich darauf einlassen, weil sonst sieht man nämlich nur schwarz und weiß und sonst exakt nichts, und sagt, jo, ganz hübsch. Auf dem Lied passiert halt sechs Minuten lang ein Ton – was soll mir das sagen?
TP: Genau. Und das werden viele sicher machen. Das wird nicht überall funktionieren. Aber die, die sich darauf einlassen, die haben plötzlich Platz, sich selber und ihre Welten und ihre Gedanken darin entfalten zu können. Es hat halt viel Platz, das Album.
VSz: Und das willst du auch, dass die Zuhörer sich ihre eigene Welt darin entfalten.
TP: Unbedingt! Ich glaube, das Gegenteil wäre, wenn man jemandem etwas aufdrückt und sagt, du musst dich jetzt glücklich fühlen, du musst dich jetzt schlecht fühlen …
VSz: Programmatische Musik!
TP: Zum Beispiel, ja. Und das ist überhaupt nicht das. Es ist diese Welt – und die hat so viel Freiraum. Ich meine, es kann sein, dass jemand kommt und sagt, dieser Song mache ihn so glücklich, und der andere sagt, er mache ihn total traurig. Weil er sie beide an etwas ganz anderes erinnert.
VSz: Und das ist für dich okay.
TP: Das finde ich super, weil ich hab keine Lyrics. Ich erzähle eine Geschichte, aber die ist eigentlich so abstrakt, weil ich ja nicht sage, ich gehe die Straße runter und geh dort in den Coffeeshop und hab Herzschmerz dabei – nichts von dem. Und doch ist das alles drin, wenn’s irgendwie passt.
VSz: Kommen wir noch einmal kurz auf das Äußere der Platte zurück: Am Anfang war diese Musik gar nicht für CD, sondern nur für Vinyl und digitale Veröffentlichung bestimmt. Warum?
TP: Das Label ist ein junges Schweizer Label, Zürcher Label namens Quiet Love Records. Und das sind zwei Leute. Es ist heutzutage irgendwie zeitgemäß … die haben keine großen Budgets und so, um die CD auf der ganzen Welt rumzuschicken. Und der Effekt, dass man in den Laden geht und das kauft, ist eigentlich vorbei. Wir haben dann gedacht, hey, CD, das hört eh niemand mehr, das will eh niemand mehr und haben sann gesagt, Vinyl und digital. Das kann man bestellen über Bandcamp, die Bestellungen kommen direkt zu uns, wir profitieren, wenn jemand das wirklich will – und sonst kann man das ja digital überall haben. Und die CD habe ich dann gemacht, weil ich gemerkt habe, dass ich doch ziemlich viele Leute ausschließe. Weil, ich habe gemerkt, in meinem Umfeld, auch mit dir zum Beispiel, wann kommt das physische Exemplar? …
VSz: Aber ich nehme ja auch gern Vinyl!
TP: Natürlich, das kommt noch. Es ist noch nicht da. Aber ja … Ich hatte das Gefühl, es sei zeitgemäß. Ich hatte überhaupt keine Lust, zweitausend CDs zu machen und die dann irgendwo zu stapeln, bis man die verkauft.
VSz: Auch kein Booklet und gar nichts …
TP: Nein, ich finde das irgendwie unökologisch, ich find’s komisch, ich finde, es ist vorbei.
VSz: Das heißt, die Entscheidung war dem Zeitgeist, der Ökonomie und Ökologie geschuldet, aber eigentlich keine künstlerische Entscheidung? Dass du sagst, diese Musik kann man nur von Vinyl hören …
TP: Nein, weil … nein. Ich finde, die Leute sollen die Sachen so hören, wie sie’s wollen. Ich bin überhaupt nicht dogmatisch, von wegen, man soll es nicht digital runterladen, man soll nicht nur einen Song hören und so. Die Leute sollen machen, was sie wollen und was sie fühlen! Es war einfach eine praktische, ökologische Überlegung. Ich finde, es ist ein bisschen vorbei mit dieser CD. Ich selbst habe keinen CD-Player mehr.
VSz: Tatsächlich nicht?! Aber findest du es nicht schade, wenn gerade Musik, die diesen großen Raum aufbaut, und an einer Stelle hatte ich das Gefühl, sie baue nicht aus tausend Sternen, sondern aus kargen Tönen einen Dom, dass die dann komprimiert wird auf das MP3-Format? Dass man die nicht wenigstens als FLAC-, wenn nicht als WAV-Datei hören sollte?
TP: Das! Ist! … Ich behaupte, ich hör’s nicht. Die Leute sagen, sie … also, viele, die sehr, sehr tief in Musik gehen, die hören das – ich persönlich hör’s, glaub ich, nicht. Wenn du mit mir einen Blindtest machst, würde ich die beste, hochauflösendste MP3 und die WAV wahrscheinlich nicht auseinanderhalten können.
VSz: Das möchte ich bei einem Geigergehör kaum glauben.
TP: Vielleicht schon – ich hab es einfach noch nie ausprobiert. Aber ich finde – klar! Wenn jemand Freude daran hat, eine gute Anlage hat, gute Kopfhörer hat, dann soll er sich das unbedingt in WAV holen. Wenn man bei Bandcamp das Album kauft, kann man es als WAV herunterladen. Bei iTunes glaub ich auch. Bin gar nicht sicher! Nur Spotify ist total MP3. Streaming.
VSz: Spotify benutzt man ja auch nicht. Aber das ist ein anderes Thema, Oder was sagst du als Künstler?
TP: Bin ich ganz anderer Meinung! Ich persönlich finde es eine großartige Geschichte. Wahrscheinlich bin ich da einer der wenigen, die in der Jazzthetik auftreten und diese Meinung haben …
VSz: Um nicht zu sagen: der Einzige!
TP: Weil es eben auch wieder Leuten die Musik erhältlich macht, die sonst nicht darauf kommen würden.
VSz: Dir geht es um Zugänglichkeit.
TP: Total! Ist doch schön! Also, wenn jemand irgendwo in der Pampa draußen den Titel vorgeschlagen bekommt und mich dadurch entdeckt – ich meine, das ist doch großartig!
VSz: Aber … das Albumkonzept!
TP: Ich finde, sogar wenn sie nur einen Track hören, ist das cool. Ich finde es toll, wenn man die Platte im Ganzen hört, aber auch, wenn man nur einen Track hört, finde ich das total okay. Das muss jeder für sich selber entscheiden. Um die Frage zu beantworten, warum wolltest du erst keine CD machen: Es ist absolut cool, wenn jemand in Brasilien sitzt und den zweiten Track hört und das dort teilt – großartig! Für mich ist das nur positiv. Ich finde es eine schöne Sache. Natürlich, die Industrie leidet, aber es werden neue Sachen kommen, die werden sich arrangieren. Dann werden halt die CD-Läden vielleicht ein bisschen kleiner, dafür gibt es dann aber Liebhaberplattenläden, die viel pointierter sind als das Saturn-CD-Zeugs. Ich glaube, die Menschen sind klug genug, die machen sich ihren Weg, man muss ihnen das nicht vorschreiben.
„Diver“ in der aktuellen Ausgabe der Fermaten. Danke an Christian Bohn für das nette Foto!
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Für die November/Dezember-Ausgabe des Jazzthetik-Magazins hatte ich die Gelegenheit, mit dem gerade aus seiner Heimat nach Berlin zurückgekehrten australischen Pianisten Paul Hankinson zu sprechen. Diesem bin ich erstmals begegnet, als er Ende 2017, Anfang 2918 seine „Echoes of a Winter Journey“ veröffentlichtlich hat – eine Hommage an Schuberts Winterreise von einer unfassbar fragilen, stillen Schönheit. Eine Musik, die einen begleitet, wenn man nachts auf dem Fußboden liegt, nicht mehr denkt, nur noch fühlt, und dabei selbst Resonanzkörper, wenn nicht gar Klang wird.
Hankinsons heute auf Traumton erschienenes „Dear Emily“ ist eine Fortsetzung dieses Gefühls, dabei aber noch viel mehr: Denn anstatt das Album einem weiteren Komponisten zu widmen und mit dessen musiklischen Ideen zu arbeiten, geht es von klangfremdem Material aus – der Dichtung Emily Elisabeth Dickinsons. Paul Hankinson über die Geheimnisse einer Dichterin, emotionalen Exorzismus, Menschen, die via Telefonanruf in die eigene Privatsphäre eindringen und wie einen der Ozean an Möglichkeiten schon mal regelrecht verschlucken kann.
„Notenbüchlein für Emily Elisabeth Dickinson“, Jazzthetik, November/Dezember 2019
Victoriah Szirmai: Your new record is called Dear Emily. My first dog was a very dear Emily to me – who is your “Dear Emily”?
Paul Hankinson: Emily Dickinson, the American poet. She’s always been
inspiring to me. I kind of encountered her poetry first through songs, songs by
Aaron Copland. He set twelve of them to music. And I was working with one of my
best friends, Fiora, who is an amazing singer, and we did these twelve songs by
Copland. They’re kind of amazing, the music is incredible, but I guess not for
everybody. It’s kind of a little alienating in its kind of 1950ies modern
classical way, but what stayed with me where those words. I was so … kind of
stunned! By the words by Emily Dickinson, and then I kind of read more about
her and got to know other poems and realized, actually, that … more and more I
started to realize I don’t want them set as songs because – and I think with
any good poetry – the silence around the words is
actually very important. And they kind of have their own music.
VSz: What exactly is it about Emily Dickinson that
fascinates you?
PH: Emily was fascinating to me because she was always
sort of depicted as this hermit, this woman who in the last ten years of her
life would only wear white, and so she felt a little like a ghost, kind of haunting
this house. And I read a lot of literature about her which really painted her
in this way, as a complete recluse who had no kind of human contact.
VSz: But she lived with her sister, didn’t she?
PH: This is the thing! And then I read more, and I
thought, well, a true kind of recluse doesn’t live with their sister. And she
still had friends. She communicated mostly through writing letters, but it
wasn’t that she hated humanity. She didn’t really separate herself; she had a
great love of people. And nature, especially. There’s a lot that she writes
about nature. So she experienced the world! I don’t think she wanted to hide from
it. But she was also obviously very sensitive. When people visited the house
she would talk to them from behind the door or with the door a little bit open,
and sometimes when people would come to play the piano she would just listen
from her bedroom. But she would always leave cookies on the piano stool, or a
cake or some flowers or something to say thank you. So, I think there was
always … there’s a kindness in her which is not … She’s not cold, to me. But
what kind of amazes me with her is that she did kind of separate herself in a
way from her time, I think the time she lived in, especially as a woman at that
time, to write the way that she wrote. It feels so modern! I can’t … I can
never accept that she’s born in 1830, it doesn’t make sense to me. And in that way,
she reminds me of Beethoven, that last musical Beethoven after he went deaf,
the last few years of his life. I think when these kinds of creators are
separated somehow – like he through his deafness and she through choosing to
not get married and not live a kind of “normal” life for that time – I think it
makes their work kind of … modern. They seem to jump a hundred years into the
future. And I love that about her. But mostly I love that sometimes I really
get the feeling that I’m reading words from a friend. My connection with it is
very personal. I mean of course, my brain loves words and I love some of the
phrases she uses, they wouldn’t ever come from anyone else, but then there’re
these little moments of humor and of warmth that feel like some sort of
friendship. Which is beautiful to me.
VSz: Does this fascinate you about her as a poet or as a
person, as well?
PH: I think it’s both. When the time came to think about
making a new album after “Echoes of a Winter Journey”, Stefi and I where
talking that we wanted to do another one just with piano because it’s practical
in a way for doing concerts and for me it’s also nice to go back to just
playing piano trusting that’s kind of enough. It was for quite a lot of years I
was kind of adding all these other instruments and singing and doing a lot of
things on top of my piano playing just not ever thinking that that was enough
for other people. And so it’s been kind of a relief to go back, too. Because
where I feel kind of most authentic in my kind of expression is something I’ve
been doing since I was three years old, so it’s like talking. It’s actually
easier than talking! My most favorite way of communicating is somehow through
that instrument.
VSz: Will “Dear Emily” be your second solo piano album?
PH: Yeah. And so of course we thought of using another
composer, but then it just felt like a gimmick or like a trick …
VSz: Like a sequel!
PH: Yeah. I didn’t really … want to. Also, it didn’t
really feel … I did try. I tried with some Mozart, I tried with some Beethoven
and I tried with some Haydn and some Schumann but nothing felt … I think the
reason the Schubert worked it is that same thing: It feels modern. When you
take those little rhythmic ideas out of the context of the kind of drama of the
way that classical music develops and just take it on its own and extend it, it
feels very modern and that’s what interested me about Emily Dickinson as well:
This feeling that her work is still very now and very present.
VSz: Maybe the closeness of Schubert to Dickinson lies in
the fact that the Winter Journey has text as well and you worked from the text
and not from the music
PH: Yeah, exactly! I guess I did, that’s true. I’m always
inspired by text. As well. I guess I also write … I wouldn’t say “poetry”, but
I definitely write songs. I don’t think I have ever written anything I would
class as poetry (laughs), but I like words! I love writing them, I love sort of
wrestling with them. You obviously do, too.
VSz: I do, too, I have even started to write songs again
after a decade-long break. Yeah.
PH: Yeah. And so then … yeah, I was trying to … I then
dismissed the idea of using another composer. But I did want to use somebody
because I like to make an album which has something underneath it or something
flowing through it. It didn’t want to write ten nice piano pieces, it doesn’t
feel … strong … to me. And I was thinking about Emily Dickinson, but I didn’t
really feel enough of a musical reason to do it. But then I did wake up one
morning wondering if there was a piano on that house. And it’s weird that I
liked her work for so many years and I never wondered about a piano in her
life! And I thought that big old wooden-floored, dusty house …
VSz: Have you ever been there?
PH: I’ve never been there. I haven’t been to that side of
America at all but I thought there must have been a piano in that house and
then I had this whole kind of fantasy going on about Lavinia, her sister,
playing the piano and Emily in her bedroom writing poetry with that sound of
the piano in the distance. And I thought that would be a nice kind of feeling
to have on the album. But then I started reading about it and found out that
Emily did play the piano and that there definitely was a piano in the house,
and it sort of played a role in her life. And then I thought that’s for me a
much nicer reason to make the album kind of … It is about her and her life and
her work but also in a way
it’s more about the life of that piano that lived in the house with Emily
Dickinson. And sometimes she played, and sometimes other people played. So I
became more interested then in the piano and what was played on it.
VSz: Do we know where it was located? I imagine a
two-story house with the piano on the ground floor and Emily listening to it
from her bedroom upstairs.
PH: Yeah, exactly. The piano was downstairs, and her
bedroom was up. Upstairs. And so I was able to find in the Harvard Library her
own piano book which had all the sheet music that she had bought during her
life …
VSz: In her own handwriting as well?
PH: Yeah, so you can see sometimes when the notes are
high, instead of having what we call ledger lines, she writes the names of the
letters of the notes like C, E, F – and I do that, too. (laughs) I still do
that! I mean, I have been reading music for years but I …
VSz: I do that, too!
PH: It’s not really the best system of musical notation
but it’s … It was nice to see that she does that as well. And it was also
interesting that she played a lot of kind of folk music like Irish folk tunes.
I mean, in “The Last Rose of Summer” I reference a few times on the album but
that was in her piano book, and this piece called “Beethoven’s Dream” which I
then kind of turned into being inspired by the “Moonlight Sonata” because I
read in a letter about a time that a young student from the conservatorium came
and played that in the house which was kind of … It was like a dream come true,
when I read that letter. Because I had always imagined that music, the
moonlight, somehow wafting in that house and then to find out that it actually
did happen was kind of exciting. And when I first was thinking about Lavinia
playing the piano before I found out it was actually Emily, I imagined Haydn
for some reason. There’s this little moment of Haydn which I put on the album.
But my first kind of fantasy was like Lavinia playing it, and then I found out
later that this Lady named Mabel Loomis Todd – who has actually ended up being
one of the first people to edit Emily’s very first volume of poems and I think
they shouldn’t have edited them maybe as much as they did, but, you know, it
was a different time, and at least they got her work out, at least it got
published! – she wrote that she would play Haydn and Chopin and Scarlatti. And
so then I thought I can put this Haydn piece on there because I don’t know that
she played that exact piece but I do know that at least she played Haydn. And I
just loved the idea of Emily listening, you know, up the stairs and through the
walls to this kind of muted piano music. And also her cousin, John, wrote about
how she would improvise at night this “heavenly music”, and I would give anything to hear a
recording of what she played. So a lot of the album is kind of projection and
fantasy and … yeah, I guess, creating my own little world inspired by or based
on, but it’s … I mean, none of this is super real it’s kind of just
making a little world.
VSz: Would you say it’s like a letter to her or a letter
exchange with her, a dialogue, maybe?
PH: A conversation? I’d like to think it’s like a
dialogue. It’s definitely … I definitely think there’s a feeling of friendship.
Or I would hope. I mean I can’t say for sure that she would want to be my
friend but I would definitely want to be her friend! And so I don’t want it to
feel like all kind of brainy and intellectual. It’s something I was afraid of
also with the Schubert album that it feels a little like … it can feel a little like an
exclusive club, you know, to base something on classical music or to base
something on poetry. And I really don’t want it to feel like that. I
think the things in her poetry which kind of struck me are really the things
that everyone would really relate to.
VSz: Would you say that the album works for every listener
– even those who are not familiar with her poetry at all?
PH: Exactly. Even if you listen to it thinking of your
first dog. I think anyone can project anything they want to. For me, it just
really helps when I’m writing to have something running through everything and
also to have something which
kind of limits my ideas. Otherwise, I just get overwhelmed with so many
possibilities.
VSz: As some kind of self-disciplining?
PH: Yeah, there’s a kind of focus which I really need.
Otherwise I can’t even start. I
just get sort of too swallowed up by, you know, the ocean of Möglichkeiten.
I think that happens to everybody, it’s not just me. But for me it helps to
just have a limited number of things I can work with.
Foto: Stefanie Marcus, Traumton
VSz: Let’s go back to the idea of a letter exchange
between Emily and you. I think this form of communication would really please
her because in contrast to a real dialogue where you are forced to react
directly, on the point, in real time, a letter exchange gives you the freedom
to choose when and how to react, it allows you to take your time. Maybe that’s
why I also prefer texting and messenging over phone calls and face-to-face
talks.
PH: Oh yeah, me too. I feel the same! It suits me much
more to write. I mean, now we’re writing emails but definitely this kind of
letter writing much more than … I mean, a phone call always gives me a kind of
panic attack when I see my phone ringing.
VSz: You also see your phone ringing instead of hearing
it? The second-best idea of my life was to turn my phones off. Maybe by chance
I see if somebody tries to call me, but usually I don’t. So, you can’t reach me
directly, which I prefer.
PH: Yeah, me too.
VSz: I really hate it if …
PH: It feels so aggressive!
VSz: … somebody breaks into my life! Even if I just happen
to be on the sofa, reading the newspaper …
PH: Yeah! It’s violent, right?
VSz: It’s passive-aggressive!
PH: I agree!
(both laughing)
VSz: Furthermore, I would never call somebody apart from
their offices.
PH: I understand. But even then I have to build up the …
I have to pace up and down a little bit … to get ready to make the call.
VSz: I just don’t want to break into people’s privacy. You
never know what they are doing in the very moment you try to call them. Maybe
they are just having a deep conversation with their partners or something …
PH: Sure!
VSz: And then the telephone rings and you are like, oh hi,
I wanted to talk about this and that, but you don’t know if it really suits
them
PH: I agree, absolutely! But to answer your initial
question, I think it is more like an exchange. Because I think … you know, some
of the pieces are based on a line of the poetry which feels like one kind of
idea from … and then another one will be based on the piano piece that she
played and another one on a piano piece somebody else played in the house. So there
are different kind of elements to this conversation that I guess I’m commenting
on.
VSz: But she’s not commenting back
PH: No, not really. But in a way, yeah.
VSz: Yeah. Your album opens with the „Mighty Autumn
Afternoon“ – is this related to her Indian Summer poem, where nature’s decline
is symbolized by the last communion („Oh sacrament of summer days, Oh, last
communion of the haze“)?
PH: No, it’s another poem, but I love that one, too! It’s
from a poem that starts “Going to Heaven!” And I think out of all of her poems
it’s the one which moves me the most, in a way, because she is talking about
this idea of going to heaven and the fact that her parents believed that that’s
what would happen after they died. And it’s a kind of poem where she’s
wrestling with the idea and in some moments – it’s so beautiful! –she loves the
idea, she says “If you should get there first/Save just a little space for me/ Close to the two I lost”,
so she’s talking of her parents, and then she says “The smallest »Robe« will
fit me/And just a bit of »Crown«/For you know we do not mind our dress/When we
are going home”, and I love that line so much because it’s so true; I always
dress kind of like comfortably on the plane and I just think like mom and dad
don’t care what I’m wearing because, you know, it’s just … that feeling of
going home is so beautiful. But then, after a while … so, the start of the poem
is all of these lovely ideas of going home and seeing them again, and then
after a while she starts to reject the idea for herself, she says “I’m glad I
don’t believe it/For it would stop my breath/And I’d like to look a little more/At
such a curious Earth!” And then the last lines of the poem “I’m glad they did
believe it/Whom I have never found/Since the mighty Autumn afternoon/I left
them in the ground”. And it has always moved me. I mean, my parents are still here,
and I feel really lucky that I have this kind of really nice friendship with
them now, but … yeah, it’s such a … I just feel … I feel that line “since the
mighty Autumn afternoon”, I can sort of see the … trees, the …
VSz: Comfort?
PH: Yeah, there’s comfort, there is this power, there is
this sort of strength out of the earth. There’s comfort but there’s also a kind
of … for me, a kind of terror, because I know it’s coming …
VSz: I mean that there’s comfort to know the parents
believed in an afterlife, in their happily ever after …
PH: Yes, right, exactly, that’s it!
VSz: So, they were just fine. The ones whom they left
behind where not, that’s the terror about it.
PH: Yeah, that’s true. And I originally … I was … When I
first started thinking about the album, I wanted to call the whole album “Since
the Mighty Autumn Afternoon” because I think that was such a strong feeling!
But for me now it’s a nice way in because I thought so much of trees, I thought
so much of the movement of wind and those leaves kind of rustling and big, big
old trees like oak trees … There was a big oak tree in her backyard, so she
would look at it from her window, and it’s still there right now, and I think
that tree, even though I don’t reference it directly on the album, it was
really in my head and heart a lot, kind of feeling these old trees who knew her
but they are still there, you know what I mean?
VSz: Like everlasting witnesses?
PH: Yeah, somehow.
VSz: What I think is interesting: You talk about the
might, the power, but the music is so very gentle, so minimalistic, it breathes
so much space … this first, long-held note, I think it must be a B paired with
a lower third …
PH: Yeah, a G sharp and a B.
VSz: But not the G sharp that is three notes lower than
the B but …
PH: … ten, yeah.
VSz: An interval that will re-appear on the seventh track!
PH: Yeah, it comes back.
VSz: Let’s talk about this a bit later. Just speaking
about all this power and might and blowing winds and rustling trees … and then
you have this very minimal musical approach … how …
PH: It’s minimal but it feels big. I mean, to me, those
two notes feel … massive. Even if it’s just two notes.
VSz: Really? They feel so fragile to me!
PH: Yeah, it’s fragile as well, but it’s like … there’s
another poem where she talks about “I felt a Funeral, in my Brain”, that’s the
first line. I mean, who writes that?
VSz: Oh, I feel that every day! (both laughing)
PH: Yeah, you feel it but you don’t write it down.
(laughs) And after a little while she says, “Then Space – began to toll//As all
the Heavens were a Bell”, and so I think of that feeling where there’s suddenly
bells in space … And for me, I don’t know, there’s something in those two notes
which is kind of … there’s
space between them and space around them.
VSz: A lot!
PH: Yeah. It never … I mean, it sounds like two notes,
but it doesn’t feel like two notes. To me.
VSz: At first, I thought, it was just one single note. And
just then I started to hear the harmony. And I was amazed, because then I
thought the harmony would just appear on the seventh track and the opener would
still be a single tone, until I realized that the harmony has been there right
from the start. The B is very dominant, you don’t really hear the G sharp
unless you haven’t tried to play it yourself.
PH: That’s interesting, yeah.
VSz: But I mean I don’t suppose the everyday listener is
going to jump straight to their piano to check on the notes …
PH: Don’t believe that, either! (both laughing)
VSz: But I still think that keys or better, modes, are
very important because each comes with their own character.
PH: Yeah, for me, too. They really do. I mean I’m not
like … I don’t have synesthesia. where I
see colors, but it feels like colors. I think they definitely have … I’m definitely
sensitive to which Tonart I’m in and which Tonart I choose for things and it’s
always based of a kind of instinctual feeling that it can’t be anything else.
VSz: For me, it’s not only that those modes feel
differently, it’s also a lot about their historic attribution. For example, I
just came up with a song in B-major and was told that b-major is no good, it’s
an evil Tonart …
PH: Because B was the devil, yeah. When I bring it back,
later in the album, on the seventh track, you said?
VSz: Yep!
PH: Then I deliberately halfway through the piece
modulate it down to B flat and G. And I think I wanted to make peace with that
beginning. I wanted to bring … I feel that once it goes down a half tone it’s
warmer and gentler.
VSz: Yeah.
PH: I feel that beginning is very confronting, for me
that G sharp minor is very bright and very …
VSz: Alerting?
PH: Yeah.
VSz: Even if it’s so fragile it’s like a wake-up call.
PH: Yeah, it’s sharp. And then I don’t even know if
people will notice that it drops – it’s kind of strange the way it modulates
but then that same thing comes back, and for me it’s now suddenly peaceful and
welcoming. And then I wanted from that moment for the rest of the album to have
that kind of … to me, it feels more … personal.
VSz: It’s very interesting that you divide the album into
the first seven pieces and the rest. I also had the feeling that with the
repetition if the opening interval a circle was closed which means the first
seven pieces for me feel like an album in the album and the rest is like an
appendix, like a b-part or something …
PH: That’s interesting, that makes sense!
VSz: And I have to admit that the b-part doesn’t speak to
me a much as the a-part. For me, the album would be finished after seven
tracks. Is this something you had in mind while creating it?
PH: That’s interesting. I didn’t really think about it so
consciously but when you say that it makes sense to me. I mean, I did, I did
that. I did that modulation and I did do that on purpose and I also feel like the second half
of the album is … uhm … is less challenging. I guess that’s kind of on
purpose. I don’t know if this is good or not.
VSz: “Less challenging” is nicely put. When I am reviewing
an album, I always take some kind of track-by-track notes; and two of the
pieces of the second half really left me kind of clueless, so the only thing
I’ve noted down was a big questionmark.
PH: Which two?
VSz: Let me just check. I have my interview here and – oh
yeah, over here is what I call “Rezinotizen”.
PH: You’re so cool!
VSz (laughs): Thank you! (both laughing) It’s the ninth and the eleventh. “The Last Rose of Summer” and “I Will Forget the Light”. Oh, and there’s another one, “The Warmth He Gave”, which didn’t give me any warmth at all or at least the warmth couldn’t get through to me … This is the first piece on the album that gets really loud but I didn’t experience any warmth at all listening to it.
PH: It’s from a poem where she talks to her heart. She
says “Heart, we will forget him!/You and I, tonight!/You may forget the warmth
he gave/I will forget the light.” So that’s the kind of deal she’s making.
VSz: Then it makes sense that the warmth doesn’t reach the
listener. It’s about forgetting the warmth!
PH: I think it’s a little on purpose, yeah. She’s trying
to have distance and trying to actually be a little cold in order to forget
somebody.
VSz: And this is exactly what the piece does: keeping its
distance and acting a little cold. I’m not sure if this goes for all listeners
but this is what I experience.
PH: And then at the end she sort of tells her heart to
hurry and forget because if it takes too much longer then she will remember him.
So … yeah. It was tricky, those two pieces. I think the distance is on purpose
because of what she’s wanting to do. But I guess the danger is that … yeah,
that the listener will be wanting to feel the warmth because …
VSz: Because he’s expecting it after reading the title?
PH: Yeah, maybe. I did think about … I wanted to use
those two lines, those two tracks next to each other because it’s the first
time I actually used two lines from a poem in succession. But I knew there was
a danger in not putting the first line “Heart, we will forget him!” because
that’s really the feeling in both pieces. I actually did feel these things in
the past and I don’t want them anymore. I don’t want to be haunted by them.
Victoriah Szirmai & Paul Hankinson. Foto: Doppelselbstportrtait der Autorin
VSz: So, these pieces work as a kind of emotional exorcism for you?
PH: “Emotional exorcism” is good. Yeah, that’s the
feeling of it.
VSz: And this might be the reason why it doesn’t suck you
in as a listener, because it’s the artist’s emotional exorcism and not your
own. It stops right in front of you and you watch it and say, yeah, it’s nice
but what exactly has this to do with my life? The other pieces come much
nearer; they touch you, they don’t stop right in front of you.
PH: It’s nice to talk to you about it because I … I
haven’t really with anyone. Who has listened to it.
VSz: There’s another piece which is called “The revery
alone”. Does the “revery” here cite Dickinson’s poem in which she creates a
prairie out of a bee and clover and a daydream?
PH: Yeah, it’s this one.
VSz: “To make a prairie it takes a clover …”
PH: “…and one bee …”
Both: “One clover, and a bee/And revery/The revery alone
will do/If bees are few.”
VSz: So nice!
PH: This is really one of my favorite poems because it
has humor.
VSz: You could read this one even to children!
PH: Exactly, yeah. And that’s what you do … You do
encounter that often in her poetry but in that poem it’s so … that gentle humor
and that warmth and … I love that poem! Because for me, it’s about creativity.
And accepting that we’re not always gonna have all the ingrediencies …
VSz: For whatever we plan to do.
PH: Exactly. Yeah, so it is that revery from that poem.
VSz: The patient listener will be surprised by a hidden track.
There are about ten minutes of silence and then … yeah. Can you tell me a bit
about it? What is it called, why is it there – just everything!
PH: The name of it is “Toward eternity” which comes from
one of her probably most famous poems: “Because I could not stop for Death/He
kindly stopped for me”, and the last line of the poem is “the Horses‘ Heads/Were
toward Eternity” and that’s this feeling she’s going off.
VSz: Into the sunset.
PH: Even beyond. “We passed the Setting Sun”. And keep
going.
VSz: Like the closing scene of a western where the lonely
hero on his horse disappears over the horizon.
PH: Exactly, the silhouette of the chariot. It’s quite
incredible, that poems, because also in the rhythm you can feel …
VSz: The horses?
PH: The horses and the chariot rocking … it’s amazing.
But I … originally, I planned for it to be the last track on the album but then
I didn’t really like it. It felt too much.
VSz: You just did not want to have a thirteen-piece-album.
PH: Yeah, somehow. I don’t know.
VSz: Because it’s an unlucky number?
PH: No, I just felt when I listened through it all, it’s
enough. I didn’t have the patience. When that one started, I really sort of
felt a bit like, you know, “not another!”. It might have just been my mood on
that day but I wanted to reference the song “There is no Place Like Home” –
“Home, Sweet Home” is the name of the song, but the last line is “there’s no
place like home, there’s no place like home”, because I think it was in her
piano book and so I knew that she played it. It’s a really old, beautiful
little song and so that melody is in the left hand and I have the kind of
pattern from “Will No One Guide a Little Boat” there. I wanted to tie it all
together with this piece, and then come these chords which are kind of like the
organ referencing this kind of heaven idea again … I think I tried to do too
many things with that piece and I was trying to be very … sort of artist in the
last phase of the work and just cut it. And then Wolfgang, the Tonmeister … he
liked it! And he said let’s make it a silent track. And I did like that idea
because … not even of that piece especially, but just the idea of a silent track on this album I liked,
because there was something so secretive about Emily and the way she worked
and the fact that so much of her work, most of her work, was discovered after
she died. After she died, Lavinia found in her bedroom nearly one thousand eight
hundred poems, all hidden in shoe boxes. Or sometimes she would put the pages
in between two pages of another book and then she sewed the pages together, so
this is the level of secrecy we are talking about. I love it! And so … yeah,
they discovered all these poems. And so the idea of a hidden track was nice.
And I did want this “Home, Sweet Home” song to be referenced because I think it
was nice for me to find it in her book because when I was young I used to play
piano at this old people’s home just around the corner. Every Monday night I
would go there …
VSz: Because they had a piano?
PH: They had a piano and they would have these kind of
variety concerts and I would, you know, get dressed up in my suit and so there
and play these old songs that they would all sing to. And that was one of the
songs. And I always really loved it, I loved their shaky voices singing it, you
know? And so I guess it was nice for me to remember that but also to realize
that she had played it and that it meant something to her. I mean, it’s a
little cliché, a reclusive person who stayed home who loved this song about
home … but for me, I didn’t want it to feel like that. It’s more about this
idea of home more than the building itself.
VSz: Like she refers to death as going home as in “For you
know we do not mind our dress/When we are going home”?
PH: Yes. Yeah, that’s right.
VSz: Which closes another circle from the very first song
to the very last hidden one! Would you call the pieces of the album “songs” at
all or would you prefer to refer to them as “pieces”?
PH: I would call them pieces.
VSz: Ans if you had to choose between these two – would
you describe yourself as a Jazz-loving classical piano player or a classically
trained jazz piano player?
PH: I think just a piano player. I started to play piano
when I was three, just by ear. Just sort of played things that I heard, and I
played everything! I mean, as a three-year-old I’m not thinking, is this Jazz,
is this Classical, is this a tv commercial or is this a piece from my favorite
tv show. And quite often I was just wanting to play what people liked, so I
would ask people what their favorite song is and get them to sing it to me and
work out how to play it, and I didn’t really start having lessons until I was
six, and I didn’t get into classical music really until quite a lot later, like
fourteen, fifteen, I think. Then I became incredibly geeky about classical
music and fell in love with it. Jazz I came to even later, and I still feel
like I could never call myself
a Jazz pianist cause I would feel like a fraud, like an imposter, even
though I have always improvised and all of my work is based on improvisation, I
never feel like I … I don’t really use what would be commonly called Jazz
harmonies …
VSz: … phrases …
PH: Yeah, that’s not really in my language that I use. I
do have a huge appreciation for it and my brain really likes it. Somehow, when
I come to write this music, I find those harmonies too strong. I tend to
dismiss also things which feel very classical, I throw them away as well. I
tend to go to this kind of meditative or very simple language; I’m not sure if
that’s good or bad (laughs)
VSz: Simple in a sense that what you are actually playing
is just as important as what you are not playing?
PH: Yeah.
VSz: So, it’s about the silence …
PH: Yeah, it has a lot to do with silence. And the space
between things. I think as I get older, my mind really appreciates that. In
music, but also just in life. These moments where we can actually breathe out
and reflect. And the space around things. When I was younger, I wanted
information. I wanted those jazz chords and I wanted symphonies, and I wanted
development, I wanted ideas to be going somewhere. My brain was always switched
on in that way. And now, I don’t really want an idea to take me down this crazy
road. I just want to sit with it for a little while until I feel that I know it
or that I’m peaceful with it, somehow.
VSz: Because of the information overkill that surrounds and
overwhelms us every day nowadays?
PH: Maybe. Maybe it’s a reaction to that. I think when I
was very little, playing the piano … I wouldn’t have ever used words like
“meditation” or “therapy” or “hypnotical”, I did not ever put a label on it,
but it was that for me. I would just improvise for … I don’t know how long,
maybe an hour …
VSz: In an attempt of self-therapy …
PH: Yeah. And I think for me, even as a kid, it was … it
made me calm. I was always calm after I played the piano. And I think that
feeling comes back around now, at this point in my life. I appreciate it,
somehow. It is like a kind of therapy. And I think what I liked about putting
that “Echoes of a Winter Journey” album into the world, what felt good about
sharing it, is that people would tell me that it was like that for them, that
it was a moment of peace in their day. And then I felt like that is a really
nice role to play. If I can play a role in a community and I can give someone a
little bit of peace or quiet or reflection rather than bombard them with more
information, then that feels good to me, too. I feel like I definitely want to
have a role to play in people’s lives as a musician. I don’t feel any kind of
need – and I guess that’s what has also changed – I don’t feel a need to do it
for myself. I want it to be useful. And it doesn’t really matter what it is
that I’m making, but if it’s useful for people, then it feels good to do it.
VSz: Healing music. Medicine music, maybe.
PH: Yeah. I think it’s always … it’s always played that role for me. And it’s nice to realize that it can for other people, and it doesn’t have to be impressive. I don’t have to show … you know, I don’t have to impress. My ego doesn’t need it. That’s just not what it’s about for me. It was, definitely, when I was younger. I wanted to show how fast I could play or how interesting chords I could come up with. I’m not so interested in that anymore.
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Der vor zweiundzwanzig Jahren nach São Paulo ausgewanderte Bassist Frank Herzberg kommt im November in seine alte Heimat. Im Gepäck: drei Workshops für Musiker, Sänger, Musiklehrer, Studenten und andere Interessierte, die sich der Improvisation annähern wollen.
Via Skype habe ich mit dem Wahl-Brasilianer darüber gesprochen, welche Geheimnisse er der Jazz-Improvisation entlocken möchte, warum Musiker heutzutage kaum noch Musik hören und was es mit einem „fixed Kodály“ auf sich hat.*
VSz: Wir hatten uns zuletzt im Sommer 2013 gesprochen, als du das Debütalbum deines Trios herausgebracht hast. Seitdem hast du dich mehr aufs Unterrichten konzentriert und kommst diesen November mit Workshops nach Deutschland. Worum geht es da, was erwartet die Teilnehmer?
FH: Es ist so, dass ich schon seit mehr als zwanzig Jahren
unterrichte und der Unterricht immer Teil meines Berufs war. Dabei habe ich
mich auf Jazz-Improvisation spezialisiert und so nach und nach – durch die
ganzen Erfahrungen, die ich selbst machen musste: dass man sich schnell
verloren fühlt auf diesem Gebiet, das ist ein so weites Feld, und dass es
schwer wird, eine Linie zu finden, wie man Sachen denn lernen könnte – dazu
gekommen, jemand zu sein, der die Leute orientiert, welche Übungen in welcher
Reihenfolge sie studieren sollten. Und dadurch, dass ich das nun schon seit zwanzig
Jahren mache, haben sich da ganz gute Sachen herauskristallisiert, Sachen, die
gut funktionieren. Gerade, weil ich dabei auch persönlich sehen kann, was die
Leute spielen können, was sie verstehen und was sie nicht verstehen, und ihnen
dann so ein bisschen eine Linie vorgeben kann.
VSz: Warum ist gerade die Improvisation Kernmoment deines
Unterrichts?
FH: Nun, ich habe klassische Musik studiert. Und das war
mir immer zu vorgegeben, zu starr: Da hat man so seine Technik studiert und
hatte da ein Buch vor sich zu liegen und Noten vor sich zu liegen und studiert,
was da steht. Jazz war für mich immer interessanter, weil die momentane
Kreation eine Herausforderung ist, die mir für einen Musiker reizvoller
scheint.
VSz: Jazz als eine Musik, die im Moment entsteht.
FH: Genau!
VSz: Der Workshop heißt „Improvisation ohne Geheimnisse“. Welche
Geheimnisse willst du der Improvisation denn entreißen?
FH: Der Name ist dadurch entstanden, dass – gerade hier in
Brasilien – die Leute alle sehr computeraffin sind und die Online-Workshops und
-Kurse explodieren. Und die haben dann alle Titel wie „Fünf Geheimnisse, wie du
in drei Minuten besser spielst“ oder „Drei Geheimnisse, damit du morgen
Englisch sprichst“ (lacht). Und ich finde das immer so albern, denn eigentlich
gibt es keine Geheimnisse. Es gibt dann auch tatsächlich Kurse, die heißen „Die
Geheimnisse der Improvisation“ – einfach, um die Leute zu interessieren. Dabei
gibt es bei der Improvisation im Grunde keine Geheimnisse. Vielmehr ist es so,
dass es zu neunzig Prozent Ausdauer und viel Fleiß ist. Sicherlich gibt es
Leute, die eine schnelle Auffassungsgabe haben und die Sachen schneller lernen,
aber gerade über die Zeit habe ich … Ich habe Schüler, die zum Beispiel schon
fünfzehn Jahre mit mir studieren. Und da ist es oft so, dass Leute kommen, die
extrem begabt sind und die Sachen auch schnell lernen. Trotzdem ist es mit der
Improvisation so wie mit dem Marathonlaufen: Man muss eben eine bestimmte Zeit
trainieren, damit man irgendwann diese gut vierzig Kilometer am Stück rennen kann!
Improvisation hat genau diesen Aspekt: Man muss wirklich den Prozess mögen, um
da auch erfolgreich zu sein.
VSz: Den Weg als Ziel, sozusagen.
FH: Ja. Denn die Leute, die sich schnell anfangen zu
langweilen, die ziehen das auch nicht durch. Während andere, mit denen ich
wirklich länger an Sachen arbeite, irgendwann auch wirklich verstehen – und
dann trägt das Ganze Früchte.
VSz: Auch, wenn es dir nicht um ein Patentrezept, sondern
eher den Prozess geht – eine Methode steckt ja trotzdem dahinter. Die beruht
auf Solfège, um Musik schneller zu mentalisieren … Kannst du das etwas näher
erklären?
FH: Das ist eine Sache, die ich in dieser Art noch
niemanden habe machen sehen, obwohl es Solfège schon sehr lange gibt. Ich habe
da so ein Trauma-Erlebnis … Als ich an die Hochschule in Berlin gekommen bin,
bin ich in eine Musiktheorie-Klasse geraten, wo alle von der Spezialschule
kamen, die hatten also alle seit zehn Jahren, fünfzehn Jahren zum Teil Solfège-Unterricht.
Und dann sagte der Lehrer, Herr Altmann – der war noch ein Zeitgenosse von
Hindemith, der war damals schon weit über achtzig, als ich bei ihm Unterricht
hatte – der hatte die Klasse schon jahrelang trainiert, und er sagte also, wir
singen jetzt diese Musik in dieser Tonart, danach singen wir sie einen halben
Ton höher, aber in … menor.
VSz: In Moll.
FH: In Moll, genau! (lacht) Das muss ich echt trainieren,
wenn ich den Kurs in Deutsch geben will …
VSz: Ich glaube, Jazzer sind in Englisch ganz firm. Mit
Portugiesisch wird es da schon schwieriger …
FH: Eben drum! Ich meine, Solfège ist okay. Ich benutze das
Kodály-Solfège, das kennen eigentlich die meisten.
VSz: Die Methode von Kodály hatte ja zum Ziel, das Singen
vom Blatt und die Fähigkeit, eine Melodie nach Gehör niederschreiben zu können,
zu trainieren … Du benutzt Solfège hier synonym zu Solmisation?
FH: Ja, do-re-mi-fa-so-la-ti-do, die relativ für die Töne
jeglicher Dur-Tonleiter stehen. Nur ist es so, dass ich damit ganz lange
gehadert habe. Die meisten Leute, wenn sie Musik studieren, können mit Solfège
nichts anfangen und finden das völlig doof. Ich hatte aber Glück, schon an der
Berliner Hochschule bei einem Lehrer studiert zu haben, der Solist an der
Deutschen Oper war und dadurch viele Solokonzerte gespielt hat, der hat
Konzerte über zweieinhalb Stunden auswendig gespielt. Und dann gab es da – ein
anderes Trauma von mir – diese monatlichen Vorspiele, das heißt, man musste
jeden Monat an der Hochschule ein Konzert spielen, und zwar auswendig. Und wenn
man sich an einer bestimmten Stelle verspielte, musste man von vorn anfangen,
das war natürlich immer unheimlich peinlich. Jedenfalls hatte mich mein Lehrer
gefragt, wie ich die Stücke überhaupt lernen würde, und ich hab geantwortet,
ich spiele sie so lange, bis ich sie in den Fingern habe. Er meinte: Probier es
doch andersrum, lern doch erst die Musik auswendig und spiel sie erst dann auf
dem Instrument, wenn du Note für Note weißt, was jetzt kommt. Dann ist Verspielen
egal, denn die Finger machen es trotzdem richtig. Ich habe dann angefangen, es
zu probieren und war erstaunt, dass das wirklich geht, dass du Musik im Grunde
vom Notentext her lernen kannst. Ich habe das dann benutzt, um Jazz-Standards
zu lernen, um Progressionen zu lernen – und zwar immer ein bisschen parallel zu
meinem eigentlichen Üben. So erklärte ich auch meinen Schülern, wie sie ihre
Songs schnell auswendig lernen können und nicht mehr lesen müssen – aber es war
eben ein Prozess, der parallel zum eigentlichen Üben lief.
VSz: Also doppelter Zeitaufwand!
FH: Ja, und darum habe ich mir gesagt, eigentlich könnte
man ja alles, was man übt, auch ständig solfègen. Natürlich ist das für Bläser
ein bisschen schwieriger als für Saiteninstrumente …
VSz: Ich stelle es mir eigentlich für Melodieinstrumente
viel einfacher vor als für Harmonieinstrumente. Wie willst du Harmonien
solfègen?
FH: Ja, aber selbst da! Selbst für Klavier oder Gitarre
gibt es eine Methode, die Harmonien zur gleichen Zeit mitzudenken. Meistens ist
es ja so, dass man auch die Progression lernt, die Arpeggios lernt … Da gibt es
eine Methode, wie man das verlinken kann. Ich habe jedenfalls eine lange Zeit
überlegt, welches Solfège am besten funktioniert, denn komischerweise gibt es
kein Solfège, das wirklich perfekt ist. Kodály hat es so gedacht, dass man das
Solfège als movable do hat, dass das „do“, die Grundnote, immer
mitwandert, ob sie jetzt absolut auf C fällt oder auf F, sie heißt immer „do“.
So wird das auch in Berklee unterrichtet.
VSz: Relative Solmisation.
FH: Ja. Der Vorteil ist: Für Sänger ist das toll! Wenn man
jetzt aber ein Instrument spielt, muss man immer transponieren. Wenn F „do“
ist, muss ich also immer F denken, damit es „do“ ist. Das ist ein Prozess, der
nicht immer so schnell geht. Darum habe ich das Kodály-System als eine Art
„fixed Kodály“ festgesetzt: Hier ist C immer do. Das funktioniert ganz gut. Es
gibt einige kleine Sachen, wo man das anpassen muss, aber ansonsten
funktioniert das recht gut.
VSz: Also absolute Solmisation.
FH: Ja. Und bei mir solfègen dann die Leute, ob sie jetzt
Arpeggios oder was auch immer üben, das mit. Die Bläser deuten dabei mit den
Fingern die Position auf dem Instrument an, das heißt, beim Saxophon zum
Beispiel werden die Klappen während des Silbensingens gedrückt. Das hat den
Vorteil, dass man sehr bald auch viel besser hört.
VSz: Muss man eine musiktheoretische Ausbildung haben, um
am Workshop teilnehmen zu können?
FH: Man sollte eine grundsätzliche Vorstellung darüber
haben, wie sich eine Tonleiter aufbaut. Aber ich habe völlig unterschiedliche
Schüler: Ein Teil kommt aus Orchestern mit einer sehr umfangreichen Vorbildung,
zum Teil habe ich aber auch Anfänger. Es ist interessant, wie die Musik
erfahren! Für mich ist das eine Herausforderung, weil ich so ständig justieren
muss, was ich den Leuten gebe. Das gilt auch für professionelle Musiker, denn
jeder von denen hat eine andere Empfindung, wenn er Musik hört, was er aus dem
Sound entziffert.
VSz: Das heißt, es gibt keine konkrete Zielgruppe, die du
mit dem Workshop ansprichst?
FH: Im Grunde nicht. Er ist offen für alle Instrumente. Die
Methode funktioniert sowohl für Musiker, die professionell arbeiten, als auch
für Leute, die relativ am Anfang stehen. Sie sollten aber alle ihr Instrument einigermaßen
spielen können.
VSz: Du sagst, der Weg zur Improvisation ist ein langer
Prozess. Nun dauert der Workshop ja nur vier Stunden. Was nimmt man daraus mit?
FH: Ich baue auf der Jazzgeschichte auf und erkläre aus ihr
heraus, weshalb ich denke, dass man mit bestimmten Übungen anfangen sollte.
Diese Übungen erkläre ich und singe dann auch viel mit den Schülern, bevor wir
spielen, und dann klettere ich den Jazz-Stammbaum hoch, um zu erklären, was
sich beispielsweise beim Swing geändert hat, was beim Bebop, was danach beim
Hard-Bop und so fort. Es geht um die grundlegenden Ideen, die in der
Jazzgeschichte passiert sind. Ich übe relativ wenige Übungen – aber die in
allen Tonarten! Und ich erkläre, was man sich im Übungsalltag zurechtlegen
sollte.
VSz: Also eine Art Hilfe zur Selbsthilfe für den
Übungsalltag.
FH: Genau.
VSz: Du sprichst aber auch Multiplikatoren an, also Leute,
die selbst Musik unterrichten.
FH: Ja, das ist interessant, denn wenn man selbst
Unterricht gibt, gibt es bestimmte Sachen, an denen man hängenbleibt, wo man zum
Beispiel denkt, Mensch, wie arbeite ich denn mit dem Schüler mit einem Metronom.
Diese Leute will ich dazu bringen, meine Methoden in ihrem Unterricht kreativ
zu benutzen – man kann mit einem Metronom so viele Sachen machen! Oder, wie
erkläre ich die Arpeggios, wie kann ich die übers Instrument verteilen, wie
benutze ich Solfège und so. Ich habe Schüler, die schon seit längerer Zeit
Kinder unterrichten und die Kinder auch alles solfègen lassen, und es lässt
sich beobachten, wie das alles jetzt so langsam seine Bahnen zieht …
VSz: Du hast drei Workshop-Termine, Nürnberg, Berlin …
FH: Ja, ich bin am 9. November in Nürnberg, am 16. in
Berlin und am 23. in Hamburg.
VSz: Warum soll man sich unbedingt anmelden?
FH: Ich denke, dass ich eine durch lange Erfahrung
ausgereifte Methodik entwickelt habe, aus der man sich bestimmte Punkte für
seinen Übungsalltag herausziehen kann, mit denen es sich für eine lange Zeit
arbeiten lässt. Und weil man damit bestimmt auch schneller Erfolg hat, als wenn
man sich die Ideen einfach nur im Internet ansieht und denkt, ach, das werde
ich auch mal üben. Das Problem heutzutage ist diese Flut an Informationen: Es
gibt unheimlich viele gute Sachen, aber die Schüler können meistens nicht
einschätzen, was davon für sie funktioniert.
VSz: Heutzutage ist also nicht das Finden der Informationen
das Problem, sondern das Filtern, wo du als eine Art Gatekeeper ins Spiel
kommst …
FH: Genau. Und durch diese Allverfügbarkeit haben wir es
auch mit einer neuen Transparenz zu tun, wo alle Leute freiweg erklären, was
sie machen. Das war früher ganz anders. Da gab es viele Klarinettisten oder
Trompeter, die sich ein weißes Tuch über die Hand legten, damit die anderen die
Fingersätze nicht sehen konnten! Zu Beginn des Jazz war das weit verbreitet.
Und bis in die Siebziger, Achtziger gab es eine Kultur mit dem Tenor, mach mal
selber, du kriegst das schon irgendwie hin! Erst durch die Akademisierung der
Musik kam es dazu, dass man mit einem Mal alles erklärt bekam, was aber auch
die Musik in gewisser Weise etwas von der Quelle des Musikhörens entfernt hat.
Musiker hören heutzutage ganz wenig Musik. Früher war die einzige Quelle, die
man hatte, das Hören: eine LP oder diese kleinen 78er-Platten. Die wurden bis
zum Getno gehört, oder man ist zu Live-Sachen gegangen und hat so gelernt.
Dabei ist es auch heute so wichtig, dass man viel hört! YouTube ist da
beispielsweise ein tolles Hilfsmittel. Ich arbeite auch viel damit, dass Leute
Transkriptionen von YouTube-Videos machen müssen. Dass sie auf eine bestimmte
Weise hören müssen, dann mitsingen, dann die Musik ausmachen und nachsingen –
es gibt so viele gute Aufnahmen, die man da auschecken kann, was früher gar
nicht machbar war.
VSz: Transkribieren müssen deine Schüler in den
November-Workshops aber nicht, oder?
FH: Nein. (lacht)
VSz: Gibt es noch etwas, das die potenziellen Schüler der
Deutschland-Workshops unbedingt wissen sollten?
FH: Ich habe speziell für diese Workshops ein PayPal-System
auf meiner Webseite installiert, aber einige haben mir schon gesagt, dass sie
sich damit nicht auskennen. Die können mir gern einfach unter frankherzberg@gmail.com eine
E-Mail schicken, wir finden dann einen anderen Weg.
VSz: Und man muss schnell sein, denn die Plätze sind limitiert,
oder?
FH: Ja, denn wenn die Gruppen zu groß werden, ist es
meistens schwierig, das wirklich zusammenzuhalten. Bis fünfzehn Leute ist okay,
da kann ich dann auch mit jedem Einzelnen arbeiten.
Wo andere Sommerpause machen, ruft die Bar jeder Vernunft seit fünf Jahren den Frauensommer aus – eine Art Festival mit nur einem Spielort über sechs Wochen, die in dieser ansonsten von Theaterpause und Publikumsunlust gekennzeichneten Zeit vor Auftritten hochkarätiger Künstlerinnen regelrecht überschäumen. Nach einem tollen Juli mit Acts wie Astrid Norths North-Lichtern, Cäthe & Mockemalör oder Karsten Troyke geht der Frauensommer noch bis zum 25. August mit einem nicht minder tollen Programm weiter. Was dort genau geboten wird, warum es immer noch nötig ist, Frauen eine eigene Bühne zu bieten und welchen praktischen Nutzen dieser idealistische Ansatz hat, steht in der aktuellen zitty, für die ich mit Franziska Kessler, der künstlerischen Leitung der Bar, gesprochen habe – und im exakten Wortlaut hier:
Franziska Kessler, künstlerische Leiterin Bar jeder Vernunft Foto: privat
Victoriah Szirmai: Wir schreiben das Jahr 2019. Braucht
es heutzutage überhaupt noch sowas wie einen „Frauen“-Sommer, sprich: Müssen
Frauen heute noch explizit hervorgehoben werden?
Franziska Kessler: Also, ich finde, solange es Leute
gibt, die zu mir kommen – was wirklich passiert! – und sagen: „Ach tatsächlich,
ihr macht einen ganzen Sommer nur mit Frauen?“ Solange diese Frage kommt: ja.
Ganz klares Ja. Wenn ich einen Musiksommer machen würde, der nur aus Männern
besteht, wäre das überhaupt keine Frage wert.
VSz: Niemand würde also fragen: „Oh, ihr macht einen
ganzen Sommer nur mit Männern?!“
FK: Heutzutage käme vermutlich die eine oder auch der andere,
die oder der dann sagen würde, also hört mal, das ist aber nicht sehr heutig,
man müsste mal und so weiter, aber … Ich hab zum Beispiel gestern das Endspiel
der Frauen-Fußball-WM geguckt. Es heißt „Frauenfußball“. Männerfußball ist
„Fußball“. Ich finde, das beantwortet es eigentlich zur Genüge.
VSz: Aber der Frauensommer heißt ja jetzt auch
Frauensommer und nicht einfach Sommer oder Musiksommer …
FK: Eben! Eben, weil es immer noch nötig ist, darauf
hinzuweisen. Und weil es ja auch tatsächlich so ist, dass natürlich auch hier
in unserer westeuropäischen Großstadtblase, wo das schon mit Sicherheit
deutlich besser ist als vielerorts anderswo und als auch bei uns vor zwanzig,
dreißig, fünfzig, hundert Jahren, es überhaupt noch nicht so ist, dass es die
Gleichberechtigung wirklich gäbe.
VSz: Auch nicht in der Kunst, in der Musik? Oder gerade
dort nicht?
FK (überlegt): Hm, gute Frage. Ich denke, auch da kommt es
darauf an, wo man schaut. Es gibt natürlich sehr avantgardistische
Theaterprojekte, die wahrscheinlich schon sehr viel weiter sind. Ich glaube
aber, gerade in der Musikbranche – und wir setzen im Frauensommer ja einen
Musikschwerpunkt –, ist es tatsächlich nach wie vor so. Es gibt in der letzten
Zeit wirklich erfreulich viele Frauenformationen in der Musik, die aber genau wie
in den Festival-Line-ups – wenn überhaupt! – immer noch unter „ferner liefen“ oder
als total beeindruckendes Element dargestellt werden. „Wow, eine
Frauen-Heavy-Metal-Band, meine Güte!“
VSz: „Mädchen spielen Instrumente und singen nicht nur!“
FK: Genau. Und sehen vielleicht auch nicht alle irgendwie
sexy-hexy-mäßig aus. Also, diese ganzen Klischees sind selbstverständlich noch
da und gerade in der Musikszene auch, nach wie vor.
VSz: Wie ist eigentlich die Idee zum Frauensommer
entstanden? Es ist schon der fünfte, wenn ich mich nicht täusche …
FK: Es ist der fünfte. Tatsächlich gab es zwei Richtungen, aus denen heraus die Idee entstanden ist. Zum einen der Gedanke, dass es im Sommer grundsätzlich gut ist, irgendeine Art von Festival, von thematischer Klammer zu haben, von einem Programm, das man als Ganzes ankündigen kann. Es gibt das Theatersommerloch, die Theaterferien, in Berlin aber natürlich auch jede Menge Festivals und Veranstaltungen – es ist ja nun auch nicht so, dass nichts los ist in Berlin! Dass es dann ein Frauensommer geworden ist, hat tatsächlich diesen Grund, dass wir fanden, Frauen sollten nach wie vor und erst recht und weiterhin unterstützt werden, denen sollte die Bühne freigemacht werden. Grundsätzlich versuche ich sowieso immer, möglichst vielen Frauen eine Plattform zu geben. Immer unter der Voraussetzung: bei gleicher Qualifikation. Es ist jetzt nicht so, dass es ausreicht, das Geschlecht vorzuweisen, aber grundsätzlich wollte ich den Frauen sehr gern eine Plattform bieten.
VSz: Sie sind die künstlerische Leiterin vom Frauensommer
oder generell von der Bar jeder Vernunft?
FK: Ich bin
zusammen mit Lutz Deisinger die künstlerische Leitung der Bar jeder Vernunft und
des Tipi am Kanzleramt, wobei Lutz Deisinger schwerpunktmäßig für die
Eigenproduktionen zuständig ist und ich für die Gastspiele. Und der
Frauensommer besteht ja aus Gastspielen, also bin ich auch die künstlerische
Leiterin des Frauensommers.
VSz: Nach welchen Kriterien wählen Sie als solche die
Künstlerinnen aus, die beim Frauensommer auftreten?
FK: Grundsätzlich sind das erstmal die Kriterien, die bei uns sowieso zum Tragen kommen: Qualität, natürlich, Individualität, Personality, die richtige Mischung aus Speziell-sein und Mainstream genug …
VSz: Um auch ein breiteres Publikum anzusprechen …
FK: Genau, wir sind ja ein privates Theater, wir können nicht immer ausschließlich nur das machen, was wir selbst ganz toll finden, wir müssen da natürlich auch so ein bisschen schauen … Und dann gibt es beim Frauensommer mittlerweile noch eine zweite Schiene, die haben wir ab dem dritten Jahr eingeführt: Dass wir gesagt haben, wir setzen auch einen thematischen Schwerpunkt. Weil wir eben selbst fanden, dass das Motto „Eine Bühne nur für Frauen“ letzten Endes ein bisschen dünn ist. Deshalb haben wir gesagt, wir geben uns ein Thema. Das kam tatsächlich dadurch, dass wir im ersten thematisch unterlegten Jahr … Das war das Jahr der Bundestagswahlen, und wir fanden einfach den Gedanken spannend: Wie ist das eigentlich aus Frauensicht? Schauen wir uns mal die Programme der Parteien an, kommen Frauen darin überhaupt vor – und wenn ja, wie? Was steckt dahinter, wie sieht das eigentlich aus, wie sehen Frauen das, verschiedene Frauen, finden sich die darin überhaupt wieder, fänden die eigentlich eine ganz andere Art von Partei gut, welche der bestehenden Parteien würden sie empfehlen? Wir haben das sogar tatsächlich gefragt, in einem Talk, wobei es natürlich jeder selbst überlassen war, ob sie das überhaupt beantworten wollte. Wir fanden es einfach sehr spannend, da mal explizit aus Frauensicht draufzuschauen – tatsächlich auch aus Neugier, um mal rauszukriegen, ob es denn auch wirklich so anders ist, ob es eine menschliche … oder sagen wir mal, eine allgemein-gesellschaftliche und quasi im Gegensatz dazu oder ergänzend dazu eine weibliche Sicht gibt. Und da wir das nun mal so spannend fanden, haben wir gedacht, das behalten wir jetzt bei und machen auch in den Folgejahren eine thematische Unterlegung des Frauensommers. Dabei sehen wir das aber dann auch nicht so ganz hundertprozentig als Zugangsberechtigung für die Künstlerinnen, denn dann wäre es wahnsinnig schwierig. Der Frauensommer ist sechs bis acht Wochen lang, die individuellen Künstlerinnen spielen innerhalb dieser Zeit von einem Tag bis zu einer Woche bei uns, da gibt es natürlich auch solche, die wir einfach von ihrer Energie, von ihrem Auftreten, von überhaupt allem so toll finden und die wir wahnsinnig gerne dabei hätten, die aber nicht ihr ganzes Programm etwa in diesem Jahr auf „Dreißig Jahre Mauerfall“ oder im letzten Jahr, da ging es um den „Mythos 68“, umschreiben können. Die dann vielleicht versuchen, so ein bisschen auch dieses Thema zu streifen, aber jetzt nicht ein komplett neues Programm dafür schreiben. Es gibt aber auch Frauen, die tatsächlich extra ein ganzes Programm darüber geschrieben haben, aber wir können jetzt nicht jeder Frau zumuten und können es uns auch nicht leisten, zu sagen, jede muss jetzt ein neues Programm produzieren für diesen Sommer. Das wäre übertrieben. Und dadurch ist es dann so eine Mischung. Dieses Jahr haben wir den thematischen Schwerpunkt zum einen durch den Eröffnungstalk mit Bettina Böttinger gesetzt, wo es wirklich explizit um dreißig Jahre Mauerfall aus Frauensicht, um Feminismus in der DDR, Feminismus in der BRD und so weiter ging. Auch im Verlauf der einzelnen Programme im Sommer haben wir einige schöne Ost/West-Schwesternpärchen bilden können, so wie heute Cäthe und Mockemalör oder Wilhelmine und Lisa Who oder Uschi Brüning und Popette Betancor. Dann haben wir Barb Jungr, das ist eine britische Künstlerin, die tatsächlich explizit ein Programm zusammengestellt hat, das sie „Walls, Women and Love“ genannt hat. Also, der Schwerpunkt ist im Gesamtprogramm vorhanden, ist zum Teil in den einzelnen Programmen vorhanden und zum Teil haben wir auch einfach Frauen dazugenommen, die wir toll finden – oder die vielleicht auch eine bestimmte Seite der Mauer verkörpern. Jasmin Tabatabai oder auch Katharina Franck sind für mich als selbst in West-Berlin Aufgewachsene beispielsweise ganz klar West-Künstlerinnen, und dann haben wir demgegenüber eben Ost-Künstlerinnen wie Katrin Sass. Wir haben versucht, das Gesamtprogramm entsprechend zu gewichten.
VSz: Wie Sie gerade angesprochen haben: Beim letzten Frauensommer ging es um die Frage, welche Rolle oder Rollen Frauen 68 gespielt haben und welche Folgen das bis heute hat, während Sie sich dieses Jahr damit beschäftigen, wie es zum dreißigjährigen Jubiläum des Mauerfalls um Gleichberechtigung steht – ich glaube, Sie hatten geschrieben: „Alle Menschen werden Brüder – und was ist mit den Schwestern?“ Der Frauensommer ist nun aber sehr konzertorientiert, da sind wenige Kabarettistinnen, die das thematisch explizit aufgreifen können … Wenn nicht gerade eine politische Singer/Songwriterin spielt: Merkt der normale Besucher, dass er hier bei einem Konzert ist, das von einer thematischen Klammer getragen wird?
FK: Wahrscheinlich nicht jedes Mal. Wahrscheinlich sogar
relativ häufig nicht. Wir wollen das ganze Programm auch nicht damit
überfrachten. Wir wollen nicht, dass man das Gefühl hat, man geht hier in eine
Universität oder man muss das gesamte Programm gelesen haben und die ganze Zeit
mitdenken und das alles einordnen. Es soll in erster Linie ein qualitativ und
künstlerisch tolles Programm sein, ein tolles Sommerprogramm, wo man sich
möglichst auch mehrere Sachen angucken möchte, einfach, weil man Lust darauf
hat … Und dann hat es quasi noch einen Mehrwert für diejenigen, die sich ein
bisschen mehr damit beschäftigen, die sagen, ach guck mal hier, tatsächlich,
man kann das ja so und so einordnen, das passt ja zusammen und so weiter.
VSz: Das heißt, das Entertainment steht schon im
Vordergrund vor der politischen Idee.
FK: Absolut, ja. Wer will, kann sich auch noch mit der
politischen Idee beschäftigen, aber er muss nicht. Für mich ist es so, dass
dieses „Wir machen einen Frauensommer“ die erste Stufe davon ist. Mehr noch: Für
mich ist diese schon ausreichend, weil das an sich die politische Idee ist.
VSz: Der Juli ist mit den North-Lichternschon
ziemlich aufsehenerregend gestartet; auch heute Abend mit dem Doppelkonzert von
Cäthe und Mockemalör geht es mit tollen Künstlerinnen – auch persönlichen
Lieblingskünstlerinnen von mir – weiter. Die zitty-Leser werden allerdings dem
August-Programm begegnen. Erzählen Sie mir doch bitte etwas dazu, was da
passiert, was Ihnen gefällt, was besonders heraushebenswert ist … Das ist immer
schwer, ich weiß.
FK: Ja, absolut. Also, heraushebenswert und empfehlenswert
sind überraschenderweise alle. (lacht)
VSz: Schon klar, dass Sie das jetzt sagen müssen!
FK: Allerdings ist es in diesem Falle auch wirklich so! Ich könnte tatsächlich bei wirklich ziemlich allen sagen, dass sie meine besonderen Highlights sind. Ich fang mal chronologisch an: Am zweiten August haben wir mit Liedtke eine Künstlerin, die ich über Umwege … die eigentlich sogar mein Kollege mal entdeckt hat. Das ist eine Deutsche, die aber schon sehr lange in Wien wohnt und die eine ganz zauberhafte Musik-Video-Performance macht. Das ist ein Liederabend, es sind deutsche Texte, und das ganze Programm heißt „Im Zwischenraum“. Es beschäftigt sich nicht wirklich mit Ost-West, das war nicht ihre Idee, als sie das Programm schrieb. Als ich ihr aber von unserem Festival erzählte und ihr sagte, dass ich ihr Programm so toll fände und sie gern einbinden würde, sagte sie, ja natürlich, das passt ja! Und ich fand das auch, weil sie genau über diesen Zustand – man geht irgendwo weg, man ist aber noch nicht angekommen, man befindet sich in diesem Zwischenraum – singt.
VSz: Im Transit.
FK: Im Transit, genau. Und darum geht es ja auch beim
Mauerfall: Man ist noch nicht im Westen angekommen, aber man ist aus dem Osten
schon weg, und man hängt jetzt irgendwo dazwischen.
VSz: Also nicht nur lediglich im lokalen Transit, sondern
im historisch-gesellschaftlicher oder persönlich-biografischen Transit, im Transit
der politischen Systeme.
FK: Absolut. Politischer, geistiger Transit, genau. Und Liedtke
ist einfach jemand, von der ich hoffe, dass ihr diese Tatsache, dass wir sie im
Rahmen des Frauensommers vorstellen, den Zuspruch bringt, den ich mir für sie
wünsche. Es ist in Berlin nicht einfach, hierzulande unbekannte Namen zu
präsentieren und ihnen ein Publikum zuzuführen, aber ich finde sie einfach ganz
großartig und hoffe, dass ihr das hilft, hier in Berlin anzukommen.
VSz: Ist sie ursprünglich Berlinerin oder jetzt neue
Wahlberlinerin, weil Sie von „Ankommen“ sprechen?
FK: Nee, sie ist wirklich Wienerin, die ursprünglich aus dem
… Ruhrgebiet, glaube ich, da bin ich mir gar nicht so sicher … kommt, aber sie
wohnt wirklich schon sehr lange in Wien. Kommt auch extra aus Wien hierher.
VSz: Im Programm zu ihr steht, dass sie „multimedial
erzählte Geschichten“ präsentiert. Was muss ich mir denn unter multimedial
erzählten Geschichten vorstellen?
FK: Sie hat ihre Songs, in denen sie – mit zwei Begleitmusikerinnen,
sie selber an der Gitarre – Geschichten erzählt, die durch Video bebildert werden. Da
laufen Texte und Bilder und quasi Traumsequenzen hinter ihr auf dieser
Videoleinwand ab, das ist eine Einheit. Text und Musik werden hier noch um eine
weitere Dimension, die optische, ergänzt.
VSz: Wenn wir in der Chronologie weitermachen: Nach dem
Newcomer folgt mit Katharina Franck ja Bewährtes, die hat ja auch letztes Jahr
schon gespielt, ich weiß nicht mehr genau, ob das auch im Rahmen des
Frauensommers war …
FK: Ja, Katharina Franck hat letztes Jahr auch schon im
Rahmen des Frauensommers gespielt. Sie ist abolut Westberlinerin. Sie ist keine
gebürtige Westberlinerin, aber für uns ist sie …
VSz: Ja, durch die Rainbirds ist sie …
FK: Genau, ist sie einfach eine absolute Westberlinerin und
stellt hier ihr neues Musikprogramm vor. Ich finde auch, sie ist sowieso ein
Highlight, es sind großartige Konzerte, sie spielt ihre neuen Sachen, sie
spielt aber immer auch unsere Lieblings-Hits, und sie macht es auch … Also,
wenn Sie sie gesehen haben, wissen Sie es, sie spielt auch „Blueprint“ und so
weiter so, dass man nicht das Gefühl hat, es hängt ihr allmählich zum Hals
raus. Sie ist einfach sowieso großartig!
VSz: Dann ist da Katrin Sass, die ebenfalls schon einige
Male bei Ihnen zu Gast war.
FK: Katrin Sass ist dieses Jahr sogar Schirmherrin der Frauensommers. Sie hat sowohl in ihre persönliche als auch in ihre mediale Biografie die Ost-West-Geschichte absolut eingeschrieben, von daher fanden wir das sehr sinnvoll. Wir haben sie gefragt, und sie fand das auch sehr sinnvoll, sehr schön und hat sich sehr gefreut darüber, hat das auch gerne gemacht und hatte sowieso vor, sich in diesem Jahr mit dieser Ost-West-Thematik und ihrer Biographie zu beschäftigen. Was wir dann mitbekamen und uns sofort darauf gestürzt haben. Sie hat ja auch schon ein paar Mal hier gespielt, jetzt aber länger nicht mehr, „Königskinder“ hieß das damals. Also, Katrin Sass – ich wüsste jetzt gar nicht, was ich zu ihr noch sagen soll. Ich finde, der Name spricht für sich.
Dann (zeigt auf den Programmpunkt Brüning & Betancor)
haben wir hier wieder ein absolutes Lieblingsprogramm! Das war tatsächlich auch
so, dass ich anfing zu überlegen, wir brauchen jetzt Ost-West-Schwesternpaare,
die wir hier auf die Bühne stellen können – und auch hier ist es tatsächlich
nicht so, dass ich gesagt habe, liebe „Popette“, mach doch mal was mit Uschi
Brüning, sondern ich hörte von jemandem, dass sie angeblich ein Programm
zusammen machen, und da hab ich Susanne Betancor sofort kontaktiert und gesagt,
ihr müsst jetzt sofort bei uns auftreten, und die fanden die Idee auch toll.
Und das ist ja nun wirklich … Ich meine, Uschi Brüning ist eine
DDR-Gesangs-Ikone, dazu muss man auch nicht viel sagen. Susanne „Popette“
Betancor ist in der sogenannten Kleinkunst – wobei „Kleinkunst“ immer so ein
doofes Wort ist, ich möchte es „Feinkunst“ nennen –, also in der Feinkunst, in
der deutschen, der Berliner deutschen Feinkunst auch eine Ikone, sie hat ja mit
Helge Schneider angefangen! Da hat sie ja auch eine lange Geschichte, ist vor
allem aber auch eine großartige Sängerin, eine großartige Musikerin, und hat
ihre eigene, sehr spezielle Art. Da bin ich selbst auch total gespannt drauf!
VSz: Ich tatsächlich auch. Ich will sehen, wie man Monk
und Miles Davis a) betextet und b) das auch noch auf Deutsch.
FK: Und das wird garantiert … Wenn man Texte von „Popette“
Betancor kennt, weiß man, das ist absolut intelligent-verschroben,
verschachtelt, witzig, selbstironisch, und da können wir uns, glaub ich,
wirklich, wirklich drauf freuen und uns davon überraschen lassen. Und dann eben
Uschi Brüning, die ja auch so … die gemeinsam sicher auch so eine tolle Energie
herstellen auf der Bühne. Ich kann darüber noch nicht viel mehr sagen als das,
was da im Programm geschrieben steht, ich werde mich selbst überraschen lassen!
Ich freu mich sehr darauf.
VSz: Ich auch. Ich glaube aber im Gegensatz dazu, was im
Programm steht, nicht, dass das Jazz-Standards sind, weil Monk und Miles Davis
… das sind eben nicht betextbare Instrumentalstücke, die jetzt nicht wirklich
All-America-Songbook-verdächtig sind. Ein Standard ist für mich etwas, das dort
oder im Realbook steht. Insofern …
FK: Ja, das stimmt schon.
VSz: Aber gerade das finde ich das Spannende daran: Wie
man es schaffen will, dieses Repertoire in ein sangbares, noch dazu auf
Deutsch, Lied zu gießen. Mal ganz ins Unreine gesprochen. Ich muss mir das
dringend angucken. Der nächste Punkt, Lisa Bassenge, ist mein ganz persönliches
Highlight, ich mag fast alles, was sie macht.
FK: Genau, dann haben wir Lisa Bassenge, die für mich wieder so eine sehr West-Geprägte, also, West-Berlinerin ist. Als ich sie gefragt habe, ob sie denn keine Lust hätte, dabei zu sein, sagte sie, dass sie eigentlich sowieso gerade plant, eine CD zu machen mit ausschließlich Kompositionen von Frauen. Die CD wird noch nicht fertig sein, wenn sie hier spielt, es ist quasi ein Vorgeschmack auf dieCD, die Anfang 2020 erscheinen wird, aber ihr Programm dafür steht schon. Ich bin sehr froh, dass sie sich dazu entschieden hat, hier mitzumachen! Und dann ist da noch Yasmin Tabatabai. Ich finde, die ist einfach auch eine tolle Sängerin, eine tolle Künstlerin. Gut, „Was sagt man zu dem Menschen, wenn er traurig ist“ könne man mit viel gutem Willen irgendwie noch auf dieses Ost-West-Thema quetschen, aber ehrlich gesagt möchte ich das jetzt gar nicht erst versuchen. Weil das wäre dann so von hinten durch die Brust. Ich halte sie einfach für eine tolle Musikerin, eine tolle Frau, die einfach so oder so in so einen Sommer sehr gut reinpasst.
VSz: Nach Ihren ganz persönlichen Highlights muss ich
Sie, so hab ich das jetzt verstanden, also gar nicht fragen…
FK: Ja, wie gesagt, das ist schwierig. Ich könnte die
Künstlerinnen jetzt in verschiedene Kategorien einteilen. Es gibt tolle
Neuentdeckungen wie zum Beispiel Safi, die nächste Woche zwei Tage spielt. Das
ist eine junge, wahnsinnig kraftvolle, avantgardistische Künstlerin, die ich
tatsächlich entdeckt habe vor vielen Jahren bei einem Songfest in den
Sophiensälen, das wiederum Popette Betancor kuratiert hat. Da war die noch sehr
jung, sehr unsicher, hat sich hinter ihrer blonden Mähne und ihrer großen
Gitarre versteckt und war einfach so speziell und so kraftvoll, dass sie mir im
Kopf geblieben ist. Und dadurch, dass wir für die North-Lichter immer viele
neue Musikerinnen brauchten, ist mir dann wieder eingefallen, dass ich damals
diese Musikerin gesehen habe. Auch Bettina Wegner ist … Ich find es einfach
toll, wenn die nochmal auf der Bühne steht, die hat Herz und Schnauze und ist
eine Seele von Mensch, eine Legende, kann man sagen! Also, es gibt viele, die
für sich allein Highlights darstellen. Maren Kroymann natürlich, die sich jetzt
leider die Schulter gebrochen hat und gar nicht auftreten wird. Bettina
Böttinger natürlich. Ich bin sehr froh darüber, dass sie die letzten Jahre
jeweils unseren Abschlusstalk gemacht hat und dieses Jahr den Auftakt-Talk. Die
ist einfach eine großartige Moderatorin, die irgendwie den Frauen doch immer
sehr viel entlockt.
VSz: Das sind jetzt natürlich wahnsinnig schlaue
Antworten, weil all die Genannten im Juli spielen bzw. schon gespielt haben …
FK: Ich weiß, ich weiß …
VSz: Wenn Sie sich jetzt in Bezug auf den August
persönlichen Geschmack leisten dürften – ich frag Sie jetzt gar nicht als
Festivalkuratorin, sondern als Privatmensch –, wie sähe es dann aus?
FK: Es ist wirklich schwierig. Aber Katharina Franck liebe
ich schon sehr, die find ich großartig – aber ich liebe auch Popette Betancor,
und ich bin sehr froh, dass sie wieder auf der Bühne ist und dass sie sich dafür
jemanden wie Uschi Brüning gesucht hat. Katrin Sass find ich auch ganz toll –
ich bin total verliebt in diese Frau! Ich finde es klasse, dass sie wieder bei
uns auf der Bühne steht! Lisa Bassenge mag ich auch sehr, sehr gerne, und
Birgit Liedtke ist einfach jemand, den ich wirklich sehr gern der Stadt vorstellen
möchte. Ich hoffe einfach sehr, dass da wirklich Leute reingehen und sich darüber
freuen! Aber hm … bei den dreien hier – Franck, Sass und Betancor – würde es
mir absolut schwerfallen, meinen absoluten Liebling … also, die möchte ich alle
drei nicht verpassen.
VSz: Kommen wir noch einmal auf den politischen Aspekt
des Frauensommers zurück. Der wird, wenn ich das Programmheft richtig lese, von
der Siegessäule präsentiert, dem Stadtmagazin der LGBT-Community. Ist nicht nur
die Stärkung von Frauen im Allgemeinen, sondern auch die der queeren Frauen im
Besonderen ein Anliegen des Frauensommers?
FK: Es ist tatsächlich so, dass wir in den letzten Jahren
auch einen Queer-Talk hatten, das haben wir dieses Jahr nicht gemacht. Ich
glaube, ein Anliegen der Siegessäule hier ist es, den Frauen ganz allgemein den
Rücken zu stärken. Vordergründig geht es beim Frauensommer ja nicht um queere
Kultur, aber sie ist immer mit dabei, denn wir haben ja auch Programme von
lesbischen Künstlerinnen, zum Beispiel von Georgette Dee, der überaus lesbischen
Georgette Dee. (blättert) Katharina Franck, Wilhelmine, Maren, Popette, Liedtke
… da sind schon ein paar dabei. Aber das steht nicht im Vordergrund.
VSz: Vielleicht darum, das ganze Spektrum von Frausein zu
zeigen?
FK: Ja, tatsächlich. Unsere Frontfrau Georgette Dee ist
jedes Jahr dabei. Dass wir also einerseits die verschiedenen Spielarten von
Weiblichkeit mit einbeziehen, andererseits aber grundsätzlich auch diejenigen …
also, wir zeigen jetzt die Benachteiligungen von Frauen auf, und unter den
Frauen sind die Lesben dann noch mal besonders benachteiligt. Wenn du irgendwo
als Frau nicht genommen wirst, wirst du erst recht nicht genommen, wenn du eine
lesbische Frau bist. Sagen wir, sehr negativ ausgedrückt, mal so: Frau sein ist
schon genug, aber Lesbe sein ist ja nun wirklich noch mal … ja, so. Und
innerhalb der queeren Community ist es ja tatsächlich so, dass da die Lesben …
VSz: … marginalisiert sind?
FK: Nee, eben genau im Gegenteil, seit geraumer Zeit versuchen,
dagegen anzugehen. Weil das ja tatsächlich eine lange Zeit … Es hieß ja auch
immer „die Schwulen“, erst später „die schwul-lesbische Bewegung“ mit dem
„schwul“ vorne …
VSz: Weil die Lesben ja auch keiner wirklich ernst
genommen hat. Wenn sich zwei Frauen auf der Straße küssen, war das eher so, na,
lass sie doch!
FK: Genau. „Das ist ja irgendwie ganz niedlich!“ Oder die
Männer fanden es vielleicht sogar ganz … schick … und meinten, macht mal weiter
… Genau. Und das ist, denke ich mal, auch das Anliegen der Siegessäule, durch
der Stärkung der Frauen sozusagen auch die lesbische Bewegung mitzustärken.
VSz: Wir sprachen vorhin kurz davon: Der Frauensommer
geht jetzt schon in die fünfte Runde. Wie ist eigentlich die bisherige
Resonanz?
FK: Die ist sehr, sehr gut. Die ist aber auch sehr unterschiedlich. Sagen wir mal so: Es gibt die Resonanz, und es gibt den Besuch, da kommt es darauf an. Diese wahnsinnig heißen Perioden sind ein bisschen schwieriger. Aber die Resonanz war von Anfang an wirklich gut. Tatsächlich vielleicht auch besser, als ich erstmal befürchtet hatte. Ich bin als Veranstalterin immer so ein bisschen zweckpessimistisch, vorsichtshalber … Aber tatsächlich wurde der Frauensommer von den Medien, vom Publikum, von der Öffentlichkeit von Anfang an wirklich gut angenommen. Wir haben wirklich viel Echo, auch hier im Gästebuch. Oder von Menschen, die einen abends ansprechen. Es gab immer wieder Leute, die gesagt haben, toll, ist ja super, und es gibt auch relativ häufig diese etwas erstaunte Nachfrage, was, tatsächlich, ihr macht den ganzen Sommer nur Frauen? Und das ist es, was mich immer wieder bestärkt: Ja, es ist offenbar immer noch nötig! Und es wird sich sehr viel gefreut und, was ich besonders toll finde ist, dass insbesondere bei diesen musikalischen Programmen sich neue Netzwerke entspinnen. Dass dadurch, dass wir Frauen in dieser Reihe in der Reihe North-Lichter, dann aber auch innerhalb des Sommers in anderen Programmen, zusammenstecken oder sagen, wollt ihr nicht mal ein Programm zusammen machen, oder auch, dass sie sich von alleine kennenlernen, dadurch, dass sie alle hier spielen, und anfangen, gemeinsam Programme zu entwickeln, sich gegenseitig bei ihren Konzerten zu besuchen …
VSz: Stimmt, zum
Beispiel die North-Lichter-Keyboarderin Yasmin Hadisubrata, die wird dieses
Wochenende an drei Abenden in Lisa Bassenges Band Micatone im A-Trane zu hören
sein!
FK: Ja, solche Geschichten. Das hab ich mittlerweile auch
innerhalb der letzten fünf Jahre festgestellt, dass ich irgendwo zum Konzert
gehe und sehe, ach, wie lustig! Da spielt ja jetzt die Bassistin von X mit! Das
sind genau diese Dinge, die daraus entstehen. Da entsteht wirklich eine … eine
…
VSz: Synergie?
FK: Eine Synergie und vor allem ein … also, konkurrenzfrei
möchte ich jetzt nicht sagen, das wäre wahrscheinlich ein bisschen naiv, aber
ein … ein konkurrenzarmes Unterstützungsnetzwerk. Die freuen sich aneinander,
die spielen miteinander, die entwickeln gemeinsam neue Ideen und haben nicht
diesen Gedanken – oder der Gedanke ist, so wie ich das beobachte, sehr wenig
vorhanden: Ich will jetzt lieber auf die Bühne als sie, ich kann das besser
oder was weiß ich, sondern dass wirklich dieser Synergiegedanke und dieser
Wir-stärken-uns-gegenseitig-Gedanke sehr, sehr stark im Vordergrund ist. Und
dieses Wir-sind-hier-nur-Frauen-Thema gar nicht diesen negativen Grundton hat,
gar kein: Hier dürfen keine Männer rein, wir machen das jetzt alleine, sondern:
Wow, wie toll ist das, wenn man plötzlich mit lauter Frauen auf der Bühne ist
und gar keine Männer dabei sind! Das hören wir bei den North-Lichtern jeden
Abend, dass sie das sagen …
VSz: Wobei die ja Benny haben!
FK: Ja, der ist da immer „der Benny“. Da sind die vielen
Frauen und der Benny! Aber er ist dann eben wirklich der einzige unter sieben
oder acht Frauen. Es gibt auch … Wir machen diese Ausschlussverfahren nicht.
Wenn Maren Kroymann mit ihrer Männerband kommt, dann kommt sie mit ihrer
Männerband, da muss sie sich keine Frauenband anschaffen. Es geht uns darum,
den Frauen den Platz in der Mitte zu geben, den Frontplatz, und schon Bands,
die hauptsächlich aus Frauen bestehen … Also, wären das jetzt alles Männerbands
mit einer Frontsängerin, dann wäre das jetzt auch suboptimal. Aber so? Und da
entsteht dann auch die Einsicht,
dass Frauen feststellen, ich muss nicht immer eine Band aus Jungs haben
und nur vorn am Mikro stehen, sondern hier entsteht was Neues, das hat eine
andere Atmosphäre, es ist eine andere Kreativität …
VSz: Es ist eine andere Art zu arbeiten.
FK: Genau, es ist eine ganz andere Art, wenn Frau nur mit
Frauen zusammenarbeitet. Und das sind, meine ich, auch alles Dinge, die sich tatsächlich
dadurch entwickeln.
VSz: Das heißt, hinter dem Frauensommer steckt gar nicht nur dieser schöne Gedanke, wir geben den Frauen eine Plattform, um sie sichtbar zu machen, sondern dieser Gedanke hat praktische Konsequenzen.
FK: Richtig. Und das
ist etwas, das ich als einen ganz wichtigen, ganz großen Punkt innerhalb dieses
Frauensommers ansehe. Wir sind ja keine wissenschaftliche Einrichtung, wir sind
keine Universität, unser Hauptanliegen ist es nicht, den Menschen Botschaften
zu übermitteln, sondern wir wollen ihnen gute Kunst präsentieren, wir wollen
ihnen gute Unterhaltung – die natürlich auch zum Nachdenken anregt, aber die
Unterhaltung steht schon im Vordergrund – präsentieren. Und um gute oder, sagen
wir mal, konsistent qualitativ gute Kunst, intelligente Kunst herzustellen,
braucht man Menschen, mit denen man kreativ sein kann. Und das ist, finde ich,
unsere Aufgabe: So etwas zu zeigen. Und es natürlich auch selbst herzustellen
oder zumindest die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass es entsteht. Und
wenn so etwas entsteht, ist das natürlich auch für uns Motivation, weiter zu
machen!
VSz: Zum Abschluss noch mal auf das Publikum geguckt:
Warum sollen auch Männer zum Frauensommer gehen?
FK: Also, zum einen: Ich sage nicht, es sollen auch Männer
kommen oder es dürfen auch Männer kommen – es darf jeder kommen, der kommen
möchte. Es darf jeder und jede kommen. Ich finde ein Ausschlussverfahren
grundsätzlich … Also, es gibt natürlich wenige Ausnahmen, aber grundsätzlich
würde ich sagen, ich schließe niemanden aus. Es wird Kunst gezeigt, und jeder,
der sie sehen möchte, darf sich eine Karte kaufen und sich das anschauen. Ich
finde es sehr, sehr gut, wenn auch Männer dasitzen und feststellen, dass eine
Bühne voller Frauen großartig unterhaltsam, klug, lustig, sexy – und zwar nicht
unbedingt heteronormativ sexy – sein kann, gegebenenfalls, sehr wahrscheinlich
und hier glaub ich in vielen Fällen intelligent-sexy, also geistig sexy plus
sexy-sexy. Ich gestehe auch Männern eine Lernfähigkeit zu und deshalb denke
ich, sollten die ruhig herkommen und schauen – und ich gönne ihnen auch den
Spaß der Unterhaltung.
VSz: Das nehm ich als Abschlusswort und bedanke mich ganz herzlich.
Der Frauensommer in der aktuellen zitty.
Kommentare deaktiviert für Intelligent-sexy plus sexy-sexy. Der 5. Frauensommer in der Bar jeder Vernunft
Berlin, Mitte der Achtzigerjahre. Eingemauertes Inseldasein, Kreuzberger Nächte, eine rege Hausbesetzerszene – all das findet die junge Französin Françoise van Hove aka Françoise Cactus vor, als sie einem Berliner in die Damals-noch-nicht-Hauptstadt folgt. Hier wird sie mit ihrer Band Lolitas zur Underground-Ikone. Etwa zur selben Zeit gründet Hartmut Richard Friedrich Ziegler, besser bekannt unter seinem Nom de Guerre Brezel Göring, in Kassel die Noise-Rock-Band Sigmund Freud Experience, dank der es ihn ebenfalls nach Berlin verschlägt. Doch es soll noch bis nach dem Mauerfall dauern, bevor sich Cactus und Göring kennenlernen: Eines Tages im Jahre 1992 tritt er als „Der Böhmische Elvis“ im Vorprogramm der Lolitas auf, man versteht sich musikalisch wie persönlich, wird ein Paar und nimmt als erstes gemeinsames Stück ein erotisches Küchenrezept von fünfzehn Minuten Länge auf Kassette auf, das erste Album unter dem Namen Stereo Total folgt 1995. Der Rest ist, wie es so schön heißt, Geschichte.
Knapp fünfundzwanzig Jahre später treffe ich das Duo in seiner Kreuzberger Wohnung. Es ist das erste Interview, das es zu seinem Album „Ah! Quel cinéma!“ gibt, was bedeutet, dass das stets im Nachgang erdachte theoretische Konzept zur Platte noch nicht ganz steht. Es ist ein langsames Herantasten an einen 14-Song-Zyklus, bei dem viel gedacht und gelacht wird – nicht ohne den einen oder anderen Irrweg zu beschreiten. Was es mit Katzen (und Hunden) im Rock’n’Roll auf sich hat, weshalb sich Musiker, die die 74 Minuten Spielzeit einer CD komplett füllen müssen, insgeheim für Beethoven halten, warum heutige Popproduktionen oft klingn wie frisch aus dem Kühlschrank und warum man das Absurde im Tragischen viel mehr schätzen sollte, haben mir Françoise Cactus und Brezel Göring für das Stadtmagazin zitty verraten. Das Interview im Wortlaut gibt es hier:
Victoriah Szirmai: Ihr wohnt seit mehr als 25
Jahren in Kreuzberg, wo ihr auch gemeinsam angefangen habt. Wie sehr hat sich
in euren Augen der Bezirk oder überhaupt die Stadt in diesem letzten
Vierteljahrhundert verändert?
Françoise Cactus: Ich bin länger hier in Berlin als Brezel – auweia, meine Gitarrensaite ist kaputt, sehe ich gerade!
Brezel Göring: Komm, bleib mal beim Thema!
FC: Ich bin schon in den Acnhtzigern hergekommen, als es noch die Mauer gab. Unfassbar! Wenn man das Berlin von damals mit dem Berlin von jetzt vergleicht, sind das zwei vollkommen verschiedene Städte. Wir haben nicht die ganze Zeit in Kreuzberg gelebt – wir haben auch in Mitte und Prenzlauer Berg gelebt –, aber Kreuzberg ist schon mein Viertel. Es ist ein bisschen, wie in einem Dorf zu wohnen, alle kennen sich und so. Allerdings hat sich das sehr geändert, schon allein wegen der Touristen. Ich finde das als Französin jetzt nicht so schlimm. In Paris gibt es immer wahnsinnig viele Touristen, das ist einfach ein Teil der Stadt. Es ist okay, wenn man auch mal ein paar andere Sprachen hört! Was sich noch total verändert hat, ist dieses Besondere, das es in der Stadt gab: dass es nicht so teuer war, hier zu wohnen. Das ist natürlich komplett verschwunden. Es gibt jetzt total gemeine Immobilienhaie, die einfach alles kaputtmachen. Früher haben zum Beispiel alle Leute in Wohngescheimschaften in alten Fabriken gelebt, auf so genannten Fabriketagen. Man hatte immer diese Gewerbeverträge und konnte ewig da drin bleiben, das war ja gang und gebe. Jetzt kommen irgendwelche Typen, kaufen diese ganzen Häuser und schmeißen die Leute raus – das ist vielen Freunden von mir passiert. Künstler, die in Fabriketagen wohnen, brauchen viel Platz, um ihre Sachen zu machen – und plötzlich bekommen sie unglaubliche Mieten, zehnmal so teuer, und verschwinden dann. Also, diese Entwicklung ist nicht schön! Oder was meint der Brezel?
VSz: Findet ihr euch als Künstler in diesem
Kreuzberg, diesem Berlin noch wieder? Ist das noch euer Kreuzberg, euer Berlin?
BG: Klar, also ich meine, jedesmal, wenn ich nach Westdeutschland fahre und dann wieder hierherkomme, hab ich das Gefühl – und das hab ich jetzt schon hunderttausendmal gesagt –, ich müsse den Boden küssen, weil ich so froh bin, wieder in Berlin zu sein! Es ist die einzige Stadt, wo ich so ein bisschen das Gefühl habe, sie ist kosmopolitisch, sie ist lustig, da sind ganz verschiedene Leute. Es ist befreiend, hier zu sein, also trotz allem! Trotz dieser widerlichen Kommerzialisierung der ganzen Stadt, diesem Ausverkauf und der Zerstörung von Lebensraum von Leuten, die nicht reich sind. Das ist alles total widerlich, aber trotzdem gefällt mir die Stimmung hier immer noch amn besten. Mir fällt da jetzt keine andere Stadt ein, die … Aber vielleicht kenn ich die auch einfach nur nicht. Ich hab mir zwar nie gedacht, ich bin jetzt Repräsentant für Berlin oder sowas, so hab ich mich nie gesehen – ich hab immer gedacht, das ist ganz andere Musik, die repräsentativ ist für die Stadt –, aber sagen wir mal so: Es macht mir immer noch richtig Spaß, hier zu sein.
FC: Was gut ist, ist, dass es hier auch eine Art Musikergemeinschaft gibt. Also, natürlich nicht alle Musiker, aber die, die ungefähr in dem selben Genre etwas machen, kennen sich, machen Sachen zusammen, das find ich gut. In anderen Städten ist viel mehr jeder für sich ..
VSz: Und hier ist der Gemeinschaftsgeist …
FC: … besser, ja.
VSz: Brezel sagte ja gerade, dass er eure Musik
nicht unbedingt als repräsentativ für die Stadt ansieht. Aber würde eure Musik
ohne Berlin überhaupt funktionieren?
FC: Also, ich habe mich sehr oft gefragt … Ich glaube schon, dass ich, wenn ich in Frankreich geblieben wäre, auch da Musik gemacht hätte, ich hatte sowieso schon damit angefangen, bevor ich hergekommen bin. Aber ich denke mir, dass ich natürlich eine total andere Musik gemacht hätte. Und auch ganz andere Texte. Schon allein, weil ich hier immer mit so einem französischen Ding spiele. Wenn ich in Frankreich wäre, bräuchte ich nicht damit zu spielen!
(alle lachen)
BG: Was ich immer gedacht habe, was wirklich einzigartig für Berlin ist – zumindest bei Musikern oder überhaupt bei Künstlern – ist, dass Probleme nicht immer mit Geld gelöst werden, sondern mit Ideen. Es gab so viele Bewegungen hier, die aus dem Nichts entstanden sind und die eigentlich nur benutzt haben, was da rumlag und was niemand haben wollte, egal, ob es sowas war wie Geniale Dilettanten oder auch diese Art von Techno-Kultur, die es ganz am Anfang gegeben hat – da hatte ich immer das Gefühl, dass das auch bei uns so ist. Man könnte jetzt nicht ins Geschäft gehen und sagen, ich will die Instrumente kaufen, mit denen ich den Sound von Stereo Total machen kann, das geht nicht, und das hat schon auch etwas mit dieser komischen instabilen Stimmung zu tun, die hier früher geherrscht hat.
VSz: Eure Urspünge liegen in der Berliner
Hausbesetzer- und Punkszene, richtig?
FC: Ja, also ganz früher habe ich in so’ner Besetzer-Punk-Band gespielt. Katapult hießen die, das war meine allererste Band. Das war in den Achtzigern, und später habe ich meine erste eigene Band gegründet, die Lolitas. Und dann später mit Brezel Stereo Total. Brezel ist noch auf der letzten Lolitas-Tour als Vorband aufgetreten.
BG: Klar, ich bin da einfach mal mitgefahren, die waren ja bekannt, sie war, wie soll ich sagen, eine …
VSz: … Underground-Ikone?
BG: Sowas in der Art, ja! Haste den richtigen Begriff gefunden! (lacht) Und dann war es natürlich auch angenehm, mit jemandem zu spielen, der Ahnung von Rockmusik hatte, was ich ja gar nicht hatte! Ich als Vorband hatte so eine Heimorgel dabei, eine Gitarre und hab so dies und das gemacht …
FG: Er hieß „Der böhmische Elvis“!
BG: Ja, ich hatte mir eine schöne Bühnenpersönlichkeit zurecht gelegt, die ich vor ihrem Auftritt einfach für eine halbe Stunde rausgelassen habe!
VSz: Zeitsprung: Seit eurem letzten Album Les Hormones von 2016 sind drei Jahre
vergangen. Was gab den Ausschlag zu Ah!
Quel Cinéma! ? Das ist jetzt inklusive aller Compilations das 17. Album,
oder?
BG: Kann sein.
FC: Wir können auch noch ein paar mehr machen, das ist nicht das Problem!
BG: Das ist eine schöne Antwort: Was hat denn den Ausschlag gegeben für die Platte? – Och, wir können auch noch viel mehr machen!
(alle lachen)
FC: Bei uns ist das einfach regelmäßig so: Alle paar Jahre müssen wir mal wieder eine Platte machen.
VSz: Das heißt, da sammelt sich soviel an und
das muss dann …
FC: Ja, das muss dann raus. Und auch, weil wir nicht immer die selben Dinger spielen wollen, brauchen wir neuen Stoff. Und dann machen wir das selber – und voilà!
VSz: Aber es gab jetzt keinen konkreten
Auslöser, à la Wir wollen jetzt eine Platte zu einem bestimmten Themenkomplex
machen, wir wollen jetzt ein bestimmtes Ereignis verarbeiten oder so was?
FC: Wir haben eigentlich noch nie eine Platte gemacht, für die wir vorher schon ein Konzept gehabt hätten. Wir haben das Konzept immer hinterher erfunden! (lacht) Wir machen meistens Stücke, so wie sie sind oder so, wie sie kommen. Was mich betrifft, ist mein einziges Ziel, dass das Stück so klingt, wie ich es mir vorstelle. Aber ich hab keine richtige … Ich denke mir nicht … Wir haben keine Themenalben oder sowas. Aber natürlich, wenn ich manche Platten aus manchen Epochen höre, dann sehe ich im Nachhinein total das Thema. Das hat etwas mit dieser Zeit zu tun.
VSz: Mit den Themen, die euch da gerade
beschäftigt haben?
FC: Ja, genau. Und zum Beispiel diese Platte … Viele Freunde sagen, dass diese Platte verglichen mit früheren Platten ein bisschen trauriger – oder melancholischer – ist.
VSz: Ja, düsterer, den Eindruck habe ich auch.
FC: Während unsere Platten sehr oft so holla-la (singt), sehr amüsant sind, ist es diese vielleicht nicht unbedingt. Aber auch trotzdem, ein bisschen!
VSz: Mir ist, als wäre die Ironie hier immer
nur noch halb-ironisch, dass da sehr viele ernstere Themen im Subtext lauern …
FC: Vielleicht wollten wir ein bisschen was anderes machen, mal andere Stimmungen ausprobieren. Weil: Wir sind ja sehr geübt in diesen amüsanten Shalala-Texten, und vielleicht hatten wir mal Lust, was anderes auszuprobieren, mit viel Melodie, ein bisschen langsamer, manchmal ein bisschen traurig …
BG: Mir ist das eigentlich ganz anders gegangen. Wir haben versucht, immer mal wieder was aufzunehmen. Auch, als wir in Italien waren. Wir haben da gespielt, und da war auch so ein Studio, wo wir Stücke aufgenommen haben. Und irgendwie hatte ich immer das Gefühl, das passt alles überhaupt nicht zueinander! Also, es begeisterte mich nicht so richtig. Und irgendwann gab’s da so eine komische Stimmung, wo wir ganz viele Ideen auf einmal hatten: Wir haben gerade Musik für ein Hörspiel gemacht, aber dann sind noch ganz viele andere Stücke nebenher entstanden, und plötzlich hatte ich das Gefühl, okay, das ist zwar anders, als wir es sonst gemacht haben, aber ist ja egal, machen wir mal weiter! Ich konnte es jetzt auch nicht … wie Françoise sagt, hinterher kann man es immer benennen, aber ich hatte schon das Gefühl, dass plötzlich, ab einem bestimmten Zeitpunkt, ganz viele Stücke entstanden, die zueinander passen. Und alles, was wir vorher aufgenommen haben – ich hab ja gesagt, wir haben hin und wieder ein Stück aufgenommen –, haben wir dann verworfen. Ich kann zwar nicht genau sagen, was es ist – und mir ist es noch nicht mal aufgefallen, dass es so melancholisch ist. Ich kann immer noch so gut über viele Stücke lachen! Ich habe das Album jetzt so oft gehört, dass ich gar keinen Abstand mehr habe, dass mich ganz oft selbst winzige Details amüsieren, die mich an irgendwas erinnern, was da los war.
VSz: Das heißt, bei euch fallen ständig
nebenbei irgendwelche Stücke ab und für ein neues Album könnt ihr dann aus
einem Fundus an dreihundert Stücken aus den letzten drei Jahren auswählen?
FC: Nein, nicht dreihundert, oh mein Gott, nein! Wir haben einfach verworfen. Das ist so: Wir haben soundsoviele Stücke, und dann muss man gucken, dass das Album nicht zu lang wird, weil die Leute sonst nachher beim Hören einschlafen, weil es zu lang ist, und dann muss man gucken, nicht nur, dass die besten Stücke draufkommen, sondern auch, dass sie zusammen eine bestimmte Atmosphäre kreieren. Das ist wie Schneiden im Film oder so. Aber sooo viel Abfall hatten wir nun auch nicht. Den können wir auch weiterhin benutzen, für B-Seiten von Singles … (alle lachen) Ist ja nicht verloren! Aber du weißt, dieser Titel „Ah! Quel Cinéma!“ ist das, was ihr auf Deutsch „Was für ein Theater!“ nennt. Ah, quel cinéma! Weil, es geht ja um … ein bisschen so verwirrte Gefühle und so weiter.
VSz: Ist das vielleicht auch ein bisschen so
ein Kreisschluss zu eurer allerersten Platte Oh Ah von 1995? Der im Titel wiederholte Ausruf „Ah!“?
BG: (schmunzelt)
FC: Also meinst du, das hier ist jetzt unsere letzte oder wie? Es fing an mit „Oh Ah“ und es endet mit „Ah! AQuel Cinéma!“?
BG: Das ist nicht das Ende, jetzt geht es wieder von vorne los, jetzt kommt Teil zwei! Aber im Ernst, es ist keine Anspielung auf die erste Platte. Ich glaube einfach, unsere Phantasie ist endlich, wahrscheinlich gibt es darum Wiederholungen. Da steckt kein Konzept dahinter, das war gar nicht beabsichtigt. Und der erste Titel wurde sogar …
FC: Wenn es nur einzeln dastünde, Quel cinéma!, aber Ah! Quel cinéma!, das ist mehr so ein bisschen …
BG: Halt! Françoise! Ich weiß die Antwort!
VSz: (bricht in haltloses Lachen aus, das war gerade zu schön!)
FC (brüllt mit trunkener-Seemanns-Stimme): Er weiß es!
BG: Das ist nämlich so: Die Ähnlichkeit … Diesmal war es der Titel, den wir ausgewählt haben. Aber bei der ersten Platte nicht, da hatte nur die Grafikerin, weil sie noch so eine Ecke Platz hatte, so Kreise gemacht, wo sie Ah und Oh reingeschrieben hat, das war so’n Gag von ihr. Und irgendwie hat sich das, ohne dass wir es wussten, als Plattentitel etabliert. Wir kehren also nicht zu einer alten Idee zurück, sondern die alte Idee kehrt jetzt zu uns zurück! Wir dachten gar nicht daran, unserer ersten Platte einen Titel zu geben, wir dachten, die heißt halt so wie die Band.
FC: Ja, zum Beispiel hatte meine erste Platte mit den Lolitas auch gar keinen Titel. Wir hätten nie gedacht, dass wir weitere machen! Und mit Stereo Total war es genau dasselbe, und plötzlich stand da Oh, Ah, Oh … Und wir so, okay, dann heißt die Platte eben Oh, Ah, fertig.
VSz: Apropos erste Platte: „Die Dachkatze“ ist nach
„Miau miau wilde Katze“ von Oh Ah
(1995) schon das zweite Stereo-Total-Katzenlied – seid ihr Katzenliebhaber oder
nutzt ihr das Tier als Symbol? Françoise sagt auf eurem Album-Teaser, Katzen
seien die Tiere, die zu Recht am häufigsten in der Rockmusik portraitiert
worden sind. Wie ist das mit den Katzen in der Rockmusik, wie ist das mit den
Katzen bei euch?
FC: Es stimmt, es gibt sehr viele Katzen, besonders im Rockabilly und im Rock’n’Roll, weil Katzen … Also, wenn es Lieder über Hunde gibt, dann hat das immer irgendwas zu tun mit Oh, ich hatte so ein Scheiß-Hundeleben oder mit Abhängigkeit à la I’m gonna be your dog, You want me to be your dog und so weiter, aber wenn man über Katzen spricht, spricht man über launische Wesen, die doch sehr nach Freiheit streben, die diese Mischung haben zwischen total anhänglich und total unabhängig.
VSz: Die Dachkatze auf jeden Fall!
FC: Ja, und auch bei Miau miau, denn Miau miau ist dann der untreue Kater. Der kommt jetzt wieder, um sich streicheln zu lassen und seine Milch zu trinken, und dann, ffft (pfeift), haut er wieder ab. Das ist dieser Aspekt, der ein bisschen was mit Rock’n’Roll zu tun hat, dieses Sichbefreien …
VSz: Dieser unbedingte Wille zur Unabhängigkeit,
zum Sichnichteinsperrenlassen.
FC: Ja, genau.
BG: Absolut. Wenn du sie rufst, kommt sie nicht – sie kommt dann, wenn du sie nicht gebrauchen kannst.
VSz: Das ist mit meinem Hund auch so …
FC: Weißt du, ich mag Hunde genau so gern wie Katzen. Ich mag beides, find ich sehr gut, so als Tiere. (B. schmunzelt)
VSz: Aber für Musik sind es dann die Katzen?
FC: Für Musik finde ich Katzen inspirierender. Dieses Ich bin dein Hund, ich bin dein Hund – das hat wirklich was mit Abhängigkeit zu tun, oder? (mit tiefergelegter Stimme) I wanna be your dog …
BG: (protestiert mittels Brummlauten)
VSz: Im Blues bestimmt.
FC: Natürlich! Arme Hunde. Oder in Frankreich, da gibt es den Ausdruck Ich bin krank wie ein Hund. Oder: Ich habe ein Hundeleben …
BG: Das sind auch traurige Burschen.
FC (in höchster Theatrer-Stimme): Die Hunde??? Naja, manche vielleicht. Aber eigentlich nicht. Also, ich mag Hunde total gern.
VSz: Eure neue Platte ist in eine A- und
B-Seite aufgeteilt. Eine Hommage an die Vinyl-Platte oder überhaupt vergangene
Zeiten?
FC: Wenn wir eine CD machen, machen wir eigentlich immer eine Platte. Es ist viel besser, eine Reihenfolge zu machen, die in zwei Teile aufgeteilt ist, also in Seite A und Seite B. Das muss zwar auch so funktionieren, aber man kann eine Kurve so machen und eine so (zeichnet die entsprechenden Kurven in die Luft).
VSz: Das heißt, auf der CD hat man dann zwei
Spannungskurven, die einfach hintereinander abgespielt werden …
FC: Ja.
VSz: Wird es die Platte auch als Vinyl geben?
FC: Klar! Alle unsere Platten gibt es als Vinyl.
BG: Es ist eher verblüffend, dass es sie noch als CD gibt.
FC: Ja, also Vinyl ist …
VSz: … euer
Medium.
FC: Ja, Vinyl fanden wir schon immer super und haben unsere Platten immer auf Vinyl gehabt, auch dann, als es out war.
VSz: Genau, es gab ja die Zeit, bevor die DJ-Kultur
Vinyl wieder hip gemacht hat, wo kein Mensch mehr Platten gehört hat.
FC: Ja, da hab ich immer super Schallplatten gekauft, weil in dieser Zeit alle Leute in so Kartons überall ihre ganzen Platten hingestellt haben, und dann habe ich ganz viele ganz billig gekauft!
BG: Schallplatten sind was Schönes! Und auch, wie Françoise sagt, dass es da eine bestimmte Struktur gibt und eine bestimmte Länge von etwa zwanzig Minuten … Das ist damals zwar wahrscheinlich einfach aus technischen Notwenigkeiten so entstanden, aber trotzdem ist es zumindest für unsere Art von Musik ein sehr guter Rahmen.
FC: Ja, dadurch, dass man auf CDs ja wahnsinnig viel draufpacken kann, höre ich manchmal CDs …
VSz: … die einfach fünfzehn Minuten zu lang
sind, ja. Man muss diese vierundsiebzig Minuten Spielzeit ja nicht ausnutzen!
BG: Aber doch, das ist doch gerade das Tolle daran!
FC: Das sagst nur du!
BG: Ja eben, das ist es doch! Die haben ja diese verrückte Format von vierundsiebzig Minuten deswegen gewählt, weil man da ja genau Beethovens Neunte Sinfonie einmal draufpressen kann. Und alle Leute, die diese CD vollpacken, denken dann: Ich bin Beethoven, dann kann ich sie auch vollmachen! Das sagt so viel über die Selbstüberschätzung und Überheblichkeit von Musikern aus: Diese Idee, alles, was ich mache, ist gut. Geben wir den Leuten mal noch ein bisschen mehr davon!
VSz: Vielleicht wissen viele Musiker gar nicht
mehr, dass das Format Beethoven geschuldet ist. Die denken eher, ich hab die
Zeit, also schöpf ich sie auch aus …
BG: Ich finde es lustig, dass die Widersprüche da so zutage treten. Von manchen Leuten ist es schon ganz schön viel verlangt, auf einer einzigen, kleinen, winzigen Single über zwei Seiten interessant zu bleiben, manchmal kriegen sie nicht mal das hin! Das ist auf einer Vierzig-Minuten-Schallplatte schon viel schwieriger; aber diesen beinahe endlosen Raum von fast achzig Minuten mit was Interessantem auszufüllen – dafür haben nicht viele Leute den ausreichend langen Atmen!
VSz: Ihr haltet euch ja sehr kurz, das sind
eher Miniaturen, die ihr da auf eurer Platte erzählt … Und gleich im Opener „Einfach“
heißt es, „es ist nicht leicht, einfach zu sein“. Auf dem Albumteaser sagt Françoise,
„unser Stil ist es, einfach zu sein“. Was heißt einfach für euch? Wo liegt das
Schwere im Einfachen, im Kurzen, was ist die Kunst daran?
FC: Früher zum Beispiel, wenn ich angefangen habe, Lieder zu schreiben, habe ich immer komplizierte Texte geschrieben. Aber ich hab gemerkt, das ist ja keine Musik, da geht es nicht darum, irgendein Pamphlet zu vertonen! Alle Lieder, die ich liebe, sind minimalistisch, reduziert, und ja: einfach! Sie benutzen einen einfachen, schönen Wortschatz. Das ist es, was die Texte betrifft. Aber was die Musik betrifft … Die Musik von Brezel ist eigentlich nicht einfach, würde ich sagen.
BG: Du bist ja eine Schmeichlerin!
FC: Zum Beispiel, wenn wir Stücke machen, machen wir sie immer kurz: Dieses Intro, diese Strophe, dieser Refrain, dieses kleine Shoobidoo, und das war’s! Wir könnten natürlich die Stücke auch total lange spielen – es gibt ja so Bands, die haben ein Thema und können das dann zwanzig Minuten lang vortragen –, aber das ist nicht unser Ziel. Wir machen’s nur ganz schnell, so wupp-wupp, gucken in ein Ding kurz rein und gehen dann wieder raus. Das hat auch etwas damit zu tun, zu versuchen, einfach zu sein, sich nicht zu verewigen. Und „es ist nicht leicht, einfach zu sein“, bedeutet für mich persönlich, wenn ich einen super Text geschrieben habe, der vier Seiten lang ist, am Ende aber nur noch zwanzig Zeilen haben soll … das stört mich oft! Aber dann erkenne ich, es war schon gut, dass ich da noch was rausgeschmissen habe.
VSz: Aber Spaß macht das nicht!
FC: Ich hasse das. Weil ich eigentlich einen faulen Charakter habe. Wenn es etwas gibt, das ich hasse, dann ist das, für die Katz zu arbeiten. Wenn man „niederschreiben“ jetzt „arbeiten“ nennt. Es macht ja eigentlich auch Spaß. Aber ich mag es nicht, wenn ich irgendwas machen und dann in den Müll werfen oder kürzen muss.
VSz: Bist du diejenige, die eure Texte
schreibt, ausschließlich?
FC: Naja, nicht ausschließlich, aber meistens. Meistens macht er (zeigt auf Brezel) die Musik. Und manchmal vermischt sich das so ein bisschen.
BG: Am flüssigsten läuft es, wenn der Text zuerst da ist. Manchmal ist das aber auch wie Zauberei. Françoise hat sich die Platte neulich angehört und gesagt, ich weiß gar nicht, wie das überhaupt entstanden ist! Manche Songs entstehen in ein paar Minuten, zum Beispiel „Mes Coupines“, das, was auf der Platte zu hören ist, ist der erste und einzige Take. Ich habe für diese Platte aber vor allem solche Musikeinfälle ausgewählt, von denen ich glaubte, dass sie zu Françoises Charakter passen. Bei den ersten Lolitas-Platten nämlich haben die Leute oft gesagt, sie klänge so ein bisschen nach Velvet Underground, sie habe so einen traurigen, Nico-artigen Appeal. Bei unseren letzten Platten habe ich immer Françoises lustige, hohe Stimme forciert, aber diesmal hab ich mich an diesen Nico-artigen Sound erinnert und gedacht, schwermütigere Lieder würden auch sehr gut zu ihr passen.
VSz: Aber spätestens seitdem ihr 2015 diese
Babystrich-Geschichte erzählt habt, sind traurigere – oder ernstere – Themen
doch bei euch zu Hause!
BG: Ab und zu, ja.
VSz: Und auf dieser Platte: Da wird von der Schwierigkeit erzählt, einfach zu sein, da ist diese eine Frau, die cool tut, um ihre Verletzlichkeit zu verbergen, da erweisen sich die besten Freundinnen als Verräterinnen, da ist die Dame, die ihr Leben im Bett verbringt und sich vor der Welt versteckt … Das sind ja alles keine leichten Charaktere oder Themen!
BG: Stimmt, wobei ich dazu sagen muss, ich empfinde das immer gar nicht als so … Oder, sagen wir mal so: Ich kann mich gut amüsieren zu Musik, die … Es gab da mal dieses Lied von Rita Mizuko über die Frau, die Krebs hat …
FC: „Marcia“ (singt: Marcia, elle danse sur du satin/ Mais c’est la mort qui t’a assassinée, Marcia)
BG: … und das ist so’n Disko-Lied, wo man auch den Refrain immer so fröhlich und total laut mitsingen kann, und das ist ein gutes Beispiel dafür, wie auch ich über ernste Themen denke. Dass es gut ist, wenn man die auch relativieren kann.
FC: Kennst du das Lied? Das ist super! Alle Leute haben immer rumgegrölt und rumgetanzt, und der Text sagt: Aber das ist der Tod, der dich umgebracht hat, Marcia, das ist der Krebs, den du bekommen hast, unter deinem Arm, Mais c’est la mort, und nur solche Sachen! Und alle haben immer getanzt, das war ein Super-Hit, in der Disko, allez hop, ganz bizarr!
BG: Das war jetzt aber auch nicht die große Inspiration, ich hab das nur als Beispiel dafür angeführt, dass es mich amüsiert, wenn Form und Inhalt erstmal nicht übereinstimmen, beziehungsweise wenn Lieder über ernste Sachen so ein spezifisches Gewicht haben, das eben nicht schwer ist. Bei den Liedern auf unserer Platte – die meisten sind zwar schon langsamer – habe ich jetzt aber nicht wirklich das Gefühl, dass sie so dramatisch sind.
VSz: Vielleicht nicht dramatisch, aber, zum
Beispiel auf Cínemascope, diese Frau, die im Bett liegt und ihr Leben an sich
vorübergehen lässt, diese Leere, in gewisser Weise dieses Existenzialistische …
FC: Ja, das ist auch ein bisschen ein Zeichen der Zeit, das reagiert auch auf die Zeit. Ich empfinde es nicht so, als ob die Zeiten so rosig wären, ehrlich gesagt.
VSz: Vielleicht auch so eine Art Gelähmtheit ..
FC: Ja, und diese Frau ist dann so: Pfff, mich kotzt alles an, ich bleibe einfach im Bett, so ein bisschen degoutiert …
BG: Wobei es sowas wahrscheinlich zu allen Zeiten gibt.
FC: Klar, aber es gab einfach auch schon viel lustigere Zeiten als jetzt. Weil es mehr Hoffnung gab, dass etwas Gutes passieren wird, und jetzt ist alles so, oh Scheiße, die Erde ist kaputt, Scheiße, Big Brother is watching you, Scheiße dies, Scheiße das … Das ist nicht so super funny, you know?
VSz: Kann man den Titel „Was für ein Theater“
auch politisch verstehen im Sinne von Welttheater?
FC: Ja, alles! Aber eigentlich schon eher im Sinne von, ach, jetzt heult sie, weil sie tanzt mit einem Phantom, jetzt meckert sie, weil dies und das, jetzt will sie plötzlich abhauen nachts … Das geht schon um dieses Mädchen, das immer so ein Theater macht!
VSz: Die Drama Queen!
FC: Die Drama Queen, ja, es ist ein bisschen so gemeint.
VSz: Also eher persönliche Dramen denn die
große Weltbühne.
FC: Ja, obwohl … Es gibt sowas wie eine Luxusaufgabe …
BG: … -ausgabe.
FC: … eine Luxusausgabe für die reichen Fans, von der aktuellen Platte, die wird eine Extra-Maxi-Single drin haben, und darauf ist ein Stück, das geht so: Tschernobyl! Fukushima! Strahlende Zukunft! Und solche Sachen. Also die armen Fans bekommen dieses Zuckerschlecken nicht (alle lachen). All unsere Platten, die sind nicht direkt politisch, aber trotzdem immer politisch.
VSz: Im Subtext.
FC: Im Subtext, ja. Da sind sie auch immer feministisch …
VSz: Auch in diesem Falle? Feministisch, die
Platte?
FC: Du meinst nicht?
VSz: Die Dachkatze, vielleicht.
FC: Ansonsten ist sie vielleicht ein bisschen heulerisch, was vielleicht der Unterschied zwischen ihr und den anderen Platten ist. Naja, nächstes Mal holen wir das nach!
VSz: „My Idol“ erinnert mich an den japanischen
Idol-Kult. Da gab es neulich diese WDR-Doku „Tokyo Idols“ über die hübschen,
aufreizenden Schulmädchen und ihre sehr viel älteren, männlichen Fans. Das Lied
erinnert mich auch von der Anmutung her ein bisschen an diese Plastik-Welt. Hattet
ihr das im Sinn, als ihr den Song geschrieben habt?
FC: Nee, ich wollte einen Text machen mit Buchstaben. Das ist: ID – IDol, das hat eigentlich gar keine Logik, mal sind es die ersten zwei Buchstaben von dem Wort, manchmal nur der erste, wie bei NCR – Nuclear Chain Reaction. Das ist so ein bisschen ein absurder Text, aber ja, ich wollte schon, dass es ein bisschen hysterisch klingt, wie japanische Lieder. Deswegen mach ich: (singt Schlenker und Kiekser). Das ist sehr japanisch! Ich bin Fan von japanischen Girl-Bands, ich spiele die immer in meiner Radiosendung bei Radio Eins. Hörst du meine Radiosendung bei Radio Eins?
VSz: (macht sich um eine Antwort herumdrückende
Geräusche)
BG: Hehehe.
VSz (hat die Fassung wiedergewonnen): Bis jetzt
noch nicht. Aber ich werde das nachholen.
FC: Okay, gut. Jeden vierten Dienstag im Monat zwischen neun und elf Uhr abends. Und da spiele ich sehr viele japanische Gilr-Bands, weil ich diesen Stil mag. Wiederum: non! Also, diese Art, dass alte Säcke auf kleine Mädchen stehen in Japan … Also, ich hab nicht vor, dass jetzt alte Säcke auf mich stehen, nur, weil ich dieses Lied gesungen habe! Wenn schon, dann müsste ich lieber jüngere … (alle lachen wieder) Aber im Grunde wollte ich bei diesem Lied nur dadaistisch mit Wörtern spielen, und ich wollte, dass es sich ein bisschen so anhört wie dieses hysterische japanische Ding, weil ich das sehr gerne mag als Stil.
VSz: Ist Dadaismus so ein Konzept bei euch?
FC: Dadaismus? Ja, also, wir sind keine dadaistische Band, aber das Absurde hat schon seine Reize. Ich mag manchmal so absurde Situationen ganz gern, absurde Texte, absurde Sachen, ja. Allerdings nicht als Konzept, denn wir machen unsere Lieder immer so ein bisschen unbewusst. Was kommt, kommt. Und jetzt müssen wir schon feststellen, diese Platte ist ja nicht so superlustig wie die anderen. Na, das ist mal ein Unterschied! Es ist auch gut, sich nicht ständig zu wiederholen. Auch nicht in der Stimmung. Das, was an dieser Platte auch noch anders ist, ist, dass es wahnsinnig viele deutsche Texte gibt. So viele deutsche Texte hatten wir noch nie! Ich glaube, es gibt hier sogar mehr deutsche Texte als englische und französische. (Wir zählen.) Drei französische, drei englische, alles andere deutsch! Na dann! Man kann echt nicht meckern hier in Germany! Sonst haben wir auf den Platten gar nicht so viele deutsche Lieder. Ich habe auf Platten auch schon japanisch, spanisch und italienisch gesungen, live auch portugiesisch und griechisch … und isländisch! Wir haben eine ganze Platte auf Spanisch, die wir in Südamerika herausgebracht haben. Auch Italienisch gefällt mir wahnsinnig gut. Aber es lohnt sich kaum noch, diese Sprache zu lernen. Während Spanisch zu können super ist, das ist nach Chinesisch die zweithäufigste Sprache in der Welt! Und erst dann kommt Englisch. Auch Französisch steht nicht so schlecht da, wegen den ganzen ehemaligen Kolonien in Afrika und den Überseedépartements wie Guadeloupe und so weiter. Deutsch, buff, geht so. Spricht man ja nicht so sehr, außer man würde auch noch Schwitzerdytsch und Österreichisch mitrechnen …
VSz: Euer erstes gemeinsames Stück soll ein ein auf Kassette aufgenommenes, erotisches Küchenrezept von 15 Minuten Länge gewesen sein – heute produziert ihr immer noch auf Kassette, heißt es. Wie entstehen eure Stücke technisch, wie nehmt ihr sie auf?
FC: Das hängt von den Platten ab. Die aktuelle wurde in unserem Übungsraum mit einem Acht-Spur-Kassettenrekorder aufgenommen …
BG: … der portabel ist und mit uns mitreist, so konnten wir mit ihm auch auf Tour aufnehmen. Das sind im Grunde genommen technische Feinheiten, aber die Idee, die dahintersteckt, ist ja: Er hat einen sehr schönen Klang. Und manchmal ist das auch gerade so ein Klang, den man heutzutage sucht, wenn man diesen klinischen Klang, der möglich ist, gar nicht haben will, sondern wieder versucht, den mit Wirklichkeit anzureichern. Dann ist es auch sehr schön, wenn man die Stücke so aufnimmt, wie sie später einmal klingen werden und sie nicht zusammensetzt. Dadurch muss man auch mehr Gedanken an das fertige Lied aufwenden. Es ist eine andere Strategie, die auch zum Ziel führt. Und das Schöne ist: Es gibt so einen sehr gemütlichen Aspekt bei Kassettenaufnahmen – sie kosten nichts! Man kriegt sie auf dem Flohmarkt und es ist technisch sehr einfach, sehr effizient, und es ist wohltuend, wenn man sich nicht mit diesem komplizierten Computer, der auch irgendwas verlangt – Aufmerksamkeit, oder man muss irgendwas verändern oder dazukaufen – auseinandersetzen muss. Es ist, als würde man etwas geschenkt bekommen.
VSz: Es sind also analoge
Aufnahmen.
FC/BG: Ja.
VSz: Und es gibt auch
keinen großartigen Postproduktionsprozess, sondern die Titel erscheinen so auf
der Platte, wie ihr sie beim ersten Mal aufgenommen habt …
FC: Ja, deswegen gibt es auch ein paar Fehler hier und da.
VSz: Als liebevoll
gehegter Dilettantismus?
BG: Ja, das ist so ein bisschen wie das, worüber wir vorhin gesprochen haben, als es darum ging, ob wir für Berlin repräsentativ sind. Ich gehe immer und sammle von der Straße auf, was da so rumsteht – und unter anderem habe ich das Mischpult, mit dem wir diese Platte abgemischt haben, da gefunden, da stand drauf „Profi Sound“ – und das hat mich sofort überzeugt! Wir haben es ausprobiert, und es hat wirklich sehr gut geklungen. Und das ist auch etwas, wovon ich denke, dass man diesen Klang jetzt nicht kaufen könnte oder dass es zumindest sehr schwierig wäre. Er ist durch die Umstände entstanden, wir haben uns das selber ausgesucht oder es ist zu uns gekommen …
VSz: Das heißt, ihr
kultiviert diesen LoFi-Klang auch.
FC: Ja. Aber das ist für mich nicht unbedingt LoFi … Man muss sich vorstellen, dass die ganzen Stücke, die jetzt im Radio laufen, irgendwelche Puzzles sind, die in aberstundenlanger, minuziözer Arbeit entstanden sind, in irgendwelchen Studios, wo Leute rumfummeln mit ihrem Computer, blabli, blabla, die haben sehr oft so einen klinischen Sound. Und weil er so unnatürlich klar ist, versuchen diese Leute jetzt nachträglich, ihn ein bisschen dreckiger zu machen, ein bisschen Leben hineinzufügen. Aber bei uns ist das ganz anders. Einen Teil spielen wir live – am Anfang spielen wir immer etwas zusammen, zum Beispiel Gitarre und Schlagzeug. Das wird sofort mit diesem Ding aufgenommen. Das heißt, wenn ein Moped vorbeikommt, hört man das Moped, wenn die Typen nebenan im Übungsraum Heavy Metal spielen, dann hört man das vage, wenn man gute Ohren hat. Und dann spielt noch jeder von uns etwas darauf. Kleine Synthies, Piano, Singen, Shoobidoo. Und dann am Ende setzen wir uns an dieses analoge Mischpult und dann wird es einfach zusammengemischt. Dann gibt es noch ein paar kleine, altmodische Effekte – zum Beispiel eine Echomaschine, das ist so ein Band, das sich rollt, das sind keine künstlichen Dinger! Und dadurch erzeugt man einen Sound, den man als dilettantisch oder so bezeichnen kann, aber für mich ist es einfach ein Sound, der lebendiger ist, der mehr Wärme hat! Weil diese ganzen modernen, superproduzierten Dinger, die sind kalt wie – brrr! Wie wenn man eine Kühlschranktür aufmacht.
BG: Es ist genau, wie Françoise sagt: Die anderen sind lofi, wir sind high fidelity, wir machen hochwertige Analgogaufnahmen in einem echten Studio – die anderen, das sind Dilettanten, die am Computer rumfummeln, die sind Frankenstein, die setzen aus Leichenteilen ein Monster zusammen! Das hat auch seinen Reiz, das ist auch sehr schön, aber wir machen es anders.
FC: Wir sind da ein bisschen altmodisch.
BG: Nee, die anderen sind billig, wir sind hochwertig! (lacht)
FC: Zum Beispiel bei meiner Band, den Lolitas, da waren wir vier Musiker, und damals hat man so aufgenommen: Wir waren im Studio, für das wir meistens nicht genug Geld hatten, also mussten wir unsere ganze Platte in drei Tagen aufnehmen. Das war das Budget, drei Tage lang Studio. Dann mussten wir es am ersten Tag erstmal schaffen, alle vier zusammen eine Aufnahme zu haben, die okay ist, wo sich kein Idiot im letzten Couplet vertan hat, sonst musste man alles wieder von vorn machen, denn es wurde ja alles zusammen aufgenommen! Und das haben wir bis heute ein bisschen beibehalten, aber gottseidank sind wir ja nur zu zweit, da sind die Wahrscheinlichkeiten, dass man sich bei der letzten Note vertut, ein bisschen reduziert.
VSz: Das heißt, man
kann sagen, es sind Live-Aufnahmen.
FC: Es sind Live-Aufnahmen mit Addenda. So mit Dingern, die dazukommen.
VSz: Und dazu gehört
auch ein Kosmos aus selbstgebauten Instrumenten. Hast du, Brezel, hierfür ein
Beispiel?
BG: Zum Beispiel meine Gitarren, die habe ich selbstgebaut. Angefangen hat das, weil ich am Anfang gar nicht so viel Geld dafür hatte. Da hat mir jemand so ein paar zerbrochene Teile geschenkt und daraus habe ich die ersten zusammengesetzt.
VSz: Also aus der Not eine Tugend gemacht?
BG: Ich sehe das aus der Not Geborene immer positiv im Sinne von Selbstermächtigung: Ich kann Ingenieur sein, ich kann der Tontechniker sein, wir können unsere Platten komplett selber machen … Die Leute sagen immer, genialer Dilettantismus ist eine Kunstrichtung, aber seit ich davon als Teenager erfahren habe, war es für mich schon immer eher sowas wie eine Handlungsstrategie oder eine Handlungsanweisung, wie man es auch machen kann. So eine Art anti-akademische oder anti-wissenschaftliche … Also, nicht Wissen als Hierarchie, sondern dass man das komplett unterlaufen kann. Auch als geschäftliches Konzept. Es hat mich einfach begeistert, dass wir, dadurch, dass wir wenig Instrumente hatten, einfach überall spielen konnten – nicht wie ne Rockband, wo die Roadies kommen und die Verstärker reinschieben, dann wird mit dem Bus losgefahren … Sondern, dass man so eine Guerilla-Strategie hatte, man brauchte diesen ganzen Scheiß nicht!
FC: Wenn wir Konzerte haben – zum Beispiel am Wochenende spielen wir in Wiesbaden –, fliegen wir dahin, jeder hat nur einen Koffer und fertig. Da sind die ganzen Instrumente drin. Okay, die Ständer für das Schlagzeug müssen wir bestellen, aber das war’s.
BG: Aber da hat uns auch wieder die Zeit eingeholt. Als wir mit Stereo Total angefangen haben, was das ungewöhnlich. Da gab es vielleicht Techno-DJs, aber es gab jetzt niemanden … Ich hatte immer das Gefühl, dass es jetzt wie so ein leeres Land ist, wo man hingeht, gerade macht niemand sowas. Aber irgendwann war das ganz normal. Das Konzert war dann, jemand legt eine CD ein und singt dazu oder bewegt sich dazu. Und dann war klar, das ist jetzt der Standard. Die Zeit hat sich mehrmals an uns vorbeigedreht.
FC: Aber wir legen keine CD rein!
BG: Nein, aber was ich meine: Das Format von einer Rockband, das hat es dann schon gar nicht mehr gegeben.
VSz: Ist Stereo Total eine Band, seid ihr
Musiker, oder ist das ein Performance-, ein Kunstprojekt?
FC: Wir sind eine Band, aber ich glaube, es gibt eine ganze Welt oder eine ganze Vision, die dazugehört. Wir haben zwar kein Modelabel und auch kein Parfüm entwickelt, aber es gibt so eine bestimmte Ästhetik. Zum Beispiel bei den Fans, die zu unseren Konzerten kommen, merkt man das, das ist ein bestimmter Stil von Leuten. Wir haben das bestimmt nicht kreiert, aber es hat sich so ergeben. Es ist nicht nur die Musik, es ist auch das Ganze, das drumherum ist.
VSz: Ein Lebensgefühl.
FC: Ja, das Lebensgefühl, wie die Sachen gemacht werden, wie die sich anhören, wie die aussehen – alles. Zum Beispiel ist uns immer wichtig, wie unsere T-Shirts aussehen, wie unsere Bühne aussieht, und wir machen nicht unbedingt das, was hip ist – zum Beispiel wollen wir nicht, dass da irgendein Scheiß projiziert wird –, wir haben unsere eigenen Ideen und wir wollen, dass das so ist. Das hat auch etwas zu tun mit Freisein, originell, die Kontrolle behalten. Wir lassen überhaupt niemanden … Also, wenn wir zum Beispiel irgendwann zur Industrie gegangen wären, dann hätten die gesagt, oh ja, die Schlagzeugerin, die ist schon ganz gut, aber für die Platte muss da jemand anders spielen, oder: Für das Cover, dafür sieht sie kacke aus, da brauchen wir einen Super-Make-up-Artist … Nee nee nee. Das wollen wir nicht, wir machen immer alles selbst.
VSz: So ein bisschen wie die Dachkatze. Stereo
Total ist die Dachkatze!
FC: Ja, genau. (alle lachen) Wir sind ja ganz nett, aber dennoch darf man uns nicht vorschreiben, was wir sollen. Wir entscheiden alles: Welche Stücke in welcher Reihenfolge, wie sieht das Cover aus, wie sehen die T-Shirts aus, wer kommt mit uns auf Tour, wer nicht … alles! Wir sind sozusagen unsere eigenen Bosse.
VSz: Ich sehe gerade voller Schreck, dass wir
schon eine ganze Stunde geredet haben! Gibt es noch etwas, was die Welt zu
diesem Album wissen muss?
BG: Gut, dass es da nichts gibt, sonst würde es jetzt noch eine Stunde dauern! (alle lachen)
FC: Also, ich finde … Ich mache jetzt Eigenwerbung, aber egal! Das Album gefällt mir wirklich gut.
BG: (lacht)
FC: Als ich es das letzte Mal gehört habe, im Bett mit meinen Kopfhörern, da dachte ich mir, wow, das ist ja ganz schön … das ergibt so eine Einheit, die echt ganz flott ist. Das gefällt mir. Und ich empfinde das wirklich als ein Anderes. Als eine andere Art von Stereo Total. Okay, wir haben immer die Tendenz zu denken, unsere neue Platte ist jetzt ganz anders als die anderen, und dann später merkt man den Unterschied nicht mehr so sehr. Manchmal war es bei Best-of-Platten so, dass man nicht mehr sagen konnte, war das Stück jetzt auf der ersten, auf der zweiten, auf der zehnten Platte? Aber trotzdem finde ich diese hier ein bisschen anders.
VSz: In zwei, drei Worten, warum?
FC: Weil wir versucht haben, andere Gefühle zum Ausdruck zu bringen.
BG: Und auch schon, dass Françoise … von ihr ist ein Foto auf dem Cover, das ist schon ein bisschen älter, aber von mir ist ein Foto drauf, auf dem ich älter aussehe als ich bin … Das ist eine Zeitmaschine, die Platte. Zeitmanipulation.
FC: Das Coverfoto wurde in London auf dem Friedhof, wo Karl Marx begraben ist, aufgenommen.
BG: Und das ist auch wieder etwas, das bei dieser Platte so gut war: dass es eigentlich automatisch zu uns gekommen ist. Wir haben die Bilder zufällig in so einem Fotoalbum gefunden ..
FC: Auf dem Dachboden meiner Mutter!
BG: Man musste nicht suchen oder sich nicht groß verbiegen, keine großen Anstregungen unternehmen. Und so ist das auch mit der Musik gewesen. Die hat sich ab einem bestimmten Zeitpunkt ganz sinnfällig ergeben. Nichts an der Platte war sehr mühsam zu machen. Das gefällt mir gut an ihr. Und deswegen klingt sie wahrscheinlich auch so traurig.
Stereo Total in der aktuellen zitty
Kommentare deaktiviert für „Das Absurde hat schon seine Reize.“ Interview mit Stereo Total
Im Vorfeld der Jazzwoche Berlin habe ich nicht nur mit Kathrin Pechlof und Bettina Bohle von der IG Jazz Berlin gesprochen, sondern auch mit Saxophonist Wanja Slavin. Ergebnis ist die Musiktitelstory im heute erschienenen Stadtmagazin zitty. Das Volltextinterview mit dem Berliner Jazzer, der meint, dass Berlin nach New York zweitwichtigste Jazzstadt der Welt ist und der dem kleinen Club jederzeit den Vorzug vor der Festivalbühne geben würde, obwohl da eventuell ein „Kack-Klavier“ steht, ist hier nachlesen:
Victoriah Szirmai: Während der Jazzwoche Berlin spielst du am 29.6. mit deinem neuen Trio im Donau 115. Was bedeutet es für dich als Berliner Jazzmusiker, dass diese Jazzwoche geschaffen wurde – verbindest du irgendwelche Hoffnungen, Erwartungen mit ihr?
Wanja Slavin: Ich bin leider politisch total … wie sagt man? Faul wäre jetzt das falsche Wort, aber ich würde mich da wirklich gern mehr engagieren! Und ich finde es supercool, was sich in den letzten Jahren dank der IG Jazz entwickelt hat. Kathrin Pechlof, Magnus Schriefl, Bettina Bohle, der ehemalige Vorstand Johannes Lauer und all die anderen, die machen echt eine Wahnsinnsarbeit! Ich finde die Idee ganz cool, dass der alltägliche Berliner Jazz durch die Jazzwoche mal politisch sichtbarer wird. Es geht doch hier vor allem um Politik, oder?
VSz: Es geht um Politik, aber auch darum, dass das Genre an sich sichtbarer wird, dass gezeigt wird, wie reich diese Stadt eigentlich an Jazz ist – und zwar immer. Dass Berliner Musiker, die irgendwelche hochgehypten Festivals in New York oder sonstwo spielen, in ihre Stadt zurückkommen – und hier kriegt das keiner mit! Dass wirklich aufs Trapez gebracht wird, wie hochkarätig dieser Jazz hier eigentlich ist, weshalb ich dachte, dass für euch Musiker vielleicht die Erwartung dranhängt, danach besser wahrgenommen zu werden oder so.
WS: Es ist schwierig zu sagen, was das für mich als Musiker
bedeutet. Aufmerksamkeit ist ja immer gut! (lacht) Ich muss aber ehrlich sagen,
dass ich nicht das Gefühl habe, dass es so wenig Aufmerksamkeit gibt. Und ich
weiß auch nicht, ob ich mir da jetzt etwas Besonderes für mich erwarte.
Eigentlich nicht. Aber ich glaube, dass es gut ist, dass aufgrund des breitgefächerten
Programms der Jazzwoche mal ein Querschnitt davon dargestellt wird, was alles so
in Berlin passiert. Es ist ja in dem Sinne kein kuratiertes Festival. Ich
meine, es gibt so viele gute Reihen, zum Beispiel das Future Bash in der
Zukunft am Ostkreuz. Das läuft jetzt schon seit zwei Jahren, das wird von Felix
Henkelhausen und Ludwig Wandinger gemacht, die sind beide noch total jung,
dreiundzwanzig oder so, aber das ist total geil, dass die hier ihr eigenes Ding
gestalten, ihre eigene Reihe, eben interessante Konzerte machen und
interessante Leute einladen … Und dass solche Veranstaltungen vielleicht ein
bisschen mehr Aufmerksamkeit kriegen, dafür ist die Jazzwoche gut! Aber weißt
du, das Donau ist eh immer voll. Das ist ja auch ein kleiner Laden. Das ZigZag
ist auch immer voll. Aber es gibt auch viele coole Sub-Reihen, die eher unter
dem Radar laufen, und ich glaube, es ist ganz schön, wenn die auch mal ein
bisschen Aufmerksamkeit bekommen und da mal ein paar mehr Leute hingehen.
VSz: Ist Jazz ein Genre, das tatsächlich noch mehr Aufmerksamkeit braucht? Hier in der Stadt?
WS: (überlegt) Hm, schwierige Fragen! Ich glaube, die Politiker müssen darauf aufmerksam gemacht werden. Ich meine, Berlin ist wahrscheinlich nach New York die zweitwichtigste Jazzstadt auf der Welt. Hier wohnen wirklich so viele gute Musiker, also auch internationale Musiker. Das ist, glaube ich, vielen nicht klar, wie wichtig diese Jazzszene hier ist.
VSz: Was macht die Szene hier so wichtig?
WS: Ich meine, die Stadt ist halt cool – und deswegen ziehen alle hierher. Deswegen bin ich auch hierhergezogen. Ich bin eigentlich nicht wegen der Jazzszene hierhergekommen, sondern weil ich die Stadt einfach so toll fand. Es hat sich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren so entwickelt, dass das halt eine super Szene geworden ist. Als ich nach Berlin kam, gab es ehrlich gesagt auch noch nicht so viele Musiker hier.
VSz: Wann bist du denn hierhergekommen?
WS: Das war etwa 2004. Da war das schon noch so sehr … Also, mein Gefühl damals war, dass die Berliner Jazzszene noch so eine Art Kleinstadtszene war, anders als in München oder Köln. Und nach und nach sind dann aus der ganzen Welt so viele Musiker hierhergezogen, die sehr unterschiedliche Sachen machen. Es gibt jetzt auch nicht mehr unbedingt so einen Sound in Berlin, so einen Stil.
VSz: Wie damals beim Techno, wo man sagen konnte, das ist jetzt der Berlin-Sound. Es gibt jetzt also nicht den Berlin-Jazz?
WS: Nee, dazu ist das, was passiert, zu divers. Es gibt schon diese Old-School-Free-Jazz-Typen wie von Schlippenbach, Aki, Roedelius und was weiß ich – das würde ich sagen, ist schon so ein Berliner Jazz-Sound, was die kreiert haben. Aber alles, was nachgekommen ist an jungen, auch internationalen Leuten, da erkenne ich jetzt keinen bestimmten Stil. Es ist hier in der Stadt halt einfach möglich, zu spielen. Eigentlich kannst du jeden Tag ein Konzert spielen – und es gibt auch Publikum. Ich meine, es gibt halt echt viele Läden, wo es immer voll ist und wo auch junge Leute hinkommen.
VSz: Wobei das gerade etwas ist, das die IG Jazz bemängelt: Dass du zwar jeden Tag spielen kannst, aber davon auf Publikumsbasis nicht leben kannst.
WS: Klar, aber meine Sicht auf Jazz ist so: Ich mag es am liebsten, im kleinen Club zu spielen. Ich finde, dass die Musik dort am besten klingt, dass sie da hingehört. Und nicht in die Philharmonie. Weil, und das ist jetzt meine ganz persönliche Meinung, es in der Philharmonie einfach scheiße klingt, das ist total hallig. Ich bin aber auch kein Fan von großen Festivalbühnen, da klingt es auch nie toll. Aber das Problem mit so kleinen Orten ist, dass da halt nur dreißig Leute reinpassen, oder vierzig oder fünfzig. Und dann kann man sich ja ausrechnen, dass man entweder unbezahlbare Eintrittspreise verlangen müsste oder … ja, es reicht halt einfach nicht wirklich.
VSz: Heißt: Jazz braucht Spielstättenförderung.
WS: Ja, auf jeden Fall! Und auch gutes Equipment in den Spielstätten! Ich meine, es gibt so viele Läden, wo es eigentlich schön ist, aber da steht dann so ein Kack-Klavier rum …
(beide lachen)
VSz: Hast du ein Beispiel?
WS: Ja, im Sowieso zum Beispiel oder auch im Donau. Im ZigZag war es auch grauenhaft, jetzt haben sie endlich einen neuen Flügel gekauft – das hat aber fünf Jahre gedauert. Ich meine, der einzige Laden, der einen wirklich guten Flügel hat, ist das A-Trane. Gerade für akustische Musik ist es da wahnsinnig gut.
VSz: Auch das Gebäude selbst hat einen schönen Klang.
WS: Ja, das ganze Holz und so, das find ich toll! Aber um auf die Frage nach der Spielstättenförderung zurückzukommen: Es müsste einfach allgemein ein bisschen mehr Förderung geben, weil es in der Stadt einfach zu viele Musiker gibt.
VSz: Das heißt, das Schöne an der Szene, dass sie so groß und so vielfältig ist, bricht ihr gleichzeitig den Nacken?
WS: So würde ich das jetzt eigentlich nicht ausdrücken. Aber es wäre schön, wenn es mehr Förderung gäbe. Es gibt einfach so viele Projekte, die das verdient hätten. Beim Senat werden jedes Jahr so viele gute Projekte eingereicht, und dann gibt es nur maximal achttausend Euro für beispielsweise ein Stipendium. Ich meine, das Geld reicht halt einfach nicht. Um eine CD-Produktion zu machen, zum Beispiel. Ein paar Leute kriegen das dann, und der Rest muss es nächstes Jahr wieder versuchen. Vielleicht klappt das bei dem individuellen Musiker alle zehn Jahre mal, aber das ist halt einfach zu wenig.
VSz: Weil Jazz, etwa im Vergleich mit Klassik, nicht ernst genommen wird?
WS: Denkst du?
VSz: Ich frage. Ich hatte gestern mit Kathrin Pechlof und Bettina Bohle von der IG Jazz gesprochen, die gerade versuchen, Jazz als Kunstmusik zu etablieren – nicht, um den Gegensatz von U und E zu zementieren, sondern um Jazz aufzuwerten, damit er nicht in die Unterhaltungsschublade fällt, die dem Senat auch weniger Geld wert ist. Ich halte das für einen interessanten Ansatz, darüber hatte ich bislang nicht nachgedacht.
WS: Ich glaube, dass das politisch schon wichtig ist. Vor allem in Berlin gibt es wirklich viele Projekte, die nicht unbedingt auf große Jazzfestivals eingeladen werden. Die meisten großen Jazzfestivals buchen letztendlich eh nur Pop-Acts und Schwachsinn. Dabei ist Jazz wirklich keine Unterhaltungsmusik! Es muss klargemacht werden, dass er gleichwertig ist mit Neuer Musik. Und dass das Level einfach so wahnsinnig hoch ist. Die Stadt kann ja stolz drauf sein, eigentlich!
VSz: Wie würdest du die Situation des Jazz in Berlin summarisch beurteilen?
WS: Also, ich persönlich bin total glücklich, hier zu sein. Und ich will auch nicht unbedingt wieder weg (lacht)! Es gibt tolle Musikerinnen und Musiker, das ist einfach eine super Stadt! Und auch, wenn es jetzt immer teurer wird und immer fuzzimäßiger, gibt es trotzdem immer noch genügend coole Orte – und ich hoffe, das bleibt erhalten! Ich meine, wenn die ganzen Großinvestoren hierherkommen und alles wahnsinnig teuer wird, dann muss vielleicht auch die Stadt helfen, dass ein Laden überleben kann. Es wäre sehr schade, wenn man das, was ist, vor die Hunde gehen lassen würde. Weil es etwas sehr Besonderes ist. Es muss den Leuten irgendwie klargemacht werden, was sie hier haben.
VSz: Dass es etwas Einmaliges ist, das es zu erhalten gibt.
WS: Ja, auf jeden Fall, das gibt es sonst nicht in Europa! Also, ich hab das zumindest noch nie gesehen, und ich bin ja schon echt viel unterwegs. Es ist halt einfach … das gibt’s halt sonst nicht.
Die Jazzwoche in der aktuellen zitty
Kommentare deaktiviert für Jazz gehört in den Club. Interview mit Wanja Slavin zur Jazzwoche
Der Jazz in Berlin ist Weltklasse – die Arbeitsbedingungen der Musiker sind es nicht. Die Jazzwoche Berlin, die auf das Besondere im Normalen abhebt, will das ändern. Wie genau, haben mir Kathrin Pechlof und Bettina Bohle von der IG Jazz Berlin für das am 13. Juni erschienene Stadtmagazin Tip verraten. Da dort aber nur ein Bruchteil unseres Gesprächs angerissen werden konnte, gibt es das ganze Interview hier. Neben der unzureichenden Jazz-Infrastruktur Berlins widmen wir uns der ewigen (und wohl ewig unbeantwortet bleibenden) Frage, was Jazz eigentlich ist, was die Interessen dieses Genres, das von meinen Gesprächspartnerinnen als Kunstmusik verstanden werden will, sind – und der Faszination einer Musik, die im Moment entsteht und den, der dabei ist, für immer verändert.
Kathrin Pechlof (link), Vorstand, und Bettina Bohle (rechts), Geschäftsführung, IG Jazz Berlin
Victoriah Szirmai: Berlin hatte gerade von Mittwoch bis Sonntag mit dem XJAZZ-Festival fünf Tage voller Jazz mit Besucherrekorden … Es scheint ja nun nicht gerade so zu sein, dass Jazz hier in der Stadt noch nicht angekommen wäre. Wozu braucht es dann noch eine Jazzwoche?
Kathrin Pechlof: Das ist vollkommen richtig, der Jazz ist schon längst da. Und findet statt an sehr vielen verschiedenen Orten – und in einer sehr hohen Qualität, die auch international wahrgenommen wird und Impulse setzt, die weit über die Stadt hinausgehen. Das sieht man an Kooperationen und wie Veröffentlichungen von Berliner Musikern wahrgenommen werden und so weiter. Aber dadurch, dass es keine zentrale Institution, also keine große Spielstätte gibt und alles sehr kleinteilig über die Stadt verteilt ist, bleibt das irgendwie immer auf so einem bestimmten Level, was die Kommunikation in die Stadtgesellschaft betrifft. Die Konzerte finden in kleinen Cafés statt, in Clubs, wo die Reichweite über den Kiez und die eigene Facebookfilterblase nicht hinausgeht. Dass wir darüber hinauskommen, ist unser Anliegen mit dieser Jazzwoche. Um eben mal einen Fokus draufzurichten: Was passiert eigentlich die ganze Zeit schon in der Stadt? Es ist ja auch kein kuratiertes Festival im Sinne von „Wir haben jetzt mal die tollsten Leute zusammengestellt“, sondern wir zeigen … also, es wird in dieser Woche gezeigt, was *immer* passiert!
VSz: Wenn Sie sich jetzt eine Woche herausgegriffen haben, in der Sie zeigen, was ohnehin da ist – woher weiß dann die Stadtbevölkerung: Das ist jetzt die Jazzwoche? Wie wird es zur Jazzwoche, wenn sie das, was da ist, von „unter dem Radar“ auf den Radar heben wollen?
KP: Also ganz einfach: Indem man es so benennt. Und so auch gebündelt präsentiert. Und es medial auch mal mit einer anderen Wirksamkeit vermittelt. Da gibt es eine PR-Agentur, die sich darum kümmert, es gibt ein Logo und eine Webseite im Field-Notes-Magazin. Es ist ganz neu, dass der Jazz in die Field Notes reingenommen wurde. Das Narrativ ist: Wir zeigen das, was schon da ist, nur auf eine Art, dass es eben auch Mal aus einer größeren, einer erweiterten Perspektive gesehen wird. Dazu haben wir aber auch noch ein Rahmenprogramm mit verschiedenen Diskussionsveranstaltungen, wo wir Themen behandeln, die uns relevant erscheinen.
VSz: Apropos Programm: So ein Booking braucht ja immer etwas Vorlauf. Wann wussten Sie, genau da wird die Jazzwoche stehen, wann wussten es die Clubs?
Bettina Bohle: Wir haben tatsächlich letzten Sommer angefangen, das zu vermitteln. Wir werden ja über die Senatsverwaltung für Kultur und Europa gefördert. Als wir den Antrag eingereicht haben, haben wir sofort kommuniziert, dass diese Woche – abhängig von der Förderung – eventuell stattfinden wird, und haben den Veranstaltern vermittelt: Schaut, dass das Programm, das ihr in dieser Woche fahrt, für euer Profil aussagekräftig ist. Gleichzeitig muss man aber wirklich sagen: Das Programm ist tatsächlich einfach *immer* so hochkarätig, man muss sich da gar nicht besonders ins Zeug legen! Man könnte jede beliebige Woche herausgreifen und sie ist immer hochkarätig. Das ist genau der Punkt der Jazzwoche.
KP: Es ist jetzt auch nicht so, dass sich alle Clubs darauf fokussiert haben. Viele hatten tatsächlich ihr Programm für die Woche auch schon gebucht. Es hat eine Weile gedauert, bis klar war, welche Woche es denn sein wird. Es gab so viele verschiedene andere – auch logistische – Faktoren, die beim Finden eines geeigneten Zeitpunktes eine Rolle spielten – und da war bei vielen das Programm einfach schon gebucht. Auch darum glaube ich, kann man guten Gewissens behaupten, dass das ein echter Ausschnitt ist. Es ist jetzt nicht so, dass die auf einmal alle gesagt haben: Ah, jetzt nehmen wir diese Woche mal ganz viel Geld in die Hand und bezahlen einen tollen Star.
VSz: Es bildet ab, was passiert.
KP: Ich finde, wenn man sich das Programm anschaut, ist es eine total gute, authentische Mischung. Es ist jetzt keine PR-Masche oder so, sondern hier passiert, was sonst auch passiert.
VSz: Sie sagen so oft „wir“: Wir mussten gucken, einen Termin zu finden, werden gefördert … „Wir“ ist in diesem Falle die IG Jazz, richtig?
KP: Die IG Jazz Berlin, ja.
VSz: Warum ist die Entscheidung gerade auf diese Woche, die
ja gefährlich nah am Sommerloch ist, gefallen? Logistische Gründe?
BB: Also, ein
wichtiger Faktor war die Verleihung des Jazzpreises Berlin an Axel Dörner.
VSz: Der generell an diesem Tag oder in dieser Woche verliehen wird?
BB: Der meistens im Juni verliehen wird. Und dann spielten verschiedene andere Faktoren eine Rolle, welcher Tag genau ausgewählt werden sollte und die wir versucht haben, abzustimmen. Wir haben wirklich sehr lange darüber nachgedacht, was ein guter Termin ist. Man wird wahrscheinlich nie einen finden, der allen passt, aber … ja.
VSz: Es ging darum, die Woche mit dem Jazzpreis auszusuchen …
BB: Das wollten wir sehr gerne, ja. Weil wir den Preis auch ursprünglich initiiert haben und deshalb schon finden, dass er dazugehört.
KP: Es ist eine sehr wichtige Einrichtung für die Berliner Szene, dass es ihn gibt. Er wird ja schon zum dritten Mal verliehen …
VSz: Wer waren die letzten Preisträger?
BB: Gebhard Ullmann war der erste Preisträger, dann die Pianistin Aki Takase – und dieses Jahr eben der Trompeter Axel Dörner.
VSz: Und das fand bisher auch im jährlichen Rhythmus statt, also 2017, 2018 und jetzt 2019?
BB: Richtig.
KP: Genau. Und das ist gerade dabei, sich zu etablieren. Es ist für die Szene total wichtig – und auch für die Außenwirkung. Darum war auch klar, dass die Preisverleihung in der Jazzwoche mit drinsein muss. Natürlich hat aber der RBB, der den Preis ausrichtet, auch wieder eigene Zwänge, Dinge wie: wann ist der Saal frei, wie kann das mit dem sonstigen Programm vereinbart werden … Außerdem sollte die Jazzwoche nicht zu nah an XJAZZ sein, und dann musste auch der Vorlauf lang genug sein, es hatte also einfach technische Gründe.
VSz: Die IG Jazz, die den Jazzpreis Berlin initiiert hat – versteht die sich als Interessenvertretung aller Jazzmusiker in Berlin oder ist das ein Verein, der nur die Interessen seiner Mitglieder vertritt? Was genau macht die IG Jazz?
BB: Also, die IG Jazz Berlin steht für die gesamte Berliner Jazzszene. Nicht nur für die Musiker, sondern auch die Veranstalter und Veranstalterinnen, für alle, die sich in dem Bereich Jazz und improvisierte Musik bewegen. Auch Journalisten. Und wir vertreten nicht nur die Interessen unserer Mitglieder, sondern wir versuchen, einfach die gesamte Szene mitzunehmen. Das zeigt sich auch in der Jazzwoche, die sich natürlich nicht nur an die Mitglieder der IG Jazz richtet … Fokus unserer Arbeit ist die Verbesserung der Arbeitsbedingungen.
VSz: Interessenvertretung heißt also in erster Linie Vertretung der wirtschaftlichen Interessen?
KP: Also, eigentlich vertreten wir die Interessen des Genres.
VSz: Welche Interessen hat das Genre denn?
KP: Dass diese Musik überhaupt eine Möglichkeit hat, stattzufinden. Auf diesem Level bewegt sich das im Jazz leider häufig. Dass es darum geht: Wie kann es überhaupt möglich sein, dass diese Musik zu angemessenen Arbeitsbedingungen produziert und aufgeführt wird. Und auch eine angemessene Aufmerksamkeit findet. Das ist ja auch so eine Frage: Da finden die tollsten Sachen statt, und niemand kriegt das mit! In der Stadt. Auf den ganzen internationalen Festivals schon, da wird man dann als Berliner Musiker total gehypt – aber hier merkt es keiner. Und grundsätzlich auch die Möglichkeit zu schaffen, dass sich diese Musik weiterentwickelt. Das ist ja keine statische Musik wie zum Beispiel klassische Musik. Jazz ist eine Musik, die sehr stark im Prozess ist. In einem Arbeitsprozess ist. Die auch Zeit braucht. Die Raum braucht für Entwicklung. Die auch mal einen Irrweg gehen muss. Dieser künstlerische Prozess, der braucht Raum, also tatsächlich physischen Raum in Form von Arbeitsräumen, und der braucht aber auch Geld und Ausstattung. Insofern vertreten wir die wirtschaftlichen Interessen, weil man halt einfach Geld braucht, um Dinge stattfinden lassen zu können, aber wirtschaftlich im Sinne von profitabel – davon sind wir weit entfernt! Also, viele von uns. Und das ist auch eigentlich gar nicht unser Fokus, sondern es geht uns darum, eine Identifikation zu finden: Was ist das eigentlich, Jazz? Wer fühlt sich da zugehörig? Und das ist sehr heterogen bei unserer Mitgliedschaft, da sind Leute aus der improvisierten Musik dabei, aus der Echtzeit, da sind Musiker dabei, die total traditionellen Jazz machen … Es ist sehr, sehr vielfältig! Wir haben aber auch Veranstalter dabei. Uns geht es eher um das Ganze, da macht es eher keinen Sinn, so eine Grenze oder so eine Polarität aufzumachen zwischen Musikern und Veranstaltern. Wir sind alle in einem Boot! Den Musikern geht es gut, wenn es den Veranstaltern gut geht.
BB: Vielleicht kann man dazu auch noch ergänzen, dass wir Jazz tatsächlich inzwischen sehr stark als Kunstmusik verstehen. Das hat sich so entwickelt, dass das eigentlich so … so anspruchsvoll ist und so avantgardistisch, in Teilen zumindest, dass es auf jeden Fall gefördert werden muss, weil es nie … zumindest in Teilen … nie eine Wirtschaftlichkeit erreichen kann, wo sich die Veranstalter oder die Musiker rein über Publikumszuspruch tragen können. Deswegen treten wir sehr stark für Förderung in den verschiedenen Bereichen – also: Künstlerförderung, aber eben auch Veranstalterförderung – ein. Wir treten insbesondere für eine Basisförderung für Jazzorte ein, weil es da bisher noch überhaupt keine Förderung gibt und man merkt, es gibt keine Art von professioneller Möglichkeit, Veranstalter zu sein. Die meisten machen es nebenher als Hobby – die machen das sehr engagiert, aber es reicht wirklich hinten und vorne nicht. Und das setzt sich dann fort, dass eben auch die Musiker nicht richtig auf ihre Kosten kommen. Deswegen sehen wir das immer als ganzes System, wo der Jazz zu seinem Recht kommen soll als Kunstmusik, die gefördert gehört.
VSz: Kunstmusik als Gegenteil zu populärer Musik?
KP: Ja, zu Unterhaltungsmusik. Es gibt ja diese unselige Trennung zwischen U und E, und da ist der Jazz ins U eingeordnet und wird dann gern auch mal in Verbindung mit Jazz, Rock & Pop gebracht …
VSz: So heißen ja auch die Studiengänge. Ich hab tatsächlich noch „Jazz, Rock & Pop studiert“, jetzt heißt es der Einfachheit halber „Popular Music Studies“ …
KP: Genau, das begegnet uns an ganz vielen Ecken. Und das ist auch so ein Ding, wo wir versuchen, diese Identität als Kunstmusik in den Vordergrund zu stellen.
VSz: Jazz als E-Musik, also.
BB: Am besten wäre es, diese Unterschiede aufzuheben. Es gibt auch avantgardistische Pop-Musik, die sich auch nicht als U-Musik verstehen würde.
KP: Genau, aber der Jazz hat sich halt jetzt schon, sagen wir: mehrheitlich wegentwickelt von diesem Bild, wie das in den Fünfzigerjahren war.
VSz: Easy Listening, Swing, Bigband?
KP: Naja, wo er sozusagen einfach eine Unterhaltungsmusik und Tanzmusik war. Also, eine Bigband, das waren ja viele Musiker, damit es laut ist, damit man in einem großen Raum tanzen und sich unterhalten lassen kann. Das ist dann natürlich spezieller geworden, aber das ist sozusagen diese Ur-Bild. Und die Realität heute ist, dass sich das davon total wegentwickelt hat. Es ist eine Musik, die ist zum Teil extrem leise …
VSz: Konzertant.
KP: Ja, konzertant. Die braucht einen Konzertraum, da kann nicht nebenher die Kaffeemaschine angehen [Anspielung auf die aktuelle Interviewatmosphäre, die ständig von der Kaffeemaschine getrübt wird]. Ein großer Teil des Genres entwickelt sich in diese Richtung, das hat auch mit der Ausbildung zu tun, wir haben jetzt wahnsinnig viele Studiengänge an den Hochschulen, wo Leute akademisch ausgebildet werden. Man lernt heute nicht mehr, indem man in der Band von jemandem jahrelang mitspielt und dann plötzlich Meisterschüler ist. Durch diese Akademisierung hat der Jazz auch eine Intellektualisierung erfahren.
VSz: War Jazz nicht schon immer, zumindest zum Teil, Musik für Intellektuelle? Wir sprechen jetzt nicht von Hot Jazz, von New Orleans Jazz, sondern davon, was hier in Europa stattfindet. Das ist doch das Klischee, das die meisten Leute mit Jazz verbinden: Der gutsituierte, ältere Akademiker gießt sich einen Whisky ein, zündet sich eine Zigarre an und legt genüsslich eine ECM-Platte auf seinen teuren Plattenspieler …
KP: Den gibt es auf jeden Fall! Aber es gibt, Stichwort XJAZZ, auch Bestrebungen, dem wieder genau entgegenzuwirken. Klar ist, dass es einfach unglaublich vielfältig ist.
BB: Es kommen ja auch ganz viele junge Leute zu den Konzerten, wie man bei XJAZZ sieht oder im Donau 115. Es entwickelt sich ja auch weiter.
VSz: Sie haben, Stichwort Jazz als Kunstmusik, schon anklingen lassen, was Jazz für Sie ist. Was ist Jazz heutzutage? Was ist moderner Jazz heutzutage? Die Pressemittelung spricht davon, dass dies eine der Fragen sein wird, die auf der Jazzwoche aufgeworfen werden.
KP: Ja, also, diese Frage – ich kann die jetzt eigentlich nicht beantworten. Da gibt es auch keine Antwort drauf.
VSz: Die IG Jazz hat auch keine Antwort?
KP: Auf gar keinen Fall! (alle lachen) Wir wollen uns da eigentlich auch so ein bisschen raushalten, wir wollen ja keine bestimmte Klientel besonders vertreten – aber wir finden diese Frage relevant. Und deswegen werfen wir die auf diesem Panel auf. Weil es natürlich schon eine Sache ist, die man diskutieren muss: Wie ist das Selbstverständnis, wie das in der öffentlichen Wahrnehmung? Da kommt dann nämlich auch die Frage ins Spiel, welche Segmente des Jazz es eigentlich aus dieser Nische heraus schaffen. Wie das vermittelt wird, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, was findet da statt, wenn Jazz überhaupt im Fernsehen stattfindet, wie ist die Rolle der Rundfunkanstalten … Das gehört alles dazu, und diese Frage nach dem Narrativ, was der Jazz heute eigentlich ist, die ist total wichtig. Die spielt natürlich auch für unsere Arbeit eine Rolle, die spielt aber auch für die Musik selbst eine Rolle. Dem wollen wir versuchen, so ein bisschen nachzugehen, so ein bisschen zu sortieren, aber ich erwarte jetzt eigentlich nicht, dass es danach eine abschließende Antwort gibt.
VSz: Es gibt ja diese beiden Extreme. Einerseits die „Jazzpolizei“, die fragt, was an Kate Tempest auf XJAZZ denn jetzt Jazz gewesen sei, die also behauptet, durch die XJAZZisierung von Jazz – wenn man sagt, alles ist Jazz – werde Jazz beliebig, und die andere Seite, die sagt, tatsächlich ist alles Jazz, weil Jazz eigentlich immer die moderne Musik war, die alle aktuellen Einflüsse aufgreift und absorbiert … Also, zwischen diesen Polen bewegt es sich.
KP: Genau. Als Musikerin würde ich jetzt antworten, ein ganz wesentliches Element vom Jazz ist die Improvisation. Und das ist für mich schon mal zumindest ein Kriterium, wo man ansetzen kann.
VSz: Das heißt, wenn ich mich jetzt hinsetze und den Real-Book-Standard so singe, wie er da steht, ist das kein Jazz.
KP: Doch natürlich, da wird eine andere Verbindung aufgemacht.
BB: Also, ich komme ja von außen, aus der klassischen Musik und bin selber gar keine Musikerin … Was mich wahnsinnig fasziniert hat an den Leuten, die in der Jazzszene unterwegs sind, war, dass die wahnsinnig gut ausgebildet sind, wahnsinnig viel Wissen über Musik haben und dann daraus eigene Antworten darauf finden. Man merkt einfach, dass die mit dem harmonischen, dem melodischen Material ganz, ganz frei umgehen können, das hat mich wahnsinnig beeindruckt.
VSz: Virtuosentum als Kriterium?
BB: Naja, die technischen Grundlagen schon, aber dann eben dann auch wieder, sie ganz minimalistisch einsetzen zu können. Es geht um dieses Verfügen über den Bereich, über den musikalischen Bereich und das Material, und damit dann ganz verschiedene Lösungen zu finden, was es dann heißt, aktuelle Musik zu machen.
KP: Also eigentlich auch diese Variabilität, mit Material umzugehen. Und das unterscheidet uns jetzt auch von dieser Form von Popmusik, die da gern in der Nähe assoziiert wird. Da ist es doch klar, wie die Form ist, und dann spielt man die einfach. Und das klingt dann jeden Abend gleich …
VSz: Oder zumindest sehr ähnlich …
KP: … und was den Jazz in seiner Gesamtheit ausmacht, so würde ich das jetzt als Musiker definieren, dass es genau nicht vorgegeben ist. Man hat musikalisches Material, und das klingt mit den einen Leuten so, und mit den anderen wird es völlig anders ausgearbeitet – im Moment!
VSz: Kommunikation, die im Moment stattfindet, quasi.
KP: Genau, Kommunikation im Moment. Sozusagen in Echtzeit einen musikalischen Verlauf schaffen, eine Form schaffen, eine Dramaturgie schaffen, die jedes Mal eben komplett anders ist. Und das ist eben das, was Jazz für mich ausmacht. Ob das jetzt mit Beats ist oder ohne oder mit welchen Instrumenten, das spielt gar nicht so eine Rolle, aber diese Offenheit in der Binnenstruktur. Trotzdem würde ich, um auf die Frage zurückzukommen, jetzt auch nicht sagen, dass es verboten ist, wenn bei XJAZZ jetzt Pop-Acts auftreten. Dieses X steht ja auch für etwas, das da noch dazukommt.
VSz: Ist das so? Ich dachte immer, das X stünde für Kreuzberg …
BB: Es ist eine der Deutungen, sagen wir mal so. In der Szene wird es aber eigentlich schon als Jazz plus X wahrgenommen.
VSz: Der X-Faktor!
BB: Genau, der X-Faktor beim Jazz.
KP: Das ist ja auch sein Wesensmerkmal: Er ist immer eine Art Melting Pot.
VSz: Dass er zu Pop ebenso Berührungen hat wie zur Neoklassik, beispielsweise.
KP: Ganz genau. Und genauso zur Elektronischen Musik, zur zeitgenössischen E-Musik, zu folkloristischen Musiktraditionen der ganzen Welt und noch vielem mehr. Und das war ja historisch auch immer so. Er hat sich ja immer schon von verschiedenen Musikgenres inspirieren lassen und war immer schon eine Vermischung von etwas. Das hat sich herausgeschält, das hat sich elaboriert, das wurde wieder aufgegriffen von anderen Musikern, die haben es wieder transformiert … Also, Jazz ist quasi eine Musik, die in ständiger Transformation begriffen ist. Und ein Wesensmerkmal unserer heutigen Zeit ist ja dieses aus-dem-Elfenbeinturm-raus, Demokratisierung, soziale Medien und so weiter, da passt das eigentlich gut dazu. Was ich meine, ist diese Abkehr davon, so streng in Schubladen zu denken und die Dinge einordnen zu wollen, das vermischt sich eher.
VSz: Ist es aber nicht ein Grundbedürfnis von Menschen, vom Publikum, Dinge irgendwo einordnen zu können, um sich gut und sicher zu fühlen? Weil es erschreckt, wenn ich Dinge nicht einordnen kann?
KP: Aber das ist ja die Aufgabe von Kunst, die Menschen dazu zu bringen, sich zu öffnen. Weil … wenn man das immer bedient, dann bedeutet das ja pure Stagnation! Dann ist ja eine Weiterentwicklung unmöglich! Damit das sich alles weiterentwickeln kann, ist ja auch diese Auseinandersetzung nötig, und da muss es dann auch manchmal weh tun, oder da gibt es dann auch manchmal Leute die sagen, hey, das hat darin gar nichts zu suchen, das darf nicht sein.
BB: Für mich war gleich von Anfang an dieser Live-Aspekt wahnsinnig wichtig, wo Musik wirklich in dem Moment selbst entsteht. Es gibt ja viele Jazzmusikerinnen und Jazzmusiker, die auch komponieren, die gehen dann auch von dem komponierten Material aus und trotzdem klingt da kein Konzert wie das andere! Das hat auch mit dem Publikum zu tun, das hat mich von Anfang an wahnsinnig fasziniert, dass man selbst quasi Teil dieser Musik wird. Das wurde mir später auch berichtet von den Musikerinnen und Musikern, aber ich hab das auch gleich von Anfang an gespürt, dass man in diesem Raum auch gemeinsam ist und gemeinsam etwas erlebt. Und gleichzeitig gefiel mir immer … was natürlich für die Musikerinnen und Musiker auch ein bisschen schwierig ist … dass ich da meinen Wein auch trinken kann. Dass es da nicht so steif ist, dass man das Gefühl hat, man kommt in etwas, wo man die Regeln noch nicht richtig versteht, dass man gar nicht teilhaben darf. Ich finde, die Hemmschwelle ist … war für mich beim Jazz relativ gering. Ich hatte immer dieses Gefühl, Jazz ist auch etwas Suchendes, etwas Anbietendes, wo alle gemeinsam dabei sind. Das hat mich wahnsinnig fasziniert.
VSz: Wir haben jetzt über diese (Stil-)Offenheit gesprochen, die sich eben nicht in Schubladen stecken lässt und vielleicht auch Leute erschrecken, wenn nicht gar abschrecken könnte – haben Sie da nicht die Befürchtung, dass vielleicht die Leute, die ohnehin schon so ein offeneres Mindset haben, sich eher angesprochen fühlen, oder, umgekehrt gefragt, wie soll denn der Jazz, was auch immer „der“ Jazz jetzt ist, in die breitere Masse gebracht werden? Wie hat die IG Jazz oder die Jazzwoche es vor, den Jazz auf den Radar des jetzt vielleicht nicht schon von vornherein für das Genre offenen Hörers zu bringen?
KP: Naja, erst einmal, indem wir überhaupt feststellen, dass er da ist. Weil ich glaube, ganz oft wissen die Menschen einfach gar nicht, dass Jazz stattfindet. Die kennen die Orte nicht, und ehrlich gesagt, muss man in Berlin wirklich ziemlich tief drin sein in der Szene, weil angesichts dieser zunehmenden Gentrifizierung und der daraus entstehenden Raumproblematik die Orte oft wechseln, verschwinden, wieder neu auftauchen …
VSz: Wenn man jetzt von Klassikern wie A-Trane oder B-Flat oder Quasimodo absieht …
BB: Daneben gibt es ja noch wirklich viele kleine! Wir reden hier von fünfundvierzig Clubs, die teilnehmen.
KP: Ja, da weiß ich dann selbst nicht … wenn mich jemand anruft, der in die Stadt kommt und fragt, wo soll ich denn heute Abend hingehen, dann muss ich selbst erstmal auf verschiedenen Webseiten gucken und überlegen, ach, gibt es den und den Club überhaupt noch?
BB: Deswegen ist diese Field-Notes-Erweiterung total wichtig. Dass es jetzt einen zentralen Anlaufpunkt gibt.
KP: Wenn ich hierherkomme, oder ich wohne hier in der Stadt und ich interessiere mich dafür, was da jetzt stattfindet – dann zu wissen, die Leute können an einen bestimmten Ort gehen, da können sie sich informieren und da kann man was lesen. Und natürlich ist es dann immer noch jedem Einzelnen überlassen, was er wirklich macht Wer lieber bei der Vorabendserie zu Hause bleibt, den wird man auch mit einer neuen Anlaufstelle nicht erreichen. Das ist aber auch nicht der Anspruch.
BB: Ich glaube ja, dass es tatsächlich ein ganz großes Potential an Zuhörern gibt, die noch gar nicht wissen, dass das hier alles stattfindet. Es gab ja in den letzten Jahren sehr wichtige und weitverbreitete Alben, die Jazzmusik integriert haben, David Bowie auf seinem Album „Black Star“ …
VSz: Halten Sie das für jazzintegriert? Black Star???
BB: Ja, klar! Also, da sind zumindest Jazzmusiker beteiligt, das ist dann halt die Frage, in wie weit das Jazz ist. Diese Frage möchten wir gerne offenlassen, aber das sind Leute wie Donny McCaslin, die sonst einfach in der Jazzszene unterwegs sind. Oder Kendrick Lamar. Oder Robert Glasper. Leute, die sozusagen sehr an den Grenzen sind und die ganz, ganz viele Leute mitziehen und in den Jazzbereich reinbringen, die dann sagen, okay, ich würde mir das gern mal live anhören, aber wohin muss ich dafür gehen? Ich glaube, es gibt hier schon ganz viel abrufbereites Publikum, eine große Offenheit für Jazz. Wir müssen die Leute nicht erst von ihren Sesseln hochholen: Die sind schon da und wollen eigentlich. Und wir versuchen, das zu vermitteln.
VSz: Das beantwortet ja quasi auch die Frage, was diese Jazzwoche will. Ich würde gern noch einmal auf Sie in ihrer Eigenschaft als Musikerin zurückgreifen: Was bedeutet diese Jazzwoche für den Berliner Jazzmusiker?
KP: Das erste Wort, das mir da in den Sinn kommt, ist Hoffnung. Dass sich was verändert. Weil … ich bin Jazzmusikerin, ich lebe in Berlin und ich arbeite hier, es ist mein Arbeitsmittelpunkt und ich arbeite mit vielen Berliner Leuten zusammen. Mein Geld verdiene ich aber außerhalb von Berlin. Einen sehr, sehr geringen Anteil meines Jahreseinkommens verdiene ich mit Konzerten in Berlin. Einfach, weil hier die Infrastruktur nicht gegeben ist. Und es ist schon ein zentrales Anliegen, sichtbar zu machen, dass zwar die Musik da ist, das Publikum da ist, aber die Infrastruktur einfach nicht. Und die muss verbessert werden. Einfach darauf aufmerksam zu machen, im ersten Schritt: Wir sind hier, uns gibt es und hier passieren unglaublich viele wirklich herausragende Dinge. Hier werden die echt neuen Sachen entwickelt – und die, die sie entwickelt haben, spielen hier in der Kneipe auf’n Hut und fahren am nächsten Tag zum internationalen Festival, wo sie ihr Geld verdienen. Und das passt halt nicht richtig zusammen. Das jetzt so ein bisschen aneinander anzugleichen ist es, was ich mir langfristig erhoffe.
VSz: Das ist eigentlich ein schönes Schlusswort – es sei denn, es gibt da etwas, was Sie noch unbedingt zur Jazzwoche loswerden wollen, wonach ich nicht gefragt habe, was aber essenziell dazugehört.
BB: Also, ich hätte jetzt nur noch ergänzt, dass die Jazzwoche in dem Sinne nicht nur ans Publikum, sondern auch an die Politikerinnen und Politiker gerichtet ist.
VSz: Das heißt, wenn sich Infrastruktur verbessern soll, das kann nicht aus der Szene heraus passieren, da muss von außen Geld in die Hand genommen werden.
BB: Richtig.
VSz: Es geht um Förderung.
BB: Genau. In dem Sinne sind wir dann auch ganz Interessenvertretung, das ist für uns ein Anliegen.
KP: Und, wenn Sie mich jetzt noch einmal als Musikerin fragen, dann will ich einfach, dass diese Musik gehört wird. Sie ist so reich und vielfältig – und auch bewegend! Wenn man aus einem guten Jazzkonzert kommt, geht man anders raus, als man reingegangen ist, weil man eben nicht das Erwartete präsentiert bekommt.
VSz: Ich hoffe ja, das passiert bei jedem guten Konzert oder Buch oder Bild. Aus einem guten Buch gehe ich anders heraus, als ich in das Buch hineingegangen bin.
KP: Das stimmt.
VSz: Weil es einen verändert.
KP: Ja. Aber dieser Live-Aspekt, der ist nochmal besonders. Da kann ich jetzt auch als Komponistin sprechen: Ich habe ein Stück, und das spiele ich mit drei verschiedenen Bands dreimal total anders. Und dreimal arbeitet man sich anders rein. Es ist eben sehr individuell, es hat sehr viel mit den Persönlichkeiten zu tun, mit der Historie jedes einzelnen Musikers. Und wenn man das als Publikum mitnimmt, auch diesen Aspekt der Improvisation, der Spontaneität – das ist ja auch was, was fürs Leben relevant ist! Also, sich einfach diesem Unbekannten so vertraut zu machen. Und sich hinzugeben dem, was man nicht kennt. Ich glaube, das ist ein zentraler Aspekt, der im Jazz besonders eine Rolle spielt im Vergleich zu anderer Musik.
Die erste Jazzwoche Berlin findet vom 24.-30. Juni 2019 in verschiedenen Spielstätten statt.
Die Jazzwoche im aktuellen tip Berlin
Kommentare deaktiviert für Jazz in the City. Interview mit der IG Jazz Berlin zur Jazzwoche
Wenn in der schnelllebigen Berliner Szene – wo man nach dreijährigem Bestehen schon als etabliert gilt – ein Festival in sein sechstes Jahr geht, verdient es das Prädikat „nicht mehr aus dem Kulturkalender der Hauptstadt wegzudenken“. Wenn es sich dann auch noch um ein (wenngleich den Genrebegriff extrem weitfassendes) Jazzfestival handelt, muss neidlos konstatiert werden: Hier wurde alles richtig gemacht. Kein Wunder, dass die diesjährige Ausgabe des XJAZZ-Festivals ihren Vorjahresrekord von etwa 11.000 Besuchern mit ganzen 21.000 noch einmal toppen konnte. Das gilt auch für die Zahl der bespielten Venues, die sich traditionellerweise um den U-Bahnhof Schlesisches Tor im dem Festival seinen Namen gebenden Bezirk Kreuzberg gruppieren.
So etwa ist dieses Jahr das durch seine in der Hausbesetzerszene wurzelnde Geschichte berüchtigte, aber bislang eher nicht durch seine Affinität zum Jazz aufgefallene SO36, das laut Selbstverständnis Raumgeber für „harte Töne jenseits des Chartsmainstreams“ ist, neu als Spielstätte mit dabei, das mit der britischen Poetin Kate Tempest gleich für einen würdigen Festivalauftakt sorgte. Diesen prominenten Platz dürfte sich die Südlondonerin, die sich von mit dem genresprengenden XJAZZ-Konzept wenig Vertrauten nicht nur einmal fragen lassen musste, ob – und hier grüßt die ebenso viel zitierte wie negierte Jazzpolizei, die es eben doch gibt – das denn nun Jazz sei, wohl nicht zuletzt durch ihre jüngste Kollaboration mit Shabaka Hutchings‘ The Comet Is Coming gesichert haben. Genau wie dort besticht ihr auf der SO36-Bühne erstmals erprobtes, ab Juni erhältliches Book of Traps and Lessons durch diese unbedingte Dringlichkeit, für die man die Tempest einfach lieben muss. Sie versteht es, eine unmittelbaren Beziehung zu ihrem ergriffen lauschenden Publikum herzustellen, das von genau jenen Fragen umgetrieben wird, die Tempest stellt. Es geht um das ob Selfie-Wahn inszenierte statt gelebte Leben, um die einen beim morgendlichen Weckerklingeln beschleichende Ahnung, dass man einfach alles auch ganz anders hätte machen könnten und nicht zuletzt um lakonische Bekenntnisse in Sachen Liebe: You make me a microscope/you make me a map/some call it love/I call it a trap.
Selbst an jenen Stellen, wo die wortgewaltige Poetin ihre
Reime ganz ohne musikalische Begleitung ins Mikrophon diktiert – denn von
bloßem „sprechen“ kann hier keine Rede sein –, kann man im ausverkauften SO36
die sprichtwörtliche Stecknadel fallen hören. Die Gemeinde lauscht derart
ergriffen, dass man recht eigentlich nicht von einem Konzert, sondern eher
einer Art Gottesdienst mit Tempest als Hohenpriesterin sprechen muss. Dabei war
der Auftitt von vornherein nicht unumstritten. Kann, ja: darf man die verehrte
Künstlerin noch reinen Gewissens hören, seit sie ihre Unterschrift unter eine Petition
der dem BDS verschwisterten Gruppe Artists for Palestine setzte, die britische
Künstler 2015 dazu aufforderte, nicht in Israel aufzutreten? Man kann, denn der
Rattenschwanz aus Boykott und Boykott des Boykotts kann hier die Lösung nicht
sein. Tempests Bekenntnis zu AfP mag unsympathisch erscheinen, den Boykott
ihres Werks kann aber nur jener Kleingeist anregen, der es nicht versteht,
zwischen Künstler und Werk zu differenzieren. Anders sähe es aus, wenn die
Künstlerin – übrigens selbst jüdischer Abstammung – in Leben oder Werk mit
direkten antisemitischen Äußerungen aufgefallen wäre. Ist sie aber nicht, und
mehr gibt es dazu dann auch nicht zu sagen.
Qualität statt Quantität
Wo sich am Mittwoch dank Kate Tempest die Frage, welchen
Act man zur Festivaleröffnung sehen möchte, eindeutig beantworten lässt, stellt
einen schon der Donnerstag vor nicht zu unterschätzende Entscheidungsschwierigkeiten.
Der erste volle Festivaltag macht deutlich, dass ein Programm mit etwa siebzig
Konzerten in vierzehn Venues nicht bedeutet, dass man bis Sonntag siebzig
Konzerte in vierzehn Venues gesehen haben wird. Sinn und Zweck eines Festivals
ist nicht die schiere Menge, sondern die geschickte Auswahl, denn natürlich
laufen Konzerte parallel: Möchte ich den zum Jazzer gereiften Elektroniker
Dominic Saloe aka Mocky sehen, muss ich sowohl auf den Londonder Drummer Yussef
Dayes, der sich mittlerweile vom genialen 70s-Jazz-Funk-Avantgarde-Elektronik-Duo
Yussef Kamaal emanzipiert und letztes Jahr mit einer Live-Session in den
legendären Abbey-Road-Studios sein Solo-Debüt hingelegt hat, verzichten, als
auch auf Mostly Other People Do The
Killing-Trompeter Peter Evans, um nur einen weiteren zu nennen. Einzig zum
schon um 18:00 Uhr spielenden Neunkopf-Kollektiv Wanubalé wäre es vorher zu
schaffen, was auch gut ist, gelten die aus Berlin und Potsdam stammenden
Musiker doch als deutsche Antwort auf Jazzfunkdubrockbands wie Snarky Puppy,
Fat Freddy’s Drop, Hiatus Kaiyote oder Nubiyan Twist, wobei letztere am Samstag
selbst im BiNuu zu hören sind.
Ein Must-See bzw. Must-Hear ist die am späten Donnerstagabend im Prince Charles gehostete Kryptox Labelnight. Die junge deutsche Plattenfirma für Neo-Jazz und Experimentelles präsentiert sich mit dem Londoner Flötisten Tenderlonious, Ralph Heidels Homo Ludens-Ensemble und dem Poets of Rhythm-Gitarristen JJ Whitefield, der sich für sein Krautjazz-Debüt der Unterstützung von Saxophonist Johannes Schleiermacher versichern konnte, der beim letzjährigen XJAZZ-Festival noch mit Shake Stew am Start war und dem aufgrund seines diesjährigen Auftrittes einmal mehr zu wünschen ist, dass sein Spiel endlich die ihm gebührende breite Aufmerksamkeit – und von mir aus auch den Titel des nächsten Shabaka Hutchings – bekommt. Klar ist aber auch, dass Besucher der Kryptox Labelnight die zeitgleich im Monarch bzw. der Emmauskirche stattfindenden Labelnights von We Jazz bzw. K7 verpassen. Man kann eben nicht alles haben. Gute Nachrichten gibt es jedoch für jene, die sich zwischen Mocky und Yussef Dayes nicht zu entscheiden vermochten – sie können Mocky (und im Anschluss eine der drei Labelnights) sehen, denn Dayes wird kurzerhand auf den Freitag verschoben. Das ist toll, stellt aber vor eine neue, schwere Entscheidung: Jene zwischen Dayes und Rymden, der neuen Band von Jazzland-Labelbetreiber Bugge Wesseltoft, dessen Vorstellung sich an dieser Stelle wohl erübrigt. Die Besucherschlangen vor beiden Konzerten sprechen jeweils für sich.
Wer wann wo
Noch ein weiteres Bäumchen-wechsel-dich-Spiel findet am
Freitag statt, was die gedruckten Festivalguides endgültig zur Makulatur macht.
Man muss schon auf die eigens entwickelte App setzen, um zu wissen, wer wann wo
spielt – oder die freundlichen Menschen im XJAZZ-Truck, die einen dorthin zu
schicken verstehen, wo die Musik spielt. So etwa erfährt man hier, dass sich
der Showcase von Bobby-McFerrin-Tochter Madison, den man unbedingt sehen
wollte, vom ursprünglich geplanten Freitag auf den Samstag verschoben hat, wo
sie nun sowohl dem Omar Klein Trio, den Londoner Alternative Soulern Hejira,
dem Lisa Bassenge Trio oder der wohl einmaligen Kollaboration von Simultansängerinbeatboxerin
Sanni Loetzsch aka Kid Be Kid mit Lucia-Cadotsch-Saxophonist Otis Sandsjö Konkurrenz
macht. Apropos Konkurrenz: Schon der freitägliche Konzertauftakt verlangt nach
der Entscheidung, ob man mit dem schon mehrfach erlebten Urgestein Rolf Kühn
auf Bewährtes setzt, sich das für seine ikonischen Neuinterpretationen (z.B. „Everybody
Wants To Rule The World“) gefeierte US-Trio The Bad Plus oder lieber den
Münchner Pianisten und Komponisten Marc Schmolling gibt.
Ich setze auf den 1929 geborenen Jazzklarinettisten, von
dem ich schon bei der 2017er-Ausgabe von XJAZZ glaubte, ihn vielleicht zum
letzten Mal live erleben zu können, doch weit gefehlt! Sein Yellow+Blue-Konzert im gut besuchten
Lido, Kühns persönlichem Lieblingsclub in Berlin, lässt nicht vermuten, dass er
so bald die Klarinette aus der Hand gibt. Und was für eine Band! Pianist Frank
Chastenier macht selbst bei den in diesem Set rar gesäten Standards wie „Angel
Eyes“ wohltuend klar, wo der Frosch die Locken hat, Bassistin Lisa Wulff – die
später am Abend andernorts noch im Duo mit Clara Haberkamp zu hören sein wird –
steht ihm in nichts nach, während der von Kühn als „Monster“ betitelte
Schlagzeuger Tupac Mantilla mit einer Body
Percussion-Einlage begeistert. Groß! Allein bei der Zugabe wird klar,
wieviel Anstrengung die Konzerte dem fast Neunzigjährigen mittlerweile
abverlangen dürften:
Weiter gehört mein noch junger Freitagabend der in Berlin ansässigen israelischen Nu-Soul-Sängerin J. Lamotta, die im Privatclub den Release ihres neuen Albums Suzume feiert, mich aber auf dem Papier weitaus mehr zu begeistern wusste als während des Auftritts. Vor zwanzig Jahren hätte mich diese Musik geflasht, mittlerweile scheine ich nicht mehr zur Zielgruppe zu gehören. Mein Herz schlägt aktuell für den London Sound der Stunde, zu denen tief im Jazz schürfende Beatmaker wie Alfa Mist gehören, vor allem aber auch Kamaal Williams mit seinem verstimmt wabernden Acid Jazz, der sich über flüsternde tsk-tsk-Beats schraubt und ferner mit blubbernden Basstupfern, Perlendem, Glockendem, Rockigens, aber auch D&B-Grooves und Streichern, kurz: ganz viel feinem Frickelkram zum Genauhinhören aufwartet, der seine Mittel vom Electro, seine Haltung vom Jazz, sein Herz aber vom Soul bezieht. Und natürlich Yussel Dayes, der mit Letztgenanntem im mithin legendär gewordenen Duo Yussef Kamaal die Percussions rührte, mittlerweile aber als Schlagzeuger auf Solopfaden unterwegs ist. Mit Unterstützung des Sun Ra Arkestra-geschulten Synthie-Schraubers Charlie Stacey und Adele-Bassist Tom Driessler bietet er im ebenfalls im Rahmen von XJAZZ erstmals bespielten Festsaal Kreuzberg eine avantgardistische, dabei trotzdem enorm leichtfüßige, um nicht zu sagen: traumverlorene Interpreation von NuJazz, die bei anderen Genreheroen oftmals seltsam bemüht klingt. Es ist ein tolles Konzert, auch wenn durch seine etwa einstündige Verzögerung Arnold Kasar nun leider ungehört bleiben muss. Stattdessen höre ich bei Rosemarine rein, einem von vielen jungen Musikern der Stadt hochgepriesenen Trio, das zur Mitternacht im Privatclub den Release seinen Debütalbums zelebriert.
Erschöpft falle ich ins Bett. Die menschliche Aufnahmefähigkeit für Musik ist, wie ich erst neulich wieder während der jazzahead! feststellen musste, nun einmal begrenzt. Deshalb gibt es für mich am Samstag nur ein Konzert, das allerdings hochspannend zu werden verspricht, vereinen sich hier doch erstmalig zwei meiner Lieblingsmusiker aus völlig verschiedenen Genres zum Duo. Gepaart mit einem voreilenden Drei-Gänge-Menü im Markthallenrestaurant der auch als „Eisenbahnmarkthalle“ bekannten Markthalle IX, wird das Konzert im Austerclub unter dem Motto „Jazz & Dine“ als bequemes Package für EUR 39,20 angeboten, das sich einigen Zuspruchs bei all jenen erfreut, die ihre Spätzwanziger hinter sich gelassen haben. Natürlich ist aber auch der alleinige Konzertbesuch möglich, um die studierte Jazzsängerin und Produzentin Sanni Loetzsch aka Loop Motor aka Kid Be Kid zu hören, die letztes Jahr unter dem Motto „drei Musikerinnen in einer“ inklusive konsequentem Verzicht auf Overdubs, Loops oder Prerecordings ihr NuSoul-Debüt Sold Out vorgelegt hat, auf dem sie sich als Sängerin, Beatboxerin und Pianistin zeigt, und das, anatomische Unmöglichkeit hin wie her, simultan. Das allein ist den Konzertbesuch wert und wird nur durch
den Umstand getoppt, dass Loetzsch den schwedischen Saxophonisten Otis
Sandsjö als Gast eingeladen hat, dessen speziellen, um allerlei Ventikgeklapper angereicherten Ton ich zunächst bei Lucia Cadotschs Speak Low, dann auf seinem eigenen Projekt Y-Otis kennen- und liebengelernt habe und den ich neben Johannes Schleiermacher und „Lotuseater“ Wanja Slavin aktuell glatt als meinen Lieblingssaxophonisten bezeichnen würde. Nicht ohne Grund gilt mir dieser Abend als persönliches Highlight von XJAZZ 2019.
Klangsatt oder: Wissen, wann genug ist
Dabei ist das gesamte diesjährige Festival nicht eben als arm an Highlights zu bezeichnen. Vielmehr sind es so viele, dass man nicht weiß, wo man mit der Aufzählung beginnen soll. Wer das Glück – oder mit EUR 159,- die finanziellen Mittel – hat, einen Festivalpass sein eigen zu nennen, könnte aufgrund dieses Füllhorns an Musik versucht sein, der Unsitte anheimzufallen, in so viele Konzerte wie nur möglich eben mal für zehn oder fünfzehn Minuten hineinzuhören. Die in fußläufiger Nähe zueinander liegenden Spielstätten machen’s möglich. Aber genau wie bei einem Album, das auch nicht dazu gedacht ist, einzelne Stücke zu überspringen, sondern (zumindest im Idealfall) aufgrund einer ausgeklügelten Dramaturgie auf einer ganz eigenen Spannungskurve fußt, ergo eine untrennbare Einheit bildet, hat der Künstler auch für sein Konzert eine aufeinander aufbauene Abfolge seiner Stücke erdacht, die dem Abend eine bestimmte Richtung, einen bestimmten Schwerpunkt verleihen. Ebensowenig wie ein Album sollte ein Konzert eine zufällige Reihung an Songs sein, in die man an beliebiger Stelle hineinzappen und sie an ebenso beliebiger Stelle wieder verlassen kann. Also, man kann schon. Bringt sich aber selbst um einen nicht ganz unbedeutenden Teil des Musikgenusses. Zu wissen, wann man klanggesättigt genug ist, gehört zur durchaus erlernbaren Kunst des Festivalbesuchs.
Wer am späten Samstagabend noch genug Energie hat, kann noch Erol Sarp & Robert Lippok in der Emmauskirche oder das Ishmael Ensemble im Privatclub hören, sich gar der mitternächtlichen Global Dance Kulture im Fluxbau hingeben. Ich für meinen Teil gehe nach Hause, denn am Sonntag wartet die mittlerweile zur guten XJAZZ-Tradition gehörende Fahrt mit dem Blue Boat auf mich. Mangels Hangover wähle ich nicht den als „Hangover Jam“ beworbenen Cruise Nummer 1, wo sich Sebastian Studnitzky himself, seines Zeichens künstlerischer Leiter des Festivals, mit einer Handvoll Friends die Ehre gibt, sondern setze auf Cruise Nummer 2, den XJAZZ Label Launch. Hier werden mit dem aus dem JIB hervorgegangenen Quartett Die Therapie, Roman Schulers RSxT mit seiner „Contemporary Groove Music“ und Hardylackner, dem Duo-Projekt des amerikanisch-deutschen Pianisten Benny Lackner mit dem Berliner Schlagzeuger Rainer Winch, die ersten drei Signings des brandneuen XJAZZ music labels vorgestellt – für Erst- und Letztgenannte ist es sogar ihr Debüt. Ein Kreis schließt sich, denn immerhin wurde das Festival ursprünglich von den Betreibern des Labels Contemplate gegründet, um den hauseigenen Künstlern eine Bühne zu bieten. Was als Festival zum Label begann, ist mittlerweile derart gewachsen, dass es nun folgerichtig das Label zum Festival gibt.
Ich runde meinen Besuch mit einem Abstecher zum Rahmenprogramm ab, wurde mir doch das schwedisch-deutsche Duo Mattimatti ans Herz gelegt, das mit psychedelischen Stücken von pinkfloydscher Länge, in deren Zentrum der mystische Klang des Hang steht, ein sanftes Übergleiten von fünf Tagen Festivalwahnsinn in den Alltag erleichtert. Ohnehin die Nebenkriegsschauplätze! Da entstehen Dinge wie das neue Album vom Melt Trio mit Jan Bang, das während des Festivals live aufgenommen wurde und am 14. Juni seinen Release feiert. XJAZZ 2019 wird noch lange Schatten werfen. Wer jetzt noch Kraft hat, kann sich die Abschlusskonzerte auf der Schatzinsel oder das allerletzte Konzert des Sonntagabens, gespielt von DJ Acid Pauli und Vibraphonist Ivar Refseth in der Emmauskirche, anhören. Ich habe keine mehr, bin klangerfüllt bis in die Haarspitzen, freue mich aber dennoch schon auf den Mai 2020, wenn das XJAZZ-Festival zum mittlerweile siebten Mal seine stiloffenen Pforten öffnen wird.
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Letzen Sonntag schloss die vierzehnte Jazzahead in Bremen ihre Pforten. In den Tagen danach fühlten sich die Besucher des weltweit größten Jazz-Branchentreffs körperlich wie emotional ausgelaugt, nicht wenige sind krank. Die Postings von heilender Hühnersuppe und Ingwertee auf den einschlägigen Social-Media-Profilen jedenfalls steigen überproportional an, die wohl meistgestellte Frage in den Chats ist: „Hast du dich schon wieder regeneriert?“
Weshalb also setzt man sich diesen vier Tagen im Ausnahmezustand, der sich anfühlt als vollzöge er sich in einer Parallelwelt jenseits des normalen Zeit-Raum-Kontinuums, jedes Jahr aufs Neue aus, noch dazu freiwillig? Der norwegische Schriftsteller Lars Saabye Christensen, Keynotespeaker der diesjährigen Opening Ceremony, bringt es auf den Punkt: „Jazz is a different place and that is where we have to go.“ Wir müssen es tun. Wir können nicht anders.
Norwegian Lounge
Neben Saabye Christensen bestreiten zwei weitere Künstler des diesjährigen Partnerlandes Norwegen – das schon auf der Berlinale 2019 zum Schwerpunktland auserkoren war – die Eröffnungszeremonie: Sängerin Karin Krog und der sie an Sopran- wie Baritonsaxophon begleitende John Surman. Mit seinem Kurzauftritt gibt das Duo gleichzeitig einen Ausblick auf die traditionell am Donnerstagabend anstehende Konzertnacht des Partnerlandes: Acht sowohl stilistisch wie qualitativ höchst heterogene Acts bestreiten die Norwegian Night, darunter der Jazzsaxophonist und Ziegenhornbläser Karl Seglem, dessen balsamische Klänge in Zeiten überreizten Gemüts zwar mit schönster Regelmäßigkeit durch meine Boxen kriechen, den ich bislang jedoch noch nie live erlebt habe. Zeit für mein erstes Konzert der Jazzahead, das im benachbarten Schlachthof stattfindet, dessen blutige Vergangenheit glücklicherweise nicht mehr zu erahnen ist. Mit siebenköpfigem Ensemble – darunter gleich zwei Hardangerfiedeln, die ob ihres dank einer acht Wirbel fassenden Schnecke mit einem extrem kurzen Hals aufwarten und immer ein bisschen klingen wie die bucklige Verwandtschaft der Bratsche – beschwört Seglem die der norwegischen Folklore inhärenten Naturtöne vor einem aufmerksam lauschenden Schlachthofpublikum herauf.
Wie immer ist die Zeit viel zu kurz, den Klängen angemessen nachzuspüren – bis weit nach Mitternacht geben sich die verschiebenen Formationen die Klinke, pardon: das Mikro in die Hand. Nicht zuletzt sorgte der harmlos als Partner Country Reception benamste Empfang für einen zwar angenehmen, aber auch nicht zwingend für seine wachhaltenden Eigenschaften verrufenen Alkoholpegel. Gut, dass das European Jazz Meeting am Folgetag erst um vierzehn Uhr beginnt, was nicht nur dafür sorgt, dass man ausschlafen, sondern auch den ersten Meet&Greet-Marathon des Tages absolvieren oder sich das umfangreiche, auch als Professional Program bekannte Konferenzprogramm mit Highlights wie „A Wealth of Music Content, But What’s It Worth?“ zu Gemüte führen kann. In meinem Falle schaue ich nicht nur bei der Müsteraner Enklave der Jazzthetik-Redaktion vorbei, die ich ohne Jazzahead wohl nie treffen würde, sondern richte ich mich auch im sogenannten „Press Office“ häuslich ein, wo ich im Halbstundentakt jene Musiker treffe, mit denen ich mich im Vorfeld verabredet habe. Die Pressereferentin sieht sich das Bäumchen-wechsel-dich-Spiel eine Zeitlang an, bevor sie nur halb im Scherz bemerkt: „Sie lassen hier aber auch einfach kommen, oder?“. Aber warum auch nicht, wo das Press Office doch nicht nur Lebensnotwendigkeiten wie schwarzen Kaffee und Laserdrucker bietet, sondern auch einen ruhigen Platz jenseits der wogenden Menschenmassen und – dieses Jahr neu – eine wechselnde, warme, überaus schmackhafte Tagessuppe mit rauen Mengen an Brot und Butter. Nicht zuletzt die eingeladenen Musiker, jung und hungrig, wissen diese Annehmlichkeiten zu schätzen.
Hannah Köpf
Ich treffe Hannah Köpf, die ich in der aktuellen Ausgabe des Jazzthetik Magazins portraitiert habe; außerdem Gadi Stern und Matan Assayag vom israelischen Jazzrocktrio Shalosh, die mir für die kommende Ausgabe Rede und Antwort stehen. Zwischendurch reicht die Zeit für Gespäche unter Kollegen: Es gibt ein Wiedersehen mit Klaus von Seckendorff und ein erstes Kennenlernen mit einem weiteren großen Mann des Jazzjournalismus, Hans Hielscher. Obgleich er wie ich zurzeit eine Kolumne in der Jazzthetik bestückt, sind wir uns bislang noch nie über den Weg gelaufen, stoßen dafür aber gleich auf interessante biografische Gemeinsamkeiten wie etwa die Straße, in der ich jetzt und Hielscher vor langer Zeit wohnte. Endlich lerne ich auch den Hamburger Jazzschreiber Jan Paersch kennen, mit dem ich zwar das Programm des diesjährigen Elbjazz-Festivals betextet, den ich aber ebenfalls noch nie von Angresicht zu Angesicht gesehen habe. Jazzahead machts möglich. Es ist eben nicht nur ein Branchen-, sondern auch so etwas wie ein Familientreffen, und spätestens ab dem zweiten Besuch der Messe gehört man wie selbstverständlich dazu.
Der grüne Pfeil, Symbol der Jazzahead, hier als Deckenmobile in der BoConcept Lounge
Neben dem European
Jazz Meeting, das so unterschiedliche Acts wie die Flat Earth Society, das
Adam Bałdych Quartet oder MDCIII auffährt, steht am Freitag auch das
Galakonzert an, welches jeweils zwei Acts des Partnerlandes auf die Bühne des im
Art-Déco-Stil erbauten Konzerthauses Die
Glocke bringt. Dieses Jahr ist die Wahl auf das Quintett des Trompeters
Mathias Eick gefallen, das mit Håkon Aase einen wunderbaren Geiger an Bord hat,
im Allgemeinen aber einen allzu elegischen Klang zelebriert, der die Grenze zur
Langeweile mehr als einmal von der falschen Seite touchiert und nur noch vom
zweiten Teil des Galakonzerts mit Trail of Souls feat. Solveig Slettahjell und
Knut Reiersrud getoppt wird. Man kann sich des Eindrucks nicht gänzlich
erwehren, dass hier jene Spielart des nordisch-mystischen Jazz zum Besten
gegeben wird, die sich das deutsche Publikum am liebsten vorstellt: Hach, diese
Weite! Oh, diese Wälder! Und sieh nur, die niedlichen Trolle!
Es ist verständlich, dass sich das Galakonzert vor allem auch ans lokale Bildungsbürgertum wendet und die – diesmal übrigens nicht vollständig ausverkaufte – Glocke ihre Ränge füllen muss. In Anbetracht der Tatsache, dass ich hier aber auch schon dank Künstlern wie Avishai Cohen 2013 bei meiner allerersten Jazzahead oder 2016 Nik Bärtsch und Hildegard lernt fliegen rauschende Abende erlebt habe, muss die Frage nach einer zukünftigen Perspektive des Galakonzerts jenseits der Komfortzone, sprich: einem mutigeren Booking erlaubt sein.
Ichiro Onoe
Der Samstag dagegen verspricht, spannend zu werden. Ich treffe den als „Japan’s answer to Paul Motian“ geltenden, in Paris lebenden Schlagzeuger Ichiro Onoe, der mit seinem Quartett traditionelle japanische Musik und Modern Jazz verbindet, indem er zwei klassische japanische Instrumente – die aus siebzehn kurzen Bambuspfeifen bestehende Mundorgel Shō und die Doppelrohrblattflöte Hichiriki – durch Tenorsaxophon und Klavier ersetzt; den swinginspirierten israelischen Pianisten Arik Strauss, der mit seinem Umzug nach Deutschland, dem Land seiner Vorväter, einen Lebenskreis geschlossen und darüber das Album „Closing The Circle“ gemacht hat; den Kölner Schlagzeuger Jo Beyer, dessen brandneues, noch labelloses Album „Party“ mit sperrig-schönen Songtiteln wie „Zwischen Bier in Poll und 37 Grad im Schatten“ oder „Halloween ist doof“ aufwartet; und den Berliner Komponisten und Arrangeur Ruben Giannotti, der gerade mit seinem im Spannungsfeld zwischen NeoSoul, Elektronika und retroeskem Bigbandkrimisoundtrack angesiedelten Large-Ensemble-Projekt aus dem Studio gekommen ist. Wie gut, dass das Press-Office – zweite Neuerung in diesem Jahr – statt um 18:00 erst um 19:30 Uhr schließt!
Komponist Ruben Giannotti spielt am Stand von Chess’n’Jazz um Bier
Und dann widme ich mich ganz der Musik, denn schließlich
ist doch sie der hauptsächliche Grund, hier zu sein. Wo sonst lässt sich‘s
innerhalb von nur dreieinhalb Tagen aus gut einhundert Konzerten auswählen? Auswahl
ist das Stichwort der Stunde, denn Konzerte laufen zum einen parallel, zum
anderen scheint der menschliche Geist eine begrenzte Kapazität für die Aufnahme
von Musik zu haben. Ist diese erreicht, geht gar nichts mehr. Jazzahead heißt
eben auch: Too much Jazz in my Head. Erst einmal aber höre ich im Rahmen der German Jazz Expo Simin Tanders Hochmittelalter-
und Renaissance-Adaptionen, die kongenial von Jörg Brinkmann, bei dem ich mir
nicht sicher bin, ob er mir nicht noch besser gefallen soll als Tander selbst,
am Cello begleitet werden: Eine höchst sinnliche Vokalistin, die fühlt, was sie
singt – und dieses Gefühl weiterzugeben weiß. Das komplette Kontrastprogramm
liefern Botticelli Baby, die den Schlachthof mit wildem Balkan-Gipsy-Swing-Funkabilly
und Punkattitüde aufmischen. Was soll ich sagen, ich mag dieses
nordrhein-westfälische Septett, dessen Sänger (und gleichzeitig Kontrabassist)
Marlon Bösherz sich nicht zu entscheiden vermag, ob er nun James Brown in Blue
oder lakonischer Shouter sein will. Toll!
Dann geht es auch schon weiter mit der berühmt-berüchtigten
Clubnacht, deren Auftakt niemand Geringreres als Beady Belle auf dem Domshof
macht. Umsonst und draußen – eine weitere Neuerung des um die Messe
herumgestrickten Festivalprogramms vor historischer Kulisse. Wieder toll! Ganz
zu Ende sehen kann ich den Auftritt der norwegischen NuJazzer allerdings nicht,
wartet doch die Jazzahead-Straßenbahn schon, um die Teilnehmer der VIP Partybahn Tour – einer Art geführten
Clubnacht – für den Auftritt von Johanna Borchert in der Kulturkirche St.
Stephani einzusammeln. Untermalt vom finnischen Elektroniker Mika Forsling
entspinnt diese nicht nur allerlei avantgardistisches Geräusch am präparierten
Flügel, sondern auch zauberhafte Lyrics zwischen dringlicher Spoken Word-Performance und zerbrechlicher
Dubstep-Ballade.
Hier endet für mich die Führung, denn ich muss dringend ein Taxi in den Bremer Norden erwischen, um Susanna Wallumrød im fernab der Messe gelegenen Kränholm zu hören – immerhin hat sie als Susanna & The Brotherhood of Our Lady mit dem vertonten Hieronymos-Bosch-Gemäldezyklus „Garden of Earthly Delights“ jetzt schon eines meiner Lieblingsalben des Jahres gemacht. Wie bei allen meinen bisherigen Fahrten in den Bremer Norden, wo ich etwa letztes Jahr Noam Vazana im KITO ihre sephardischen Lullabys singen hörte, werde ich auch diesmal nicht enttäuscht. Wallumrød spielt in der intimen Location nicht nur die vor Todsünden triefenden Bosch-Stücke, sondern auch ihre ganz persönlichen Interpretationen von auf der Nachtseite der Musik beheimateten Lieblingssongs wie Leonard Cohens „Who By The Fire“ oder Joy Divisions „Love Will Tear Us Apart“. Ein stilles, ein schönes Messehighlight, nicht trotz, sondern gerade auch wegen des weiten Weges, der zum Nachklingenlassen geeigneter nicht sein könnte. Die Overseas Night, die in Konkurrenz zur Clubnacht noch bis 1:40 Uhr läuft, lasse ich leichten Herzens links liegen und falle beseelt in mein Hotelbett. Jazzahead macht eben nicht nur fertig, sondern auch in höchstem Maße glücklich.
Die Bildqualität des folgenden Videos bitte ich zu entschuldigen. Es wäre aber ein Fehler, das Stück deshalb nicht anzuhören:
Der Sonntag, sonst lediglich für Ausstellerfrühstück,
hastiges Abbauen und letzte Verabschiedungen reserviert, bietet eine weitere
Neuerung: Gleich nach dem Business Lunch
im Schlachthof, bei dem es für mich ein Wiedersehen mit dem letztjährigen
Geheimtipp Noam Vazana gibt, steht für das Abschiedskonzert Nordic At Noon das fünfzehnköpfige, mit
doppelter Rhythmusgruppe und Elektronik besetzte Paar-Nilssen-Love Ensebmle auf
dem Programm, dessen ebenso mann- wie lautstarke Freejazzklänge die Besucher
nach drei Nächten des Schlafmangels mitten in die Magengrube treffen, nicht
jedoch ohne den einen oder anderen Moment voll stiller Schönheit im Auge des
Sturms zu bieten. Auf die Verkündung des Partnerlandes beim traditionellen Goodbye Breakfast hingegen warten wir
vergeblich: Da die Jazzahead im kommenden Jahr ihr fünfzehnjähriges Bestehen feiert,
hat man sich zum Jubiläum etwas Besonderes einfallen lassen, das erst in den
nächsten Tagen enthüllt wird.
Fest hingegen steht schon jetzt, dass die Jazzahead 2019
mit 3.408 (2018: 3.282) Fachteilnehmern aus 64 Nationen und rund 18.000
Besuchern (2018: 17.362) erneut gewachsen ist. Dabei gibt es die Jazzahead genauso wenig wie den Jazz. Jeder erlebt seine eigene
Messe. Dies war meine. Es gibt noch 3.407 andere.
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Mit klassischer Dreisätzigkeit hat das vierzehn Tracks umfassende Klavierkonzert wenig gemein – und auch sonst setzt Wolf Kerschek mit seinem für Pianist Vladyslav Sendecki geschriebenen My Polish Heart auf den ungewöhnlichen Dialog von improvisiertem Soloklavier und wandelbarer, da reaktiver Komposition, sodass das Werk recht eigentlich als Doppelkonzert für Klavier und Orchester zu begreifen ist.
Den Auftakt machen mit „Birth of Concsiousness“ behutsame orchestrale Dissonanzen, die Sendecki aufgreift und mal hier-, mal dorthin mäandernd weiterführt im kontinuierlichen Austausch mit einem Orchester, das ouvertürengleich eine bedrohliche Ahnung vorwegzunehmen zu scheint: Man wartet auf das erlösende Moment, ist gar gewillt, ein Ende mit Schrecken in Kauf zu nehmen, wenn sich nur die schier unerträgliche Spannung endlich löste! Das tut sie auf „First Memories“, das mit geerdetem Groove und folkloristischen Flötensprengseln zu einer Reise in offener Kutsche übers Land einlädt, bevor an einem prächtigen Hof halt gemacht wird, wo ein pompöses Fest, konterkariert von zartesten Klangmalereien Sendeckis, im Gange ist.
Vollends fort tragen die symphonischen Klanggewalten von „Landscapes“, auf denen die Hamburger Symphoniker ihr ganzes Potenzial entfalten, bis mit „Adolescence“ nachgerade funky Waberndes die New Yorker Columbia-Studios der Siebzigerjahre wieder auferstehen lässt, gekrönt von Frank Delles NDR Bigband-erprobtem Baritonsaxophon, während die Gitarre von Kerscheks Bruder Sven auf „Early Manhood“ für einen Hauch PsychRock sorgt. Der löst sich auf „Moving Ahead“, das den Dialog mit NDR Bigband-Trompeter Claus Stötter sucht und findet, in dicht orchestriertem Wohlgefallen auf.
Das ganze Drama der Ouvertüre spiegelt sich in „Spiritual Journey“ wider, die – nicht unähnlich der Doyna von den Klezmatics – die physikalischen Beschränkungen des Altsaxophons, hier bis zur Schmerzgrenze ausgelotet von Peter Bolte, zu verschieben trachtet. Auf „Love“ steht wieder Sendeckis filigranes Tastenspiel im Vordergrund, während die Philharmoniker soundtrackartige Soundscapes zaubern, bis die Klänge einer Sterntalermusik gleich fliegen. Stefan Lottermanns naturhornnaher Posaunenton beschwört auf „The Inner Voice“ eine Szene zwischen pastoraler Idylle und Regenwald herauf, ein Gong entführt ins Zen-Kloster, bevor der philharmonische Großsegler wieder in den heimischen Hafen von Polens Ostseeküste einläuft, wo mit „Rage“ schon die Freejazz-Strandkapelle wartet, die privat gern mal ein bisschen zu viel Zappa hört und sich jetzt dieser ganzen Gewaltig-, ja: Gewalttätigkeit entledigen muss. Erst die gedämpfte Trompete Reiner Winterschladens und allerlei Regenwaldgeräusch lassen auf „Transformation“ pure Schönheit blicken, die aus dem Chaos geboren wurde.
Mit „Reminiscence“ schwingen sich die Symphoniker in ungehörte Höhen empor, jubilieren, tirilieren, aufgefangen vom federleichten Pianospiel auf „Destiny“, das ebenso im Jazzclub über nervösem Off-Beat zu bestehen weiß wie vor dem aus vollem Rohr tönenden Symphonieorchester und einer auf „Free At Last“ endgültig explodierenden Bigband. Wenn das Symphonischer Jazz ist, bin ich ab sofort Fan.
Ausgehend vom gleichnamigen ARD-Olympiasong ist mit Games of Passion ein ganzes Album unter dem Eindruck der Olympischen Spiele 2016 in Rio entstanden. Hier widmet sich Weltrekord-Dirigent & Echo-Preisträger Wolf Kerschek in bewährter Zusammenarbeit mit der NDR Bigband den populären Musikstilen des Olympia-Gastlandes. Mit an Bord: Latin-Diva Daniela Mercury, die sich gleich auf dem titelgebenden Opener eindrucksvoll vorstellt. Als überschäumende Fiesta Latinoamericana verbeugt sich das fanfarenstarke Titelstück mit seinen Mais que nada-Anklängen vor Brasil-Legende Sergio Mendes, während eine souveräne NDR Bigband mit akzentuierten Jazzclub-Rhythmen die Brücke nach Europa schlägt.
Symphonischer geht’s auf dem von der Berliner Popjazzhoffnung Marc Secara intonierten „Victory“ zu, einem Stück, welches das Pathos nicht scheut und jedem Boxer als Einmarschmusik gute Dienste leisten würde. Alle Gravität muss weichen, wenn die grandiose Mercury das Mikro auf „Paralympics“ wieder übernimmt, das an den Flirt eines Quincy Jones mit den Rhythmen aus dem Land der tausend Farben gemahnt. Fiete Felschs Ipanema-Flöte umspielt den Gesang von Ken Norris und dem kleinen Jesse Kerschek, die sich auf dem mit hochgradig eingängiger Melodie bezauberndem „Childhood Dreams“ ein Stelldichein geben, während sich Folarin Omishades Reibeisen-Vocals auf „Hope To My People“ mit jedem modernen NuSoul-Crooner messen lassen können ‒ noch dazu sie auf genretypisches Wehklagen zu verzichten, sondern vielmehr die Melancholie ob der verlassenen Heimat in die kämpferische Energie eines Südstaaten-Predigers zu transformieren wissen, kongenial in Rhythmen gefasst von Schlagwerker Kiko Freitas und einem direkt aus einem Baxploitation-Movie entsprungen scheinenden Bläsersatz.
Elegantes Kreuzfahrtflair verströmt die Bossa-Ballade „It Was Worth It“, die offenlässt, ob es sich hier um die Reminiszenzen eines nicht siegreichen Athleten handelt oder jene eines unglücklichen Liebhabers, der gewagt, aber nicht gewonnen hat. Kerschek ist hier eine Art Bossanova-Torch-Song gelungen, der die Chöre des Openers dezent wieder aufnimmt ‒ und damit auch die Idee eines untrennbar zusammenhängenden Albums. Dass die Verbindung von populären brasilianischen Rhythmen und Jazz gelingen kann, beweist „Fair Play“, während das fast formatradiotaugliche „The One To Outrun“ ob seiner nachgerade alpin wirkenden Tubaklänge auch den Zuspruch eines jazzungewohnten Publikums finden dürfte.
Nach dem verspielten „Forro“ mit Lutz Büchner an der Klarinette spielen sich auf „Speed Match“ die Bläser den Ball, vielmehr: das Motiv zu, bevor auch hier eine überbordende Spielfreude übernimmt, ohne die intimen Jazzclub-Wurzeln des Stücks zu verleugnen. Sowohl „Activities“ als auch das opulent Soundtrack-artige „Tears of Joy“, das mit gleich drei Vokalisten aufwartet, nehmen wieder das Chormotiv des Beginns auf, dessen getragenen Charakter die portugiesische Reprise von „Paralympics“ gleich wieder vergessen macht, ist hier doch Fiesta pur angesagt! Die Klammer dieses tausendfarbigen Albums, das seine Message wie nebenbei zu platzieren versteht, wird geschlossen von einem wohl schönsten Stück: dem Edelbossa „It Was Worth It“, der in seiner Muttersprache noch ein Quäntchen mehr unter die Haut geht als auf Englisch.
„Mit einem Album muss man leben, um ihm gerecht zu werden. Es hat Zeit gebraucht, es aufzunehmen, es braucht Zeit, es zu rezipieren. Nicht zuletzt hat das etwas mit Respekt zu tun.“
Ich freue mich, dass mein Ansatz von Hören im Sinne von nicht nur simplem An-, sondern von genauem Zuhören, das naturgemäß Zeit braucht, derart starken Widerhall gefunden hat, dass es dem Magazin Fachjournalist bei seinem Schreibwettbewerb zum Thema „Journalistische Trendthemen“ den ersten Platz in der Kategorie „Langsamer Journalismus“ wert war.
Das ganze „Plädoyer für einen langsamen Musikjournalismus“ kann hier abgerufen werden. Eine gute Zeit damit wünscht
Ihr Klangverführer
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