22. August 2011

Die Dominanz des Kleinmädchenschemas, zwei ungehörte Künstler und eine lebensrettende Platte: Fabulous Female Folk im nbi

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Die Musik der Berliner Illustratorin und Sängerin Ute „Illute“ Kneisel lernte ich im Sommer 2009 kennen. Kopfhörerhund und ich waren gerade in unsere neue Wohnung gezogen, für welche ich beim Unikate-Markt für selbermachende Individualisten DaWanda nach schönen Dingen stöberte. Ich fand solche – nicht immer nützlichen, aber ungemein dekorativen – Sächelchen wie Topflappen in Schellackplattenoptik, einen Stoffplattenspieler als Wandbild – und eben die Illute-CD von 2007, die ich im Shop der Graphikdesignerin Maki Shimizu entdeckte, und von der keiner so richtig weiß, wie sie heißt. „Durchs Herz geschaut“, ist eine Variante. „Berlin 2007“ eine andere. Die Produktbeschreibung versprach in jedem Falle ein Album, das „akustisch, minimalistisch, Bossa Nova, Chanson, Pop“ sei. Genau der richtige Soundtrack also für mein neues Leben! Zudem fand ich die Illustration des Kopfhörermädchens mit Herz ganz zauberhaft – das Album war gekauft.


MAKIS. vs. Illute

Mittlerweile ist auf Analogsoul ein neues Album von Illute erschienen: Immer kommt anders als Du denkst, das im Oktober 2010 in einem kleinen Studio in der Nähe Wiens aufgenommen und dessen erste Single-Auskopplung Viva la Ignorancia, die auch schon auf dem Berlin 2007-Album zu finden war, bei unseren Nachbarn zum Hit wurde – während die gitarre-, kalimba- und percussionspielende Illustratorin hierzulande immer noch ein Geheimtipp ist, der vor allem unter anderen Musikern und ihnen verwandten Geistern kursiert. „A musician’s musician“ nennen die Engländer Phänomene wie Illute. Schöner ausgedrückt hat es einer meiner beiden heutigen Begleiter, der als jo_berlin selbst ganz zauberhafte Lieder macht. Immer kommt anders als du denkst sei eine Platte, „die Leben retten kann“.

Wenn dies alles nicht Grund genug ist, sich die Dame live anzuhören – noch dazu, wo der unter dem Motto „We’ll sing you songs // fabulousfemalefolk“ stehende Abend neben Illute und ihrer Mitstreiterin Daniella Grimm an Violine und Vocals weitere geballte Weiblichkeit auffährt. Schließlich stehen noch Lùisa aus Hamburg, Eleonora aus München und die Berlinerin Donna Stolz auf dem Programm – Letztere ihres Zeichens ebenfalls Illustratorin. Es ist der Abend der malenden Musikerinnen. Oder der musizierenden Malerinnen? Folgt man der Prämisse, dass sich jede Art von Kreativität – egal, in welcher Form sie sich letztendlich äußert – aus der selben Quelle speist, erscheint es nur logisch, dass kreative Menschen designen, komponieren, dichten können. Mit dem Mythos vom Renaissance-Genie hat das wenig zu tun; eher mit einer allgemeinen musischen Veranlagung – und im Zeitalter der Multimedalität auch mit ganz handfesten Gründen. Das Gestalten von Websiten, Einbinden von eigenen Filmen und Musik ist ja nun nicht wirklich selten. Ganz analog geht aber auch:


Das hier ist schon fast so schön wie meine Schallplattentopflappen oder mein Stoffplattenspieler und schreit definitiv „Haben wollen!“

Wie dem auch sei, die fabulous female Folkers – oder vielmehr: Folkerettes – des heutigen Abends sind bis auf Illute auch noch allesamt das, was die Presse gern als Gitarre-spielende Folk-Pop-Elfen bezeichnet – es geht also im Klangblog genauso akustikgitarrenlastig weiter, wie es in Victoriah’s Music aufgehört hat. Auch der gar nicht so geheime Überraschungsgast des Abends, Multiinstrumentalist und Singer/Songwriter Jonathan Kluth, der gestern erst solo & unplugged in der schönen Kreuzberger Wohnzimmerbar hubertuslounge zu hören war, rückt mit seiner Gitarre an, weiß daneben aktuell aber noch mit einem Hundebild auf seiner Homepage zu bestechen. Kopfhörerhund wusste schon, weshalb sie heute Abend unbedingt dabei sein wollte!


Hund (links) vor Hubertus (dahinter)

Was ich zuletzt an Female Folk im nbi gesehen hatte, war allerdings
weniger fabulous – und genau genommen auch kein Folk, sondern der Singersongwriterpop Diane Weigmanns. Das heißt, der heutige Abend
konnte nur besser werden. Leider sollte er sich tatsächlich als nbi-typisch durchwachsen erweisen, mit einer irgendwo zwischen den Polen „oh ja“
und „oh je“ oszillierenden Amplitude.

Eröffnet wird er von einer vor Aufregung hyperventilierenden Donna Stolz mit deutsch-englischer Sprachverwirrung – kleiner Tipp: ein deutsches Publikum kann mit deutschen Ansagen durchaus etwas anfangen, alles andere wäre albern – und einem „Wow, es dreht sich alles“. Im Vergleich zu ihrer vor Nervosität vibrierenden Sprechstimme und dem sehr sehr dünnen Körperchen hat sie allerdings eine erstaunlich kräftige Singstimme, die entspannt und tragend rüberkommt. Das ist allerdings auch schon das einzig Positive, was man über den Auftritt sagen kann. Die Songs von Donna sind plakative Cowgirl-Nummern mit viel Attitüde und wenig Substanz, und ich möchte hier meinen anderen Begleiter zitieren, der treffend bemerkte: „Eigentlich erwarte ich ja von Musik, das ich etwas über den Menschen da auf der Bühne erfahre. Hier erfahre ich nichts.“ Zu allem Übel kann Stolz nicht Gitarre spielen, ist sich dessen charmanterweise aber bewusst: „Can you hear the guitar? I think it’s really soft here – but maybe it’s good for you guys“.


Donna vs. Eleonora

Eleonora aus München beweist danach ganz ohne Band, wie man es besser machen kann. Nicht nur, dass sie genau den richtigen heiseren Biss im Stimmansatz hat, der einem verrät, dass man es hier mit einer Frau und keinem Mädchen zu tun hat, auch erzählen ihre Lieder etwas über das Leben, worin ich mich wiederfinde und was mir bei Donna Stolz gefehlt hat. Eleonora ist echt, ohne hier die vielstrapazierte „Authentizität“ bemühen zu wollen. Nichtsdestotrotz: Eine Kadenz reicht eben nicht, um ein komplettes Set zu füllen, denn vom richtigen Gitarrespiel ist auch Eleonora noch weit entfernt.

Es sei dahingestellt, ob die Mädchen des Abends alle gern Ani DiFranco wären – denn schließlich kann DiFranco Gitarre spielen. Dahingestellt sei auch, ob es eine Korrelation zwischen Rocklänge und musikalischem Vermögen gibt. Fest zu stehen scheint hingegen, dass man als moderne Singer-Songwriterin unbedingt die selbe niedliche Ponyfrisur tragen muss, die man schon als fünfjähriges Mädchen hatte. Wir brauchen erst einmal eine Pause, und mein einer Begleiter fasst den bisherigen Abend zusammen mit einem geseufzten „Wir könnten schon vögelnd im Bett liegen“ – ein Witz, aber einer mit wahrem Kern: Man hätte mit der hier verbrachten Zeit Sinn- und Lustvolleres anfangen können. Zum Auftritt von Lùisa aus Hamburg kann ich deshalb auch nichts sagen: An der frischen Luft ist es schön und wir beschließen, eine Weile vor der Tür zu bleiben. Nichts ärgert so sehr wie belanglose Lieder!

Doch dann, endlich, kommt diejenige, wegen der wir hier sind: Illute mit ihrer Begleiterin Danielle, zudem ihren zwei Wiener Mitstreitern an Akkordeon und Bass – eine schöne Besetzung! Gleich das a-capella-Intro zeigt, dass wir hier einen Qualitäts-, ach was, einen Quantensprung machen – und zum ersten Mal an diesem Abend bin nicht nur ich froh, hier zu sein, sondern auch Kopfhörerhund, der schrammelig gespielte Gitarren nicht mag und bisher rege Fluchttendenzen aufwies, rollt sich entspannt zusammen und schläft. Ein sicheres Zeichen für gute Musik. Schon beim zweiten Song – Ich will weiter gehen/weiter als geplant – bekomme ich eine Ahnung davon, was Jo mit der lebensrettenden Platte meinte – wobei ich die Idee ohnehin gut nachvollziehen kann, ging es mir doch lange Zeit mit Pauline Taylors 1998 auf Intercord erschienenem selbstbetitelten Album – ja, das wo Constantly Waiting drauf ist – genau so. Und tatsächlich hat Immer kommt anders als du denkst alles, was eine Platte braucht, um sie zur Lieblingsplatte zu machen: Lieder, die berühren, eine minimalistische, dennoch ausgeklügelte Produktion, eine handvoll großartige Musiker und den nicht näher bestimmbaren Illute-Faktor, der dafür sorgt, dass man sich selbst bei Liedern, die direkt aus dem Tal der Tränen zu kommen scheinen, seltsam getröstet fühlt. Darüber hinaus das genau richtige Maß an Studiotechnik, das auf eine unnötige Demonstration überflüssigen Könnens verzichtet. Ich mag das Understatement, das Illutes Musik auszeichnet – eine Zurückhaltung, die nicht aus der Not oder gar aus Talentmangel geboren ist, sondern hinter der eine ganze Menge steckt. Eine herrliche Low-Fi-Platte, mit der Illute bei „Fabulous Female Folk“ absolut fehl am Platze ist.

Hier ist nichts bemüht, alles genau so, wie es sein muss, und das heutige Live-Arrangement noch leichter, ätherischer, poetischer als die Platte. Ganz zu schweigen von dem intuitiven Zusammenspiel, dem blinden Verständnis zwischen Illute und Danielle. In die beiden könnte man sich glatt verlieben; das letzte Mal, als ich eine Band schrumpfen und in der Hosentasche mit nach Hause nehmen wollte, damit sie fortan auf meinem Nachttisch für mich spielen, war vor einem Jahr bei A Glezele Vayn. Und jetzt wieder! Bei der Zugabe beweist Danielle obendrein, dass an dem von ihren Vorgängerinnen bemühten „Frauen und Technik“-Klischee nichts dran ist; zudem hat mir der Song den Glauben an die Loop-Station wiedergegeben: Ganz erstaunlich, wie die beiden mit absolut präzisem Timing und blindem Verstehen mit mehreren Schleifen parallel hantieren – mehr davon!

In zweierlei Hinsicht hat mir der Abend bestätigt, weshalb ich schreibend vor und nicht musizierend auf der Bühne stehe. Im Falle von Stolz & Co., weil ich vermutlich ebenfalls nicht über deren spieltechnisches Niveau hinauskäme – und das braucht kein Mensch, auch wenn es nicht regelrecht gestört hat. Im Falle von Illute und Danielle, weil man die Bühne denen überlassen sollte, die es können. Lieblingslied des Abends: Die Single-Auskopplung My Music Is A Boat und das Live-Arrangement von You Go, dessen Album-Fassung ihm nicht das Wasser reichen kann. Auch sehr schön: Eine herrlich schwerelose Version von Peter Schillings Synthie-Pop-Klassiker Major Tom (Völlig losgelöst):

Und wieder einmal rettet Illute Leben oder zumindest uns den Abend. Dafür ein großes Dankeschön! Jonathan Kluth hingegen ereilt das selbe Schicksal wie Lùisa: Er wird heute Abend von uns nicht mehr gehört. Vielleicht nächstes Mal!

Während wir den Abend mit dem Pflichtbesuch beim berühmt-berüchtigten Photoautomaten auf der Kastanienallee krönen, gabelt Kopfhörerhund nachts um halb drei noch einen jungen Liebhaber auf – und ist davon auch noch am nächsten Tag vollkommen geschafft.

16. August 2011

Nichts für (N)Ostalgiker. Andrej Hermlin liest aus seiner Autobiographie

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Manchmal lohnt es sich, einen Hundesitter zu haben, der an der Grenze von Weißensee und Lichtenberg wohnt. Hole ich Kopfhörerhund ab, kann ich einen Blick in den die-Hausverwaltung-informiert-ihre-Mieter-Kasten werfen, der – verglast und sicherheitsverschlossen – allerlei Zettelkram der Wohnungsgenossenschaft Lichtenberg enthält, von Tipps zum richtigen Lüften der Loggias übder einen Gardinenaufhängeservice des Hausmeisters. Und so manches mal verirrt sich ein Aushang der benachtbarten Anton-Saefkow-Bibliothek in den Glaskasten. Dort gibt es nicht nur viele schöne Bücher, sondern auch allerlei schöne Veranstaltungen. Nicht ohen Grund bekam die Stastteilbibliothek in diesem Jahr den vom Deutschen Bibliotheksverband und der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius verliehenen Titel „Bibliothek des Jahres“ zugesprochen – als „unverzichtbarer Ort im Stadtteil“. Und tatsächlich gelingt den Organisatoren hier oft das Unmögliche: gefragte Künstler, die nicht gerade für klaffende Lücken in ihrem Terminkalender bekannt sind, für einen verschwindend kleinen Obulus einem Publikum zugänglich zu machen, die sonst keine Chance auf eine Begegnung mit ihnen hätten.

Kein Wunder, dass auch die Lesung von Andrej Hermlin im Nu ausverkauft war. Als Privatperson bin ich nicht mehr an Tickets gekommen, also musste ich die Pressekarte ausspielen, wenngleich ungern. Kaum etwas ist mir so zuwider wie Kollegen, die sich mit Notarztstimme à la „Lassen Sie mich durch, ich habe einen Presseausweis!“ Zutritt zu jedem Event verschaffen. Hermlin indessen musste sein, denn schließlich eröffnete der Bandleader das musikalische Jahr im Klangblog mit einem wahren Klangkrimi – der Jagd nach seiner aktuellen CD Schwingende Rhythmen – Swing aus der Friedrichstraße.


Das war sehr nett. Und hat die Arbeit erleichtert.

In Hermlins im März beim Aufbau Verlag erschienenen Autobiographie My Way geht es trotz des bei Sinatra entlehnten Titels nicht um Musik, oder zumindest nicht vorrangig. Vielmehr geht es um die Kindheitserinnerungen des 1965 Geborenen, der sicherlich alles andere als eine typische DDR-Kindheit erlebt hat. Andererseits: Wer auch aus deutsch-osteuropäisch-jüdischer Künstlerfamilie stammt, findet sich in Hermlins Erzählungen schnell wieder. Ohnehin ist Erzählung das Stichwort des Abends, denn Andrej Hermlin erweist sich als überraschend guter Erzähler und als noch besserer Vorleser. Auch dem Autor merkt man den routinierten Entertainer an. Störungen wie das Klingeln eines Handys kommentiert er professionell mit „Gehen Sie ruhig ran – es könnte wichtig sein“, womit er die Lacher erwartungsgemäß auf seiner Seite hat. Auch für eine Lesung ist es eben hilfreich, schon das eine oder andere Mal auf einer Bühne gestanden zu haben. Hermlins Vortrag ist nuanciert, fast schon wie der eines Schauspielers. Unwillkürlich fragt man sich, ob man My Way ebenso genösse, fiele diese Stimme weg. Als erklärter Hörbuchhasser wünsche ich mir zum ersten Mal in meinem Leben ein Hörbuch (falls My Way nicht als Hörbuch erhältlich ist: lieber Verlag, bitte dringend herausgeben). Hermlin hat eine einschmeichelnde Stimme.

Andrej Hermlin beginnt seine Lesung mit Erinnerungen an knatternde Motorräder, Gaslaternen und Kohlekeller, an Pferdehufgetrappel, Schiebermützen und Straßenbahnoberleitungen. Bei soviel Zeitkolorit dürfte jetzt selbst der Letzte begriffen haben, in welchem Jahrzehnt wir uns befinden. Sehr hübsch die Weihnachtsszene, die sich jedoch bis auf den Umstand, dass es im Hause Hermlin eine Haushälterin gab, nicht groß von den erwartungsvollen Adventstagen eines wohl jeden Kindes unterscheidet. Hübsch die Auflistung der internationalen Versammlung am Tisch, die russische Mutter, der jüdische Vater, die „Promenadenmischung“ Hermlin, der Spielzeugtraktor aus DDR-Produktion und die von der Haushälterin liebevoll zubereitete polnische Pute. Spätestens jetzt kann ich mir gut vorstellen, dass My Way selbst dann eine vergnügliche Lektüre ist, wenn man nicht in den Genuss des Vorlesens durch den Autor kommt.

Über eine Szene aus dem Heimatkundeunterricht arbeiten wir uns zur Armeezeit Hermlins vor. Für das allzu menschelnde Kapitel über den NVA-Vorgesetzten Klotz gibt es sogar Szenenapplaus. So etwas mögen die Leute. Für meinen Geschmack wird hier – zum ersten, aber nicht zum letzten Mal an diesem Abend – die Grenze zum Pathos haarscharf gestreift – und das von der falschen Seite. Schade, denn Hermlins sicherlich Stoff genug bietendes „Leben zwischen den Welten“ (so der Untertitel des Buches) hätte rhethorische Effekthascherei nicht nötig. Auch im Kapitel über die Großeltern und deren Erlebnisse im Russland des Zweiten Weltkrieges verändert sich der Ton nicht. Mag es Hermlin auch darum gehen, ein Fanal gegen den Verrat zu setzen – weniger weäre mehr gewesen, denn auch hier drückt der Autor auf die Tränendrüse, indem er der dramatischen Geschichte eine leichte Tendenz zum Pathos verleiht. Dem Publikum ist das egal, es klatscht.

Wir verlassen das schwierige Gebiet, wo ein Erwachsener einen anderen Erwachsenen (und sei dieser auch aus seiner eigenen Familie) beurteilt und werden wieder in die Kindheitserinnerungen Hermlins entführt. Die Sprach spiegelt hier die Begeisterungsfähigkeit des sympathischen Jungen – und endlich erwähnt Andrej Hermlin auch sein musikalisches Erweckungserlebnis, das im Hören einer Benny-Goodman-Platte bestand. Obwohl er erst ungefähr zehn Jahre alt gewesen sei, habe er sofort gewusst, dass dies der Klang war, nachdem er gesucht hatte. Hermlin erkannte sich in Goodmans Musik wieder. Hier fühlte er sich zu Hause.

Der Junge Andrej Hermlin träumte von seinem eigenen Swing-Orchester, das die Musik Benny Goodmans für die Jetztzeit bewahrt – denn schon damals war recht klar, dass sich Hermlins Altersgenossen für gänzlich andere Musik interessierten. Hermlin hingegen gerät auch heute noch ins Schwärmen und spricht von einer „glorreichen Zeit“, wenn er an die Swing-Ära denkt. Bezeichnenderweise klatscht hier niemand. Die Menschen sind nicht wegen der Musik hier. Eigentlich seltsam, wenn man bedenkt, dass es sich um die Lesung eines Musikers handelt.

Persönlicher wird Hermlin wieder bei dem Kapitel über seine Kinder Laura, David und Rachel. Die 15-jährige Laura ist anwesend, die beiden kleineren (Halb-)Geschwister werden im Buch ausreichend gewürdigt, inklusive ihrer an Tom & Jerry erinnernden Streitigkeiten, denen Hermlin und seine Frau mit dem Stoßseufzer aller geplagter Eltern gegenüberstehen: Was haben wir da nur für Kinder hervorgebracht! Eigentlich ein schöner Ausblick, doch auch hier vermag der Autor nicht auf ebenso voraussehbare wie applausheischende Stilfiguren zu verzichten. Die Rechnung geht auf, das Publikum applaudiert. Abgerundet wird die Lesung durch ein recht düsteres Kapitel, das 2007 in Nairobi spielt und mit der Verhaftung Hermlins am Flughafen endet. Leider lässt Hermlin auch hier kein Klischee à la „die Zeit ist ein Heiler“ aus.

Glücklicherweise wird in der an die Lesung anschließende Fragestunde sehr schnell klar, dass es dem Musiker mitnichten darum geht, sich als Gutmensch zu positionieren. Ja, er hat in einem Dorf in Kenia Straßenbeleuchtung installieren lassen, einen Spielplatz gebaut und für eine funktionierende Müllabfuhr gesorgt. Dennoch ist dies hier nicht die übliche Promi-tut-Gutes-und-redet-darüber-Masche. Auch wenn ab und an der Heiligenschein durchschimmert, ist Hermlins Engagement glaubhaft. Schließlich ist es aus dem wohl persönlichsten Betroffensein überhaupt entstanden: der Liebe. Und als durchweg politischem Menschen blieb Hermlin nahezu keine Wahl, sich zum Botschafter von Missständen zu machen, die man hier eben nicht von den Nachrichten präsentiert bekommt.

In der Tat wurde es ein sehr politischer Abend, wenngleich anders, als vom Publikum antizipiert, das wohl vor allem ob der versprochenen Erinnerungen an die DDR-Zeit hier ist. Spätestens der Diskussionsteil des Abends steht ganz im Zeichen der aktuellen Problematik Afrikas im Allgemeinen und Kenias im Besonderen. Es geht um die Verteilung von Reichtum und um fehlende Sozialsysteme. Bei uns, so Hermlin, übertünchten die Sozialsysteme den Kapitalismus. „Wer erfahren will, wie Kapitalismus wirklich ist, muss nur mal nach Kenia fahren: Wer da kein halbes Jahresgehalt aufbringen kann, wird nicht einmal ins Krankenhaus hineingelassen und stirbt noch in der Notaufnahme!“ Menschen, so Hermlin weiter, stürben hier nicht an Krankheiten. Sie stürben an Afrika. Hoffnung indessen, dass sich etwas ändert, hat er kaum. Die kenianische Politik, die sei wie ein Dieter-Wedel-Film mit den immer gleichen Schauspielern und jeweils anderen Plots. Natürlich gäbe es eine relative Demokratie und Pressefreiheit, für die man sich damals in der DDR den linken Arm abgehackt hätte, doch habe all dies keinen Effekt. 2007 hätte unter Raila Odinga, dem „Nelson Mandela Kenias“, ein großer Umbruch geschehen können, doch wurden die Wahlen massiv gefälscht, die Macht geteilt. „Stellen Sie sich vor, eine Machtteilung zwischen Erich Mielke und Bärbel Bohley – das wäre auch nicht gut gegangen“, verdeutlicht der Entertainer mit einem Bild, mit dem das anwesende Publikum etwas anfangen kann.

Kenias Dilemma seinen die alten Machtstrukturen, wenngleich man nicht alles auf die Folgen des Kolonialismus schieben könne. Schließlich wurden die weißen Eliten schon vor Jahrzehnten von schwarzen Eliten abgelöst, und diese seien an der Aufrechterhaltung des Status Quo interessiert; und durch mangelnde Bildung und das Ausspielen der verschiedenen Stämme gegeneinander gelinge dies auch. „Das Land“, so Hermlin, „ist wunderschön. Privat kann ich Ihnen nur empfehlen, dorthin zu reisen. Aber ich bin alles andere als optimistisch, was die politische Entwicklung angeht“. Veränderung könne nur bewirken, wenn man die bestehenden Strukturen angreift, um beispielsweise Abhängigkeiten vom Wetter zu durchbrechen. Mit dem Muster „Katastrophe – Hilfe – Katastrophe – Hilfe“ jedoch ändere sich gar nichts. Hermlin hält nicht viel von Hilfsorganisationen, mit eindrucksvollen Beispielen weiß er zu belegen, was im Land ankommt: nämlich nichts.

Und da kann der sonst so elegant-zurückhaltende Erzähler auch schon mal laut werden. Hermlin leidet an Kenia, denn „es ist ein Land, in das man sich eigentlich nur verlieben kann“, doch genau dieses „eigentlich“ ist es, was ihm zusetzt. Kenia ist ihm zur zweiten Heimat geworden; natürlich sei es spannend, wie durch seine Frau eine ganz andere Welt in sein Leben gekommen sei. Andererseits hätten seine Afrika-Reisen auch seinen Blick auf Deutschland nachhaltig verändert: „Wir leiden hier schon auf sehr hohem Niveau“. Ja, richtiggehend wütend kann er werden: „Wenn Sie glauben, es geht Ihnen schlecht in Deutschland, dann gehen Sie mal nach Kenia, sehen Sie sich die Kibera Slums an!, schleudert er einer Dame entgegen, deren Einwand „Aber das kann man doch nicht vergleichen“ er zurecht vehement abschmettert. Und nicht nur das regt Hermlin auf. Auch mit der hiesigen Politik hadert er; namentlich mit den Linken, den er seit zwanzig Jahren die Treue hält, deren aktuelle antisemitische Tendenzen im Deckmantel der Israelkritik er jedoch völlig inakzeptabel findet. Auch, was zu den Mauerbaufeierlichkeiten geschehen ist, habe ihn eher entsetzt. Als geschulter Beobachter sieht Hermlin die Partei hinter den Gründungskonsenz Anfang der Neunzigerjahre zurückfallen. „Wer sich hinstellt und die Mauer zurück haben will – und vor allem, wer sich hinstellt und nicht den Maueropfern gedenkt, von denen übrigens auch Grenzsoldaten gewusst haben, hat nicht nur einen sehr schlechten Stil, sondern macht auch politisch sehr viel kaputt!“ Mit fünfzig Jahren Wissen und Aufklärung im Hintergrund könne man nicht an den alten Parolen festhalten. Ostalgie wird man bei Hermlin vergeblich suchen, und all jene, die gekommen sind, um sich in gemeinsamen Erinnerungen einzukuscheln, müssen enttäuscht werden. Dieser Mann ist hochgradig wach und ganz dem Hier und Jetzt verhaftet. Der Spagat gelingt Hermlin nämlich nicht nur zwischen den Welten, sondern auch zwischen den Zeiten: So liegt ganz selbstverständlich und in scheinbar krassen Kontrast zu seiner auch kleidungstechnisch zelebrierten 30er-Jahre-Attitüde demonstrativ ein Smartphone auf dem Tisch. Auch Nostalgiker können mit der Zeit gehen, Hermlin ist das beste Beispiel – und damit so etwas wie eine lebende Lektion für alle Rückgewandten, ob nun politisch oder musikalisch.

Denn tatsächlich kommt dann auch noch die ein oder andere Musikfrage aus dem Publikum. Wie er es denn geschafft habe, mit seiner Musik sowohl künstlerisch als auch wirtschaftlich über Jahre erfolgreich zu sein? Es habe, so Hermlin, nie Musik gemacht, um Geld verdienen zu wollen oder dem Publikumsgeschmack hinterherzulaufen – dies würde auf Dauer nicht funktionieren. Vielmehr müsse man sich selbst fragen, was man eigentlich will und das dann konsequent umsetzen. Er habe Glück gehabt, dass dem Publikum genau das zu gefallen scheint, was ihm selbst gefällt. Das Geschäft allerdings, gibt er zu, wird nicht leichter. „Wie sehen Sie“, möchte daraufhin eine kulturpessimistische Dame wissen, „die musikalische Jugend, ja, überhaupt die Entwicklung unserer Musik? Ist das nicht alles nur noch Konsum?“ Hermlin, der sich sichtlich über die Frage freut, antwortet zunächst mit einem Zitat: „An seiner Kultur sollst du ein Land erkennen“. Natürlich gäbe es sie, die Konsumenten – aber die habe es schließlich schon immer gegeben. Auch in den Tanzpalästen habe man sich früher berieseln lassen. Nein, er könne diesen Kulturpessimismus nicht teilen, denn zu jeder Tendenz gäbe es stets eine Gegentendenz. Hermlin könne keinen eindeutigen Trend in Richtung eines sich nur noch Berieseln Lassens oder einer nur noch in elektronischer Form produzierten Musik erkennen. Ganz im Gegenteil, er lerne viele Bands kennen, die sich gründen, sodass er hier weitaus weniger pessimistisch als vor, sagen wir, noch fünf Jahren sei. Jetzt komme, so glaubt der Musiker, wieder eine Generation, die wacher ist und sich auch mehr für gute Musik interessiert.

Der folgende Seitenblick gilt seiner Tochter. Sie nimmt er auch zum Anlass, den Abend charmant zu beenden: „Du hast doch Hunger, oder?“ Sie seien noch zum Sushi-Essen verabredet. Eine letzte Frage – wo er sich denn in zwanzig oder dreißig Jahren sehe – beantwortet Andrej Hermlin nur halb im Spaß mit: „Als Berater des kenianischen Präsidenten Raila Odinga“. Er bleibt eben immer politisch. Ich schieße noch ein Foto von Vater und Tochter und denke, hm, Sushi könntest du auch mal wieder essen. Was ich dann auch tue.


My Way. Ein Leben zwischen den Welten
Aufbau-Verlag, 1. Auflage März 2011
EUR 19,95

10. August 2011

Das Evangelium eines jeden Jazz-Liebhabers: die neue Victoriah’s Music ist online

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Es ist schon eine sehr akustikgitarrenlastige Ausgabe von Victoriah’s Music geworden, irgendwo im Spannungsfeld zwischen Matura und Materne. Vielleicht liegt das an der Jahreszeit. Immerhin ist das hier kein Baro-, sondern ein Thermometer, aufgenommen am 6. August:


Fluch und Segen des Südbalkons oder: Rezensieren unter erschwerten Bedingungen

Doch selbst wenn der Hochsommer die Zeit der Akustikgitarren sein sollte, wusste mich bis auf jene Finks keine so recht zu überzeugen. Dafür aber gibt es in der aktuellen Ausgabe von Victoriah’s Music endlich die ausführliche Rezension jener Platte, die das Zeug zu meinem persönlichen Album des Jahres hat – und das nicht, weil sie gänzlich akustikgitarrenbefreit daherkommt, sondern weil der biblische Horn-Pop der acht durchgeknallten Schweden einfach mal genau die Portion Wahnsinn hat, die es braucht:

King Oliver’s Revoler, Gospel of the Jazz Man’s Church

„Wo Summer of Girls dem Schließen möglicher Lücken in der persönlichen Diskothek dient, ist Gospel of the Jazz Man’s Church von ganz anderem Kaliber. Um es gleich vorwegzunehmen: Dem Stockholmer Oktett ist es gelungen, das Album zu machen, welches mich in diesem Jahr bislang am nachhaltigsten beeindruckt und mir gleichzeitig den größten Spaß bereitet hat. Ein Album, das bei mir auch privat auf heavy rotation läuft, dessen Songs mich bis in meine Träume verfolgen und gleich morgens beim Aufwachen wieder präsent sind.

Alles andere hätte mich aber auch enttäuscht, denn King Oliver’s Revolver sind eine Errungenschaft des Hauses Waggle Daggle Records – jenem sympathischen Label aus Freiburg im Breisgau, das mir auf der vorjährigen (Pop Up erstmals über den Weg gelaufen ist und mir dieses Frühjahr mit seinem Signing Major Parkinson einen sehr vergnüglichen Abend irgendwo zwischen Rock und Psychose, Schönheit und Groteske, Zirkus und menschlicher Zwiespältigkeit verschafft hat. Kurz: Es war wild. King Oliver’s Revolver nun stehen den irren Norwegern an Wildheit und Zuhörspaß in nichts nach, vorausgesetzt, man bringt eine gesunde Portion Wahnsinn mit, denn ohne den geht bei Waggle Daggle nun einmal nichts.

Nach einem kammermusikalisch instrumentierten Intro, das den Zuhörer in falsche Sicherheit wiegt, startet Tigris By Starlight gleich den Frontalangriff auf die Lachmuskeln: Hier wird kein noch so plattes ägypto-exotisches Klischee ausgelassen, nicht Moses im Weidenkörbchen, nicht der über Bagdad hängende Mond, nicht die pentatonischen Skalen. Von überraschender Schönheit dann aber die Stelle im Refrain, wo sich die Stimmen von Sänger Tobias Klevebom und die Minna Bolins zum Zwiegesang finden, unterlegt von einem zackigen Tangobeat, der in eine mitreißende Swing-Tanzfete gipfelt, um gleich darauf wieder von einer weinenden Geige konterkariert zu werden. Auch wird die schönste Textzeile des Albums bereits hier aufgebraucht: Through pedantry denies, it’s plain the Bible means/That Solomon grew wise while talking to his queens, die auf Yeats’ On Woman aus dessen Gedichtesammlung The Wild Swans at Coole von 1919 zurückgeht, wobei Yeats Salomon noch mit und nicht zu den Königinnen n sprechen lässt. Es kommen aber noch andere schöne Textzeilen; und ganz grundsätzlich schadet eine gewisse Belesenheit nicht beim Hören von Gospel of the Jazz Man’s Church, ebensowenig eine zumindest ansatzweise vorhandene Bibelfestigkeit.

Der nächste Song startet mit einem wilden Honkey Tonk Piano; hier trifft New Orleans-Feeling auf eine ausgelassene Let’s Go To San Fransisco-Parade. Ohnehin honkey-tonkt das Album ganz schön, was die Tasten von Ola Karlsson so hergeben. Salome wiederum ist pures Maroon 5 zu ihren besten Songs About Jane-Zeiten – gerade in den Höhen hat Klevboms Stimme eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Adam Levine –, während sich auf Penelope, dem nächsten Song, Where The Wild Roses Grow mit Still Got The Blues zu paaren scheint. Yelena erinnert mich an die Titel des russisch-jüdischen Ensembles Daniluschka, und hey! acht Jahre Russischunterricht haben sich dann doch ausgezahlt. Der Song könnte problemlos auch auf dem Kosher Nostra-Sampler zu finden sein; und hätten die Typen aus dem Alten Testament Pop gehört, er hätte so geklungen wie der biblische Horn-Pop von King Oliver’s Revolver!

Während I Know A Place Where The Grass Grows High schon sehr nach Elvis Costello klingt, ist ein weiteres Highlight sicherlich On The Day Of Reckoning. Dieses Album vereint einfach alles, was mir an Musik gefällt: Die Rhythmussektion einer hochgepriesenen Tango-Band, eine dreiköpfige Hornsektion und die wahnhafte Performance des Sängers, verrückt gewordene Banjos und rostige Gitarren, ein gequältes Tenorsaxophon und schräge Chöre. Die Musik kann man nur noch im weitesten Sinne als Jazz beschreiben; hier treiben Swing und eine perfekte Imitation überhaupt all dessen, was man sich in den Zwanzigerjahren so unter „exotisch“ vorgestellt hat, ihr Unwesen. Da steht die großinstrumentierte Ballade neben rauschhafter Zirkusmusik, surfigem Klezmer, funky Bläsern und und und.

Um von Gospel of the Jazz Man’s Church ebenso restlos begeistert zu sein wie ich, sollte man einerseits eine Vorliebe für vielköpfige Multiinstrumentalistenkombos à la 17 Hippies mitbringen, andererseits eine Schwäche für Varieté an der Grenze zum Wahnsinn à la Tiger Lillies hegen. Dann aber will während der Hörens das freudige Grinsen nicht weichen – und das, obwohl King Oliver’s Revolver das Kunststück fertigbringen, lustig ohne albern zu sein. Besser als der Plattentitel lässt sich die Musik der Schweden dann auch nicht zusammenfassen: als Evangelium eines jeden Jazz-Liebhabers. Schlicht und ergreifend grandios!“

Weiterlesen wie immer auf fairaudio.de


Wograms Wohnzimmer

Neben Gospel of the Jazz Man’s Church wurden besprochen:

  • Various Artists, Summer of Girls
  • Fink, Perfect Darkness
  • Various Artists, Café del Mar Vol. 17
  • Nikola Materne & Bossanoire, Wunderbar allein
  • Nils Wogram | Nostalgica, Sturm und Drang
  • Fattigfolket, Park
  • Roger Matura, World Gone Wrong
  • 2. August 2011

    Alle Fragen offen: Spoken Word mit Schule der Unruhe

    Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , , — VSz | Klangverführer @ 13:15

    Die Musiker waren großartig. Die Musik gewöhnungsbedürftig. Vielleicht aber habe ich auch nur mein Verständnis zu Hause vergessen, an diesem Nationalfeiertag der Schweizer, an dem das Berliner Label Traumton Records – dem wir unter anderem so schöne Veröffentlichungen wie die von Patty Moon oder Kathrin Scheer verdanken – Bassplayerman und mich freundlicherweise ins Radialsystem V zu den Spokenwordfreefolkjazzpoeten „Schule der Unruhe“, die im Rahmen der Veranstaltungsreihe Schweizgenössisch spielten, eingeladen hatte.

    Vielleicht muss man aber auch nicht alles erklären können. Ohnehin will man immer viel zu viel verstehen. Lassen wir anstatt tiefgreifender Deutungsversuche oder sonstwie gearteter Hermeneutik lieber Herrn Halter, kreativen Kopf und Frontmann der SDU, zu Worte kommen – denn derer hat dieser Mann wahrlich zur Genüge!

    Das erste Stück des Abends – In der letzten Straßenbahn – ist befremdlich. Das zweite – Sag jetzt nichts – nur noch leicht seltsam und allenfalls uninteressant, aber schon mit dem dritten Guten Morgen, Deutschland – hat Jürg Halter sein Publikum am Haken. Doch bereits bei Tanz den Roman Signer wird es mit Colin Vallons Handkantepiano wieder zeimlich seltsam. Ein niedliches Berlin-Gedicht (oder vielmehr: Nicht-Gedicht) erfreut,

    und auch der Brief an Kaiserin Elisabeth ist wunderhübsch anzuhören, mit so schönen Zeilen wie „im Licht gegen eine Straßenlaterne/tanze ich ausgiebig und gerne“. Leg den Mantel ab besticht mit seinem durch ein Glockenspiel ersetztes Piano, gefolgt von der ziemlich wilden Improvisation Kann schon sein.

    Der Bahnhof, eine Art persönliches Manifest, bringt en passant das Lebens-
    gefühl der Thirty-Somethings auf den Punkt: „Sprunghaft wie ich bin, weiß mein Herz nie, in welcher Brust es abends zur Ruhe kommt.“ Schön, das.

    Große Klasse auch der Schweizer Psalm, wo es schon einmal richtig laut wird, während die erste Zugabe La Bombe, Titeltrack des aktuellen SDU-Albums, als leises Duett von Stimme und Piano überrascht. Um Schöngesang geht es hier allerdings weniger; ja, es ist fraglich, ob es überhaupt um Gesang geht; schließlich zischt, spuckt und würgt Halter seine Laute rhythmisch hervor, bis sie manchmal puren Sound, aber keinen Sinn mehr ergeben – zumindest keinen, der sich dem menschlichen Ohr erschlösse, denn hier ist Stimme nurmehr ein weiteres Instrument des Quartetts. Weitaus mehr als Jürg Halter und der erstmals mit Schule der Unruhe musizierende Colin Vallon haben mich allerdings Philipp Schaufelberger an der Gitarre und vor allem Julian Sartorius an den Drums beeindruckt. Klar, wer mit Jean-Paul Bourelly & Co. spielt, hat sich eigentlich ausreichend qualifiziert, um keine großen Worte mehr verlieren zu müssen.

    Nach mit Das Wandern des Lebens nur noch einer weiteren Zugabe endet das erfreulich kurze Konzert, das – einem Schweizer Uhrwerk nicht unähnlich – pünktlich um halb zehn begann, wie auf der Einladung angekündigt.

    Live funktionieren die Songs von La Bombe, doch kann ich mir nicht vorstellen, dass sie jemand tatsächlich im heimischen Wohnzimmer hört. Unwillkürlich fragt sich der Zuschauer, was denn dieser ganze Kram – zwar Kram auf musikalisch unglaublich hohem Niveau, aber letzten Endes dennoch Kram – eigentlich soll, selbst wenn Halter intellektualisierend und auch verzichtbar die Metaebene seiner Poesie oftmals gleich mitliefert.

    Mehr noch: Soll und will das Ganze überhaupt etwas? Nimmt und meint der Poet das (und sich selbst) Ernst? Oder ist das am Ende gar subversiv? Anarchistischer Schweizer Humor? Gar wie von Sophie Hunger behauptet „die wunderbare Kunst des poetischen Widerstands“? Wir bleiben ratlos zurück und beenden diesen Beitrag so, wie schon Reich-Ranicki jede Sendung des Literarischen Quartetts beendete: Mit dem Brecht-Zitat „Und so sehen wir betroffen/den Vorhang zu und alle Fragen offen.“

     


    Kopfhörerhund beäugt skeptisch Bassplayermans Bein/der fürchtet der Hund denkt:
    Da beiß‘ ich jetzt rein

    1. August 2011

    Melodien aus dem kollektiven Menschheitsgedächtnis

    Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 23:54

    Die brandneue Victoriah’s Music ist auf fairaudio.de online – mit der Platte des Monats, einer unglaublich funky Überraschung: Travellin‘ Root der Schweizerin Eliana Burki.

    „Als ich Travellin’ Root das erste Mal in meinen CD-Player legte, hätte ich überraschter nicht sein können von dem Gegensatz zwischen dem, was ich erwartet hatte und dem, was ich da zu hören bekam. Ich habe mit einem zarten Folk-Album gerechnet, ätherisch und versponnen, gesättigt mit mystischer Lyrik, voller Gnome, Trolle und Elfen, irgendwo zwischen Lumi und Johann Johannsson. Keine Ahnung, weshalb ich darauf gekommen bin – schließlich ist die alpine Sagenwelt doch eher für Sennentuntschi, Fuchshexe oder Tatzelwurm bekannt als für Trolle & Co. Aber auch diese lockt Eliana Burki mit ihrem Alphorn nicht hervor, denn was sie auf Travellin’ Root macht, ist jenseits aller folkloristischen Alpenromantik und lässt sich am ehesten als Alpenfunk bezeichnen – Candy Dulfer goes Alphorn, gewissermaßen.

    [..]

    Schon Track vier, Las Tres Princesas, zerstört alle Heimatfilmidylle und entpuppt sich als waschechter Salon-Tango im archetypisch starren Rhythmuskorsett, mit jaulendem Akkordeon und tangofarbener Sängerin. Wunderbar der Mit-Swinger Enno’s Gun Train, wo sich Krimi-Soundtrack und Sprach-Collage mit einer sehr vertraut scheinenden traditionellen Melodie verweben. Dasselbe Phänomen begegnet einem auf Upasana’s Bernina: Melodien, wie aus dem kollektiven Menschheitsgedächtnis – man hat sie garantiert noch nie gehört, und auf wundersame Weise doch schon Tausende Mal. Problemlos könnte der Song dem wunderbaren World-Jazz-Sampler A Little Magic In A Noisy World entstammen und dort gleichberechtigt neben Stücken wie Jonas Knutssons Sysgonöga stehen.“

    Neugierig? Weiterlesen wie immer auf fairaudio.de

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