What a difference a day makes! Fragte ich mich gerade noch in Erinnerung an die Püppchen-Pleite vom Freitagabend noch, weshalb ich mir diesen Job eigentlich antue, weiß ich es heute wieder ganz genau. Dabei sah es gar nicht so aus, als würde sich dieser Tag musikalisch lohnen. Dafür sorgte die YOU, laut eigenen Angaben „Europas größte Jugendmesse“. Hier soll heute das BerlinerStreichOrchester, kurz: B·S·O, spielen, und da ich die Musik der drei Jungs sehr mag, aber noch nie live gesehen habe … Nun, das sollte erklären, wie ich hier hinein geraten bin.
Wer noch ohne Berufswunsch ist, kann es ja mal mit dem Backen kleinerer Brötchen versuchen
Die seit Jahrzehnten üblichen Verdächtigen der Jugendkultur – ein bisschen DJ-ing hier, ein bisschen Graffiti dort -, angereichert mit modernen Späßchen à la Kletterwand sorgten für eine Geräuschkulisse, die mir innerhalb von wenigen Minuten schlechte Laune machte. Und dafür habe ich den armen Kopfhörerhund zur Nachbarin abgeschoben? Nicht zuletzt möchte einem ständig jemand etwas andrehen: Nein, ich brauche kein zusammenfaltbares Frisbee. Und danke, auch keinen Schlüselanhänger, kein Gratis-Poster, ebenso wenig wie sämtliche Flyer dieser Welt. Die Zielgruppe von denen bin ich doch nun wirklich nicht!
Andererseits: Das hier hätte mich auch mit fünfzehn nicht wirklich geflasht. Was auch für die heute Fünfzehnjährigen Gültigkeit zu besitzen scheint, denn allzuviel ist nicht los auf der YOU, zumindest nicht an diesem Sonntagmittag. Dazu noch herrscht draußen herrlicher Indian Summer, der den Tag zu einem macht, der definitiv zu schade ist, um ihn in dunklen Messehallen zu verbingen. Nach einem kurzen Rundgang über das Gelände entschließe ich mich dann auch bis Showbeginn zur Flucht nach draußen. Und da sehe ich ein Schild, welches mir Lärmgeplagtem wie eine Fata Mogana dem Verdurstenden in der Wüste erscheint:
Herrliche Stille! Die Halle nämlich, in der das von Geiger Gunnar Wegner gegründete und als Cover-Band einer Cover-Band gestartete B·S·O am Stand von Outreach spielt, wird beschallt von Nachwuchs rekrutierenden Bundeswehrleuten – oder waren es die von der Polizei? jedenfalls Menschen in Uniform, und das sagt eigentlich schon alles -, vor allem aber einer sogenannten DJ School, die nicht nur schlecht, sondern auch laut ist. Mit drei Streichern gegen drei Rapper anzuspielen – mutig. Andererseits: Es geht um drei gute Streicher gegen drei schlechte Rapper. Das hier verspricht spannend zu werden – oder auch ganz schrecklich.
Die Sorge erweist sich als unbegründet – nicht nur hat der Outreach-Tonmann den Sound perfekt im Griff, sondern B·S·O auch sein Repertoire. Wo ich schon gute und weniger gelungene Aufnahmen von ihm gehört habe, hat heute alles gestimmt. Nicht nur, das Poprockmetall im Kammermusikarrangement funktioniert – und B·S·O hat zum Heulen schöne Arangements! -, sondern vor allem, dass das Trio mittlerweile so blind aufeinander eingespielt ist, dass jenseits des bloßen Funktionierens ein echtes Musizieren entsteht. Besondern beeindruckt mich das Zusammenspiel der beiden Cellisten, des erst siebzehnjährigen (!) Jupp Wegner mit seinem Cousin Johannes Fischer. Gerade Ersterer hat sich vom Achter schrubbenden Begleiter zum mindestens ebenbürtigen Triomitglied gemausert, mit einem für sein Alter erstaunlich satten und selbstsicheren Ton.
Um aber noch einmal auf das Zusammenspiel zurückzukommen: Ich habe so viele Konzerte gesehen in letzter Zeit, aber was an intuitivem Verständnis und vor allem an musiklaischer Kommunikation herrscht zwischen diesen beiden, das kriegen manche gestandene Jazzer nach einem zwanzig-jährigen gemeinsamen Auf-der-Bühne-Stehen nicht hin! Ganz erstaunlich, wie unglaublich gut sie zusammen geworden sind, vor allem im direkten Vergleich zu den Aufnahmen vom Frühsommer dieses Jahres. Zwar wäre es grob unseriös oder zumindest doch kitschig, dieses intuitve Verstehen auf Blut-ist-dicker-als-Wasser-Familienbande zu schieben, aber irgendetwas muss es ja sein, das hier anders ist als bei anderen.
Nun bedeutet eine innige Verbindung aber nicht zwingend auch vorsichtig und leise, denn an das gemeinsame Musizieren muss man sich nicht mehr erst herantasten. Hier wird richtig gearbeitet, und auch die Bögen werden nicht geschont, immer wieder löst sich das ein oder andere Haar während des Spiels – ich frage mich, wie oft sie ihre Bögen zum Neubespannen bringen müssen! Ähnliches an Intensität habe ich zuletzt bei Ian Fisher gesehen, der ein Loch in seine Gitarre gespielt hätte, wäre ihm nicht vorher die Seite gerissen.
Wie gut B·S·O inzwischen geworden ist, konnte man ja schon beim Lady Gaga Medley hören. Und jetzt gibt es auch das ältere Repertoire in dieser Qualität. Das freut. Nicht zuletzt machen die drei genau das, was ich am Freitag so schmerzlich vermisst habe: Sie kommunizieren mit dem Publikum. Dafür brauchen sie keine ellenlangen Ansagen, aber sie schauen, sie registrieren, sie reagieren, kurz: sie sind da. Und echt. Wer das Glück hat, bei B·S·O im Publikum zu sitzen, fühlt sich als Zuhörer ernst genommen. Das hatte ich Freitag bei den Vollprofis nicht.
Die um die Publikumsgunst konkurrierende DJ-Schule ist mitsamt ihren schlechten Rappern nur noch als fernes Rauschen zu hören, wenn die drei hier erst einmal loslegen
Von den Songs, die das Trio heute spielt, mag ich It’s My Life am liebsten, und das sage ich als bekennender Hasser von pathetischen Rockballaden im Allgemeinen und Bon Jovi im Besonderen! Das traumschöne B·S·O-Arrangement wird höchstens noch getoppt von ihrer Lemon Tree-Version, die noch mehr vor sich hin-reggaet als das Original. Das kann man sich alles im Soundcloud Stream des Trios anhören, klar. Viel besser aber ist es, B·S·O live zu erleben – zum Beispiel am 20. Oktober im Kesselhaus in der Kulturbrauerei.
Dass ich Duos aus weiblichem Gesang und männlichem Kontrabass von allen Musikformationen am liebsten mag, dürfte sich mittlerweile schon herumgesprochen haben. Man denke hier nur an Frau Contrabass oder Beady Belle! Und jetzt also auch Dominique Lacasa und Tobias Kabiersch. Vor allem Lacasa. Tochter von DDR-Schmusebarde Frank Schöbel und Sängerin Aurora Lacasa, hat darüber hinaus aber noch weitere Vorschusslorbeeren bei mir gut: Ich bin mit ihr ein oder zwei Jahre lang in die selbe Klasse gegangen, bevor ich mich entschloss, dem Wendenschlosser Gymnasium Good-Bye zu sagen und mein Glück am Georg-Friedrich-Händel-Gymnasium zu suchen. Mit Blick auf Lacasas Werdegang wäre das nicht nötig gewesen – auch Wendenschloss scheint Berufsmusiker hervorgebracht zu haben. Oder ihnen zumindest nicht allzu sehr im Weg gestanden zu haben.
Die Mädchen in der Zehnten jedenfalls haben Dominique Lacasa damals bewundert – und vielleicht auch ein bisschen beneidet. Sie hatte lange Locken und konnte Spagat. Lange Locken zumindest hat sie immer noch, doch anstatt von ihren sportlichen Qualitäten möchten wir uns heute Abend von den musikalischen überzeugen lassen. Ohne Make-up heißt das Programm sympathischerweise, und es verspricht, ein relaxter Abend zu werden. Ganz relaxed geht es dann auch mit einer etwas abseits am Bühnenrand im Schneidersitz sitzenden Lacasa los – allein, die zur Schau gestellte Entspanntheit will sich trotz Barfüßigkeit und Hippierock (Kleidungsstück. Nicht Musikstil.) nicht so recht einstellen und soll schon sehr bald einer aufgedrehten Hyperaktivität à la Duracellhäschen weichen. Heutzutage hat man für solche Fälle doch Ritalin! Lacasa aber hüpft und zappelt und läuft bald hier, bald dahin, quasselt ohne Ende, animiert das Publikum zum Mitmachen, läuft auch mal in die Zuschauermenge hinein – hat dabei aber stets den leicht über der Menge vorbeischauenden Blick des Profis. Ihre Interaktion ist einstudiert, ebenso die Ansagen, die spontan wirken sollen, es aber nicht tun. Hier ist alles auswendig gelernt, alles hundertprozentig durchchoreographiert, und damit genau das Gegenteil von locker – und vor allem das Gegenteil von Ohne Make-up. Dieses Programm ist komplett überschminkt. Schon ab dem ersten Lied nervt vor allem das Gequassel Lacasas, denn schließlich sind wir hier nicht zur Speaker’s Corner gekommen, sondern ins Konzert.
Vielleicht schlägt hier die Musical-Vergangenheit Lacasas durch, denn hier sitzt jede scheinbar beiläufige Geste: In welchem Winkel halte ich das Mikro und was mache ich in der Zwischenzeit mit dem Kabel? Mit viel gutem Willen könnte man das als routiniert bezeichnen. Recht eigentlich aber ist das Auftreten Lacasas einstudiert und aufgesetzt, was sich mit Jazz ungefähr genauso gut verträgt wie Vanessa Mae mit der klassischen Geige: Die kann das, sicher, aber niemand nimmt sie als Musikerin ernst. Denn wirklich musiziert wird an diesem Abend nicht.
Das ist umso bedauerlicher, als dass Bassist Tobias Kabiersch einer der besten ist, die ich in letzter Zeit gesehen bzw. gehört habe. Den fetten Fünfsaiter, den er da spielt, zweckentfremdet er mal ganz en passant als E-Gitarre; er kann aber auch Schlagzeug auf seinem Bass spielen. Nicht zuletzt gehört Kabiersch am Kontrabass zu jener seltenen Spezies unter den Jazz-Bassisten, die auch mit dem Bogen umgehen können. Konzentriert man sich ganz auf Kabiersch, kann man Lacasa dann auch sehr gut ausblenden, und je lauter sie wird, desto mehr verschwindet sie in der Wahrnehmung.
Das ist auch gut so, denn auch die Texte von Dominique Lacasa machen die Sache nicht besser. Im Gegenteil. Sie mäandern irgendwo zwischen belanglos und pseudoemotional, sind ein permanentes Erbrechen von Introspektion; und Titel wie Alles, was ich in dir sehe erinnern am ehesten noch an die Lyrik einer Yvonne Catterfield. Und dann gibt es auch noch diese „engagierten“ Texte auf dem Niveau einer vom Weltverbesserungsgedanken ergriffenen 15-jährigen Waldorfschülerin. Die erwarte ich genau in diesem Rahmen – bei einem Schülerkonzert. Phrasen à la „es geht um jeden einzelnen Schritt“ bzw. „es beginnt bei mir/hinter meiner eigenen Tür“ aber haben auf einer erwachsenen Jazz-Pop-Bühne hingegen nichts verloren, auch wenn sie im Prinzip genau das selbe ausdrücken, was schon Michael Jackson mit Man In The Mirror meinte. Und es liegt nicht an der Sprache, dass es bei dem einen abgedroschen daher kommt, beim anderen aber nicht – den Lacasa wird uns auch noch ein englisches Lied zur Rettung des Waldes singen, und nein, Michael Jackson ist das immer noch nicht. Vielmehr weckt das begleitende Regenrohr Aggressionen. Ohnehin mochte ich es noch nie, wenn jemand mit seinem Engagement hausieren geht. Und Erzieherisches in Jazzkonzerten das ist, vorsichtig ausgedrückt, schwierig. Nicht zuletzt erinnert mich die ganze Attitüde ungut an FDJ-Singekreise, wo solch vorgeblich „kritischen“ Texte gefördert wurden.
Gegen die Musik an sich ist überhaupt nichts zu sagen, und auch nicht gegen den Gesang. Dominique Lacasa kann singen. Und sie kann auch Klavier spielen. Sie ist hoch professionell ausgebildet. Auch ihre Show ist perfekt – und genau daran krankt sie, denn perfekt bedeutet hier nichts anderes als seelenlos. Lacasa ist die perfekte Jazz-Barbie: Singt schön und sieht schön aus. Doch was nutzt die perfekte Barbie, wenn sie nicht Herz und Seele berührt? Überhaupt: Was nützt Musik dann?
Jenseits der Betroffenheitslyrik können Lacasa und Kabiersch allerdings so etwas wie einen gemeinsamen Zauber entfalten. Ein ganz schönes Stück ist beispielsweise der dritte Song des ersten Sets, Du – ein nahezu klassisches Soulstück, bei dem das Publikum einen du-du-du-Chor gibt, und das ebenso gut von Joss Stone oder Alicia Keys hätte stammen können. Und natürlich funktioniert die Animation des Publikums: Es hagelt frenetischen Beifall. Wie immer feiert das Publikum am liebsten sich selbst.
Das zweite Set lässt dann ahnen, wie es sein könnte, wenn man die ganze Aufgesetztheit abzieht. Zwar haben die Lieder immer noch nahpubertäre Texte. Aber zum ersten Mal entsteht so etwas wie echte musikalische Interaktion zwischen den beiden Musikern, und es tut den Songs gut, wenn Dominique Lacasa einfach auf der Klavierbank sitzt und singend ihre Geschichten erzählt.
Ich bin ich versteht es, zu überzeugen. Und scheinbar haben sich die beiden jetzt warm gespielt, denn auch das bossaesque Stück vom Tag am Meer ist überaus gelungen. Das gilt auch für das Lied vom ungekannten Meer, Auf hoher See. Hier kreieren Lacasa und Kabiersch eine ähnliche Atmosphäre, wie ich sie zuletzt bei Mara & David gehört habe; und obwohl Dominique Lacasa hier beweist, dass sie neben dem ansonsten hier präsentierten Gehauche und Ausgeatme auch eine unglaubliche Stimmresonanz erzeugen kann – Künstlerinnen wie Mara von Ferne können das im selben Genre allemal besser. Waren mir Mara & David immer viel zu akademisch, muss ich ihnen jetzt zugestehen: Lieber akademisch als aufgesetzt. Denn wirklich berührt haben mich auch die Songs des zweiten Sets nicht. Ich erfahre heute Abend nichts über Dominique Lacasa, sie versteckt sich hinter ihrer Bühnenpersönlichkeit, und keine halbe Sekunde lässt sie sich hinter die Maske blicken.
Der Rausschmeißer des Abends, Tschüss, Puppe, ist dann wieder so ein Mitschnipper, der hundertprozentig funktioniert – aber immerhin auch der erste Song des Abends, bei dem ich etwas fühle. Zunichte gemacht wird dieser Effekt allerdings schnell von dem kleinen blonden Mädchen mit Blumenstrauß, das jetzt in bester Samstagabendsunterhaltungsshowmanier auf die Bühne kommt. Mein böszüngiger Begleiter kommentierte: „Dieter Thomas Heck, wenn er schon tot wäre, würde im Grabe rotieren!“ Kitschiger konnte es nicht mehr kommen, dachte man da. Bis Lacasa mit der wieder einmal sehr engagierten Zugabe Save It („where is the forrest gone?“) noch einen drauf setzt und klar zeigt, weshalb das hier eben nicht Michael Jackson ist, sondern eher Maffay und Mandoki. Und Wendungen wie „Mother Earth“ will ich wirklich nie mehr in der Popmusik hören!
Die zweite Zugabe dann allerdings überrascht. Es ist ein Wiegenlied mit spanischem Text, und nicht nur passt das Spanische optimal zu Lacasas Stimme – auch nehme ich ihr die Mutterrolle von allen Rollen des Abends als einzige ab. Nicht die des sich von sozialen Konventionen emanzipierenden Individuums. Nicht die der Umweltaktivistin. Aber die der Mutter. Ich weiß nicht, ob Lacasa tatsächlich Mutter ist, und es tut hier auch nichts zur Sache. Hier jedenfalls ist sie ganz bei sich. Ansonsten bleibt zu dem Abend nur zu sagen: Furchtbar geiler Bassist.
Den Auftakt der ganz im Zeichen von zarter Poesie und Verträumtheit stehenden Ausgabe von Victoriah’s Music bildet die Kölnerin Michaela Dippel aka Ada. Deren Zweitling Meine zarten Pfoten ist bereits im Juni dieses Jahres erschienen, damals aber komplett an mir – und demzufolge auch an den meisten Lesern von Victoriah’s Music – vorbeigegangen. Leider, muss ich hinzufügen, denn als ich die Platte mit dem rätselhaften Titel kürzlich zum ersten Mal gehört habe, war mir sofort klar, dass es sich hier um eine dieser stillen Schönheiten handelt, die selten sind – und glücklicherweise auch zeitlos. Meine zarten Pfoten passt zum September jedenfalls ebenso gut wie zum Juni, minimalistisch, zart und versponnen, wie sie ist. Ob nun eine Jahreszeit freudig erwartend begrüßt oder wehmütig leise verabschiedet wird – Meine zarten Pfoten ist wie geschaffen für Übergänge, und es wäre schade, die Platte nicht noch einmal in dem ihr angemessenen Rahmen zu würdigen.
Gleich der Opener Faith ist ein Song, der zumindest für mich wie geschaffen ist. Würde ich Musik machen, ich wünschte, sie wäre wie Faith: Da gibt es dezentes Elektrogeschnassel und fedrig-leichte Synthieflächen, die sich mit einer zarten Akustikgitarre paaren, es gibt gehauchten Satzgesang, zu dem sich bald verführerisch schleppende Percussions gesellen. Ganz am Schluss hat auch noch ein betörend vor sich hinblubbernder Bass seinen großen Auftritt. Sexy und schlau, eine unwiderstehliche Kombination. Allein für Adas Version von Faith, einem Cover der Indieband Lucious Jackson, muss man diese Platte lieben, denn sie macht wunschlos glücklich. Und wenn man nur diesen einen Track auf Repeat laufen lässt – er allein lohnt den Kauf. Ich jedenfalls bin hin und weg.
[…]“
Diese Kritik weiterlesen und sieben weitere Platten entdecken? Das geht wie immer auf fairaudio.de
Neben Adas Zarten Pfoten wurden besprochen:
Illute, Immer kommt anders als du denkst
Maria Taylor, Overlook
Seide, Passion, Pain & Poetry
The Waterboys, An Appointment With Mr Yeats
Beirut, The Rip Tide
Megafaun, Megafaun
Krispin, Gegen die Uhr
Kommentare deaktiviert für Musik für den dahinscheidenden Sommer, der ohnehin nie Sommer war: die neue Ausgabe von Victoriah’s Music ist online
„Ich bin mal wieder verliebt. Verliebt in einen Song. Drive Darling heißt er, und er begleitet mich schon seit einigen Wochen. Am Anfang, als sich unsere Beziehung noch in jenem filigranen Stadium befand, wo alles neu und aufregend, kurz: wo alles noch möglich erscheint, wusste ich noch nicht, ob es etwas Festes wird, aber mittlerweile bin ich mir sicher, dass er mein aktuelles Lebensabschnittslied Nummer eins werden könnte. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass wir noch keine Zeit für unseren ersten handfesten Streit hatten.
Natürlich kann es aber auch daran liegen, dass man sich in Boy selbst verlieben muss: In die feenhafte und dennoch lebenskluge Stimme von Valeska Steiner und die traumschönen musikalischen Gründe, die Sonja Glass ihr bereitet. Nicht zuletzt macht es Spaß, die ätherische Steiner und die bodenständigere Glass anzusehen. Dabei kann das Duo aus Zürich und Hamburg mehr als großäugig in die Kamera gucken: Schönen Singersongwritergitarrenpop machen, zum Beispiel.
Als ich die Soul-Tangos von Sissy Kudlicska aka MisSis zur PLatte des Monats der April-Ausgabe von Victoriah’s Music auf fairaudio gemacht habe, hat mir das einigen Ärger eingebracht. Zu jenem Zeitpunkt waren Sissita’S Soul Tangos hierzulande nämlich ausschließlich entweder als teurer Import oder als digitaler Download zu haben. Und nicht jeder Leser teilt meine Einstellung, dass ein seltener Import die Blaue Mauritius einer jeden Plattensammlung ist; und trotz einer durchaus annehmbaren Datenrate von 320 kbit/s lehnen manche digitale Musikdateien immer noch kategorisch ab, auch wenn ich mich bemühe, hier Erziehungsarbeit zu leisten, da die Zukunft ohnehin der Musikdatei und weniger dem physischen Tonträger gehören wird.
All das war natürlich noch lange kein Grund, Sissita’S Soul Tangos zur Platte des Monats zu machen. Vor allem nämlich war ich von der Platte restlos begeistert. Tango und Soul geht nicht? Und wie das geht, und zwar so gut, dass einerseits eine ernstzunehmende Tango-Platte dabei herausgekommen ist, wofür schon allein Tango-Produzent Ariel Gato garantiert; andererseits hat MisSiss eine Stimme, von der Retorten-Soul-Diven nur träumen können – und Tango-Sängerinnen sowieso.
Lange Rede, kurzer Sinn: Der teure Import hat vorgestern eine europäische Schwester bekommen; seit dem 9. September sind Sissita’s Soul Tangos überall in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf herkömmlichem Wege zu beschaffen. Noch dazu schenkt uns der European Release drei neue Songs. Während die südamerikanischen Soultangos mit ihren sieben Songs noch eher als EP daherkamen, können wir uns gleich zehnmal an Sissita erfreuen. Auch an der Reihenfolge der Lieder wurde gestrickt; und es ist immer wieder schön zu sehen, wenn eine gewisse Albumdramaturgie gelingt. Mit der zackigen Geige auf A new life steigt MisSiss viel tangoesker in das Album ein als in den südamerikanischen Release. Gleich bleibt die Stimme von Ms. Kudlicska, die – auch wenn sie von tiefster Verzweiflung singt – ihre Hörer seltsam zu trösten vermag. Bestes Beispiel: der Tochter-zu-Vater-Song As I Care For You. Schönste Stelle: Tell me, are you proud of me? Es ist schwer zu beschreiben. Es ist, als wohne dieser Stimme ein sich irdischen Normen entziehendes sakrales Element inne. Wenn Sissy singt, ist das wie ein Gebet. Das habe ich zwar von dem einen oder anderen Künstler auch schon geschrieben, doch lag es dort immer an dem Lied, das eher Psalm als Popsong war. Bei Sissy ist es die Stimme, die selbst beim abgebrühtesten Kritiker dafür sorgt, dass sich alle Härchen seines Unterarms aufstellen.
Auch wenn die sieben älteren Lieder bereits besprochen wurden, möchte ich eines von ihnen noch einmal besonders hervorheben: Colder. Colder ist eine große Ballade, die sich hinter solche tränenschwangeren Stücken wie Unbreak My Heart von Toni Braxton oder My All von Mariah Carey nicht verstecken muss – nur ohne deren Pathos, dafür mit Bandoneon. Der Anfang von Dancer geht in eine ähnliche Richtung, doch entwickelt sich der Song bald zum wahnwitzigen Uptempo-Tango. Großartig ist das!
Einzig Nightmares und Far More können MisSiss’ Gospelvergangenheit allzu sehr nicht verleugnen – Geschmackssache. Die neuen Songs indessen – A new life,Sissita’s waltz und Wait! – sind bedeutend fröhlicher als die alten, ja, kippen im Refrain sogar in eine lebensbejahende Dur-Tonart und bestechen durch Tempo. Scheinbar ging es MisSiss aufgrund des südamerikanischen Erfolges gut, als sie sie geschrieben hat. Denn geschrieben hat sie sie alle. Sissy Kudlicska ist keine von den Sängerinnen, die sich von einem Produzententeam ihre Songs auf den schönen Leib schreiben lässt – das macht sie lieber selbst. Eigentlich müsste man vor so viel Talent Angst bekommen.
Dabei muss man vor der Soultango-Sängerin keine Angst haben, denn sie ist obendrein auch noch sehr nett. Wenn alles klappt, ist sie demnächst hier im Klangverführer-Interview zu lesen. Die Zeit bis dahin lässt sich mit ihrem Album gut überbrücken.
Den dritten Tag nimmt dann keiner mehr so richtig ernst. Zwar findet noch das eine oder andere Panel statt, doch sehen sich die bemitleidenswerten Sprecher hier immer häufiger einem lediglich aus zwei oder drei Leuten bestehenden Publikum ausgesetzt, von dem dann auch nur die Hälfte aus Fachbesuchern besteht, die andere aus Journalisten. Die versucht man dann auch förmlich mit Freibier zu nötigen, noch ein Interview mit einem der Organisatoren machen zu wollen – allein: Es will keiner. Bier gibt es auch an den wenigen Ständen, die noch nicht abgebaut haben; und ganz im Allgemeinen herrscht eine Stimmung wie am letzten Tag vor den großen Ferien: Die Zeugnisse sind durch, keiner kann uns mehr was, Paaaarty!
Crossmedia-Working: Netbook vs. Notizbuch vs. iMac
Auch der allgemeine Schlonz greift immer mehr um sich. Bei mir heißt das, am ersten Tag habe ich mir noch sorgfältig die Augen geschminkt, am zweiten nur noch schnell etwas Wimperntusche aufgetragen, und der dritte Tag steht unter dem Motto „Make-up? Och nö.“ Wenn man sich so umguckt, geht es vielen Kollegen ähnlich, denn 3 Tage und Nächte Rock’n’Roll-Lifestyle zehren nicht nur an der Kondition, sondern auch an der Style-Lust.
Immerhin beginnt auch dieser Tag so, wie der gestrige geendet hat: mit viel Live-Musik. Die Indiepopper Sebastian Block & Band geben sich in der GEMA-Box die Ehre.
Schön: Sie haben mit Catharina Behr eine Schlagzeugerin. Das wiederum erinnert mich daran, dass mein She’s Got Rhythm – Frauen in der Rhythmusgruppe-Essay darauf wartet, fertig geschrieben zu werden. Allerdings nicht mehr heute, denn man beginnt, der Presse die Macs gewissermaßen unter den Fingern weg abzubauen. Zwar liefe die Messe offiziell noch bis 16.00 Uhr, aber die Versicherung für die Geräte ende um 14.00 Uhr, so der zuständige Mitarbeiter.
Popkomm fertig – Klangverführer auch.
Ein Kollege vom Musikmarkt und ich verteidigen noch die beiden letzten Computer mit Zähnen und Klauen, dann lassen auch wir uns vertreiben und machen das, was um diese Zeit alle machen: Unsinn. Wir trinken das Tuborg der Nordic Bar, probieren, ob uns die T-Shirts von sonarflow.com stehen und ob man auf dem Tallinner Kopfhörerelch auch reiten kann, um schließlich in übergroßen Sitzsäcken zu versacken. Das ist sehr angenehm, das Leben ist schön und alles wird gut. Draußen tobt das Berlin Festival. Nur ob es die Popkomm nächstes Jahr auch noch geben wird – das darf bezweifelt werden.
Kommentare deaktiviert für Alles ist gut. Die Popkomm 2011, Tag 3
Die Stimmung ist verkatert. Das liegt nicht an der Nordic Bar, sondern an der allgemeinen Trostlosigkeit. Am lustigsten ist es noch im Press Room, der eine schulische PC-Kabinett-Atmosphäre verströmt. Und so benehmen sich die Kollegen auch wie bei einer Schulstunde, wo „freies Arbeiten“ ohne Aufsicht auf dem Plan steht. Man zeigt sich gegenseitig seine Messefotos, tauscht Frustrationen und Lästereien aus. Neben dem eigentlich keinerlei weiteren Worte bedürfenden Niedergang der Branche, der hier nur allzu greifbar ist, natürlich auch über die Popkomm-Presseausweise, die jedes Jahr größer zu werden scheinen. Irgendwie kommt man sich damit vor wie ein Erstklässler, der sein Schülerticket weithin sichtbar um den Hals trägt. Im nächsten Jahr laufen wir wahrscheinlich alle mit Badges im A4-Format herum.
Auch bei den Ausstellern macht sich ein zunehmender Leerstand breit; die einzig relevante Frage ist eigentlich nur noch die, welchen Showcase man am Abend besucht. Auf das Lamentieren in den Panels hat ohnehin so niemand recht Lust. Allzu offensichtlich umkreisen sie thematisch die Ratlosigkeit der Musikindustrie angesichts eines sich verselbstständigten Hörer- bzw. Musikkonsumentenverhaltens.“Huch“, scheint sich die Branche zu erschrecken, „da passieren ja Dinge ohne uns. Ohgottogottogott, und was jetzt?!?“
Ich nutze den Tag zur Arbeit im Press Room – ich liebe diesen OS X Mac (Version 10.6.4) mit seinem 3.06 GHz Intel Core Duo Prozessor und seinem 4 GB 1067 MHz RAm Speicher. Meine Eltern haben genau den gleichen, und manchmal verlege ich komplette Arbeitstage kurzentschlossen zu ihnen, einfach, weil das Äpfelchen so schön und so schnell ist … Ist schon ein schönes Spielzeug; wobei mir siedend heiß wieder einfällt, dass ich ja genau in dem Moment vom Mac auf PC umgestiegen bin, als auch Nicht-Grafiker mit einem Mal begannen, den Mac als bessere Schreibmaschine zu verwenden und sich wahnsinnig cool dabei vorkamen, den leuchtenden Apfel auf der Rückseite ihres Computers herumzuzeigen. Aber heimlich schön finde ich ihn doch.
Nach einem Tag voller Geschreibe und Bilderhochgelade habe ich kurz vor Toresschluss noch eine sehr angenehme Begegnung mit Hörakustiker Claus Zapletal. Der präsentiert mit den Fabs nämlich individuell angepasste In-Ear-Headphones, die nicht nur durch ihr 2-Wege-System bestechen, sondern vor allem durch die komplette Abschirmung aller Außengeräusche – das heißt, selbst unter Lärmschutzbedingungen ist es möglich, leiser – und besser – mit ihnen Musik zu hören. Ich stelle mich für einen Test zur Verfügung. Die maßangefertigte Abschirmung wird auf der Messe mit Silikon demonstriert – allein, ich habe zu kleine Ohren dafür, sodass die Stöpsel nicht so tief im Ohr sitzen, wie sie sollten. Dennoch ist das Ohr nach kurzer Zeit vollkommen abgeschlossen, die Umgebung nach weniger als einer Minute komplett ausgeblendet, die Menschen inklusive Dipl.-Ing. Zapletal führen auf einmal sehr schöne Pantomimen um mich herum auf. Das Schönste aber, was mir nach diesem lauten Messetag passieren konnte, ist die entspannende Testmusik. Ich höre Cannonball Adderly mit Autumn Leaves und Miles Davis. Das besänftigt sehr. Und dann kommt James Blake. Wow, bei 24 Bit und 192 kHZ habe ich Limit To Your Love wirklich noch nie gehört! Die Qualität der Fabs zu beurteilen, ist wohl eher Sache der fairaudio-Jungs, sie wird aber verglichen mit dem AKG 1000-er On Ear – und den kenne ich, den habe ich zu Hause herumzuhängen.
Die Fabs wurden ursprünglich für vielreisende Geschäftsleute konzipiert, die auch unterwegs nicht auf den von Zuhause gewohnten HighEnd-HiFi-Klang verzichten wollten. HiFi to go, sozusagen. Mittlerweile hat sich aber herausgestellt, dass immer mehr Musiker sie auf der Bühne einsetzen, da die Fabs einerseits auf Lärmschutzniveau abschotten und andererseits dennoch einen qualitativ hochwertigen Monitor bieten, der eine leisere Einstellung erlaubt als herkömmliche Monitore. Leider eignen sie sich nicht für meine Zwecke, denn ich höre portable Musik auf dem Fahhrad – und mit den Fabs sollten nicht einmal Fußgänger am Straßenverkehr teilnehmen.
Ganz besonders angetan hat es mir auch das Gerätelchen in Zigarrenkistenoptik, auf dem die Musik spielt: der Colorfly, der ebenfalls unter die Überschrift „HiFi to go“ fallen könnte. Ein portabler HiFi-Player mit 192KHz/24Bit – was aber auch heißt, dass die audiophilen .flac-Dateien mittels foobar 2000 erst einmal wieder in .wavs gewandelt werden müssen, denn bei .flacs macht der Colorfly die Grätsche.
Bis auf diese etwas umständliche Bestückung mit Musik ist er aber ein Spielzeug, in das ich mich an Ort und Stelle verliebt habe. Falls Sie noch nichts zu Weihnachten für mich haben …
Relaxed mache ich mich auf den Weg zum letzten Programmpunkt des Tages, dem Tel Aviver Showcase im Grünen Salon. Wenn man den ganzen Tag auf der Messe verbracht hat, fällt einem erst draußen auf, was für ein eigener Mikrokosmos so eine Messe eigentlich ist, abgeschottet wie ein Raumschiff, wo einem das Gefühl für Zeit und Wetter komplett verloren geht. Leider hat sich der Beginn der gesamten Show verzögert, sodass ich dann doch noch in den Genuss des Auftrittes von Mary Ochers experimental theatrical Punk komme, den ich – klug geworden durch ähnliche Veranstaltungen – eigentlich bewusst verpassen wollte. Naja, habe ich meine Punk Royal-Jacke wenigstens nicht umsonst angezogen. Ansonsten wird es dank Marys Auftritt Zeit für den ersten Drink der Popkomm, wovon ich bislang aufgrund von Erkältungsnachwehen wohlweislich Abstand genommen habe.
Dann, endlich, kommen The Raw Men Empire, eine „Weird Folk“-Formation, die als „charming lo-fi“ und „Pop Dylan“-artig angekündigt sind. Meine Erwartungen jedenfalls sind hoch; und allein ihnen beim Aufbau – ein T-Shirt-gedämpftes Schlagzeug! eine Ukulele! und allerlei anderes Spaßgeschnassel! – zuzusehen, lässt sie noch weiter steigen. Dies scheint auch für das so unberechenbare Berliner Publikum zu gelten, denn Flashmob-artig ist es voll im Grünen Salon. Und dann spielen sie. Nein, The Raw Men Empire sind nicht King Oliver’s Revolver. Aber dafür, was sie machen, sind sie sehr sehr lustig – und haben einen wirklich unglaublichen Schlagzeuger, den man glatt entführen müsste.
Lassen Sie sich nicht einlullen. Warten Sie Minute 3:38 ab …
Spätestens mit Song Nummer vier – Israeli Women are the best-looking Women in the World – haben Tsvika Frosh (lyrics, music, vocals, guitar, flute), Yonatan Miller (guitar, vocals, smile), Nadav Lazar (bass, glockenspiel, percussion, guitar, melodica, programming, vocals) und Itai Kaufman (beatbox, percussion, bass, melodica, vocals) die Berliner endgültig überzeugt.
Ich habe rasende Kopfschmerzen. Die Nacht war nicht gut, und jetzt ist die Stimmung entsprechend. Die Eröffnungsveranstaltung Popkomm 2011 jedenfalls schwänze ich, was insofern schade ist, als dort Schwedens Außenhandelsministerin Ewa Björling sprechen wird und ich im Moment Dank King Oliver’s Revolver riesiger Fan des schwedischen Musikexportes bin.
Als ich auf dem Messegelände ankomme und erwartungsvoll den Schwedischen Stand aufsuche, ist die Enttäuschung jedoch groß. Bezeichnenderweise findet sich auf dem Ländersampler Sweden @ Popkomm 2011 nicht das kleinste Fitzelchen Weird Folk Funk Surf Whatever Crazy Stuff, sondern ziemlich unausgegorenes Zeug und damit eher das, was die Franzosen als Le Rock bezeichnen. Disco gibt es noch und Electro-Clash – das klingt alles eher nach Eurovision Song Contest und hat einfach mal so überhaupt keinen Groove. Einzig cool bei den Schweden dieses Jahr: Die Pop-Rock-Punk-Mädels von Tantrum To Blind. Ziemlich geil finde ich auch Corroded, aber dafür muss man schon eine ausgeprägte Schwermetallader haben oder zumindest irgendwann im Leben mal Metalhead gewesen sein.
Dann gibt es noch ein Cover von The one and only – das Original von Chesney Hawks war ja schon schlimm, aber die Version von Andres Fernette toppt das locker. Einmal mehr frage ich mich, wer diese Sampler zusammenstellt, die für ein Land angeblich repräsentativ sein sollen. Um Klassen besser ist da schon Out of Norway mit Künstlern wie Kaizers Orchestra, Blind Archery Club oder Elly Marvellous. Phantastisch: Anette Askvik mit Liberty. Wer Kate Bush mag, wird das hier lieben:
Mindestens genau so hörenswert: Hasse Farmen mit Lang het sommer, Live Foyn Fris mit Make Me Smile und Jenny Moe mit Mon Capitaine. Oder Phone Joan mit Na na na na na mit seinen Gitarrensoli, wie sie seit den Achtzigerjahren verboten, aber nichtsdestoweniger großartig sind. Vermutlich kann man zurzeit einfach kein Norweger sein und schlechte Musik machen. Aber auch hier fehlen mir aktuelle Lieblinge wie Major Parkinson, Thomas Dybdahl oder Katzenjammer, von All-Time-Favorites wie Bugge Wesseltoft ganz zu schweigen.
Finland bringt wie immer ein massives 4-CD-Päckchen unter die Leute, unterteilt in die Genres Indie/Electronic, Pop/Rock, Hard Rock/Metal und World/Jazz. Auf Letzterer gibt es nicht nur mit dem Tango-Orkesteri Unto, sondern auch mit Johanna Juhola Reaktori und Pipoka schönen finnischen Tango zu hören – genau das Richtige für einen latent depressiven Morning After nach dem ersten Messetag. Finnischer Klezmer (Sväng mit Schladtzshe) ist auch nicht unbedingt als Ausbund der Fröhlichkeit zu bezeichnen, aber nichtsdestotrotz großartige Musik. Ganz kurz ärgere ich mich noch über diese idiotische Zuordnung zum meiner Ansicht nach non-existenten Genre „World“ – Denn mal ehrlich, was haben Tango und Klezmer gemein, dass man sie in eine Schublade steckt? Und weshalb muss man das Ganze dann noch mit Jazz zwangsvergesellschaften? –, aber das ist ein anderes Problem. Vorerst müssen wir mit dieser Subsummierung leben, ob und das nun gefällt oder nicht. (Weshalb es uns nicht gefällt, kann der interessierte Leser in dieser schönen Streitschrift nachlesen.)
Auch Maria Kalaniemi mit ihrem Akkordeon und Elfengesang versteht es, einem aufs Gemüt zu schlagen. Die können einen schon runterziehen, diese Finnen! Naja, mit irgendetwas muss sich die höchste Selbstmordrate weltweit ja erklären. Dann allerdings geigt man sich mit Frigg plötzlich in sonnigere Gefilde, und unwillkürlich fragt man sich, ob es in Finland auch Hardanger-Fiedeln gibt. Endgültig happy werden die Finnen mit der Bad Ass Brass Band, und die ist – nomen es omen – definitiv eine Entdeckung! Finnischer Balkan-Brass? Geht! Irland hat mit seinem Kopfhörercover zumindest den Preis für die schönste CD verdient.
Neben teils seltsamer Musikauswahl haben sich die Nordlichter dankenswerterweise auf ihre große Stärke besonnen und vorsorglich die gemeinschaftlich betriebene Nordic Bar aufgebaut.
Wie gut, dass ich noch von letztem Jahr weiß, wo die dem Messegelände nächstgelegene Apotheke ist. Das kleine Apothekchen „am Flughafen“ sieht sich einmal im Jahr mit einem unerwarteten Besucheransturm konfrontiert, meine Kollegen stehen nach Kopfschmerztabletten Schlange. Und dabei ist heute gerade mal der erste Tag! Genügend Entspannungsmöglichkeiten gibt es jedenfalls, ob mit der mobilen Masseurinnen oder mit einladenden Sitz- oder vielmehr Lümmelgelegenheiten.
Ohnehin hat man gelernt. Alles ist kompakter und funktionaler, vor allem aber noch kleiner geworden als im Vorjahr. Gleichgeblieben ist die wegweisende Verwirrung. Auf die Frage, wo ich denn eine warme Mahlzeit herbekomme, schickt man mich von unten nach oben und von dort wieder runter. In der Tat kann man das warme Essen in der Main Hall beinahe übersehen. Es stehen exakt zwei warme Gerichte zur Auswahl, eine Paella-Pfanne und eine Steak-Pfanne. Die Lasange und damit das einzige vegetarische Gericht ist aus – ein krasser Gegensatz zum vorigen Jahr, wo man mit Jamaican Food und Organic Food und was-auch-immer-Food aufwartete. Wer konkurrenzlos ist, kann es dafür aber auch von den Lebendigen nehmen. Für solch ein Winzpfännchen werden dann eben mal sechs Euro fällig.
Da das hier natürlich nicht sättigt, steht man danach automatisch für ein weiteres Sandwich Schlange. Und draußen, wo letztes Jahr eine komplette Bio-Fressmeile aufgebaut war, herrscht tote Hose, ebenso auf den Emporen, wo es statt weiterer Labels schlichte Rückzugsmöglichkeiten für Sprecher, Hostessen und die Presse gibt. Und auch der eine oder andere Meetingraum findet sich hier.
Wo früher die Administration von Laurèl Airlines saß, kann heute die Presse ihre Texte an die Redaktion schicken, drucken, faxen – oder einfach auf Facebook surfen, was die meist aufgerufene Website der Messe sein dürfte. Auf welchen Bildschirm man auch einen Blick erhascht, überall sieht man Kollegen, die ihr FB-Profil auf den neuesten Stand bringen.
Die Atmosphäre mag man nur mit viel gutem Willen als „voller Flughafencharme“ bezeichnen. Die passendere – und vor allem ehrlichere – Bezeichnung indessen wäre „trostlos“. Zumindest funktioniert alles, denn die diejährige Popkomm erweist sich als gnadenlos effizient. Zeit und Muße für einen spontanen, unverbindlichen Schnack bleibt da kaum. Wer im Vorfeld keinen Termin gemacht hat, hat schlicht und ergreifend Pech gehabt. Dafür allerdings hätte es auch gereicht, die große Halle zu buchen und Freibier auszuschenken – das bisschen Drumherum interessiert hier sowieso keinen.
Auch der Stand der H’Art-Vertriebes, der im Vorjahr noch eine stattliche Fläche einnahm, ist erheblich geschrumpft. Bier getrunken wird dort indessen noch immer, die H’Art-CDs allerdings gehütet wie der eigene Augapfel. Wo mir voriges Jahr noch mehr CDs aufgenötigt wurden, als ich tragen konnte – darunter die wunderbare Mystefé me, My Heart Belongs to Cecilia Winter und Chill’n’Michael, die ich alle gern rezensiert habe, höre ich dieses Jahr gleich von drei Mitarbeitern: „Unsere CDs sind aber keine Promo-Exemplare.“ Ist ja schon gut, ich wollte auch nur mal gucken. Viel Neues sehe ich ohnehin nicht. Eine Acid-Jazz-Compilation weckt meine Aufmerksamkeit, aber nicht einmal das aus-dem-Regal-Holen der CD und Lesen der Rückseite ist gern gesehen.
Ein weiteres Cover spricht mich an, denn es verspricht schummerige Stunden irgendwo zwischen Luxushotellaken und Jazzspelunke: Gaslight von fDeluxe. Was das denn für Musik sein, möchte ich wissen. Genau diese eine CD habe er nicht gehört, bedauert der zuständige H’Art-Mitarbeiter. Dem Label zufolge aber etwas Smooth-Jazziges. Ob ich mal hineinhören könne? Leider gäbe es keine Hörstationen. Wo ich die CD denn hören könne? Ich solle doch auf Amazon.de gehen. Wahrscheinlich sprach mein Blick Bände, jedenfalls habe ich das kostbare und nicht zu vergebene Stück schlussendlich doch ausgehändigt bekommen, um es zu Hause in Ruhe zu hören. Das erleichtert die Arbeit des Klangverführers, der es sich auf die Fahnen geschrieben hat, seine Leser kontinuierlich mit guter Musik zu versorgen, dann doch ungemein.
Allerdings stellt diese unerwartete Freigiebigkeit vor ein neues Dilemma, denn die CD ist nett anzuhören, ich möchte sie den Klangblog-Lesern gern ans Herz legen. Immerhin trifft sich auf Gaslight Rock mit Funk mit Jazz mit Club – smooth ist daran zwar so gar nichts, dafür ist das Ganze sehr tanzbar. Wie eine Transformation von Acid Jazz in die 2010er-Jahre. Ein bisschen Brand New Heavies, ein bisschen Cultured Pearls, nur weniger Lounge und dafür mehr Bebop. Nikka Costa mit mehr Bläsern. Und Prince schaut auch mehr als einmal um die Ecke. Sehr cool: Track fünf, @8. Das Dilemma an der Sache? Das Album ist nicht überall erhältlich; wer es haben möchte, solle sich doch ebenfalls vertrauensvoll an Amazon wenden – dort sei „die Chance noch am höchsten“, lässt der H’Art-Mitarbeiter wissen. Auch ein seltsames Geschäftsmodell für einen Vertrieb: Mit Musik auf eine Messe zu gehen, die nicht überall zu haben ist.
Dann lieber doch wieder zu den Länderbüros. Bei den Ösis – Claim: Austria sounds great! – gibt es Salami mit Chilligeschmack, die Argentinier haben mit dem Bajafondo-Tangoclub feinsten Electro-Tango im Gepäck – leider habe ich den schon 2003 in Buenos Aires entdeckt, und ich mag kaum glauben, dass sich seitdem nichts Spektakuläres in Sachen bonarenser Clubszene getan hat. Die vertretungsweise gebriefte Hostess weiß auch nicht wirklich viel darüber, der Standinhaber ist nicht aufzutreiben. Sie preist noch die Showcases von Tremor („a fusion between Argentine folkloric music and digital production“) und Mati Zundel („different styles of Latin American folklore from Argentine chacareras and vidalas all the way to Peruvian huaynos and Mexican sonideros“) an. Och nö. Die definitiv schönste Standdeko hat Tallinn mit einer Kopfhörerelchmama samt Babyelch.
Für weniger rührselige Naturen hält Tallinn aber auch eine ganze Kühlbox Saku bereit; und gleich daneben hat Heineken eine grüne Lounge aufgebaut.
Der Gemeinschaftsstand der PopAkademie Baden-Württembrg und der Stadt Mannheim hat wieder mal den schönsten Claim. War es im Vorjahr „Wenn Popstar, dann mit Abschluss“, ist es diesmal ein plakatives „Wir hassen Musik“. Wer genau hinsieht, kann aber den Zusatz „wenn sie aus ist“ entdecken.
Zudem beweist man mit dem popakademie mixtape no. 01, das Künstler wie Abby, Reich und Schön oder Alina Wichmann featured, dass es auf der Popkomm sehr wohl frische neue Musik zu entdecken gibt. Und es ist definitiv symptomatisch für die Branche, wenn Studenten bzw. Jung-Absolventen dank Marie & The Redcats mit So Many Birds das schönste Lied der Popkomm machen.
Ansonsten findet die Musik auch dieses Jahr außerhalb der Popkomm statt, ob mit Berlin Music Week oder Berlin Festival. Wenn man die Musik dann aber erst einmal aufgespürt hat, lässt sich festhalten: Alles wird besser.
Indessen ändert dies nichts an den hinlänglich bekannten Herausforderungen, denen sich die Musikindustrie stellen muss, wenn sie nicht endgültig von den Entwicklungen, die bislang ohne sie stattfinden, überrollt werden möchte. Die Titel der Keynotes, Panels und Workshops sprechen da Bände. „How to do digital marketing“, fragt man sich dort, oder „What is the future of music online?“, nur um am Schluss zu resignieren: „Why they will not even steal your music any more!“ Die Branche singt auch dieses Jahr wieder ihren eigenen Schwanengesang.
Davon morgen mehr. Ich muss mir jetzt erst einmal ein vernünftiges Essen kochen. Sie als fleißiger Klangblog-Leser können alldieweil zwei dieser hübschen Popkomm 2011-Taschen abstauben. Schreiben Sie einfach eine Mail an kontakt@klangverfuehrer.de
Ich habe ein Déjá-vu : Es ist schwül. Und im Zimmer 16 sind knapp zwanzig Menschen – darunter fünf Musiker, vier Veranstalter und mindestens fünf Gästelistenplatzbesitzer. Wie schon beim Glezele-Konzert im letzten Juli
ist das für die Zimmer16-Betreiber, die auch irgendwie ihre Miete bezahlen müssen, natürlich schade. Für den Kritiker indessen ist so ein familiäres Konzert ein absoluter Glücksfall, wenn es darum geht, die Musik einer Band ganz nah kennenzulernen. Nichtsdestotrotz sind die miserablen Besucherzahlen verwunderlich, denn üblicherweise sind Krispin-Konzerte ausverkauft. Die beiden großen musikalischen Konkurrenzveranstaltungen des Abends, einerseits die Onkelznacht in Schildow, und andererseits Turntablerocker Michi Beck, der in der Kulturbrauerei auflegt, dürften das dann doch anspruchsvollere Krispin-Publikum auch nicht wirklich abziehen. Andererseits sieht sich heute Abend selbst das Bode-Museum, das seinen Publikumsrenner Gesichter der Renaissance erstmals bis 22:00 Uhr zeigt, mit leeren Sälen konfrontiert, wo sonst zweitausend Leute Schlange stehen. Muss also etwas Atmosphärisches sein.
Zunächst gibt es dann auch erst einmal eine Planänderung, die allerdings nichts mit den Besucherzahlen zu tun hat. Statt des als Support angekündigten Francis DD String wird die Berliner Singer/Songwriterin Cathleen spielen. Francis hat überraschenderweise einen Gig im musikalisch immer wieder erstaunenden Bernau. Cathleen hat eine Kehlkopfentzündung.
Diese merkt man ihr aber in keinster Weise an. Cathleen ist eine Songwriterin, die nicht nur weiß, wie man Geschichten erzählt, sondern darüber hinaus auch noch eine herrlich tiefe und volle Stimme hat und obendrein Gitarre spielen kann. Ich wünschte, die Mädels der fabulösen Female Folk-Pleite hätten Cathleen hören können – sie hätten sich zweimal überlegt, ob sie mit ihrer Gitarrenmädchennummer wirklich auftreten wollen, solange es Künstlerinnen wie Cathleen gibt. Die setzt nämlich mitnichten auf das Kleinmädchenschema, sondern auf die pure Präsenz ihrer Songs und ihrer Stimme.
Spätestens beim dritten Stück, You Pretend – eine Nummer für alle jene, die keine Leute mögen die nicht authentisch sind -, zeigt sich, dass Cathleen zu all dem noch den Groove hat, und Donna & Co. sollten lieber wieder spielen gehen. Das Highlight von Cathleens Auftritt ist aber sicherlich Taste Me, das durch einen fast schon soulig zu nennenden Gesang besticht und obendrein sehr sehr sexy ist. Wer mit einer Kehlkopfentzündung so singen kann, wie klingt der erst, wenn er gesund ist? Schließlich überrascht uns Cathleen noch mit der kleinen Waldmaus aus ihrem pädagogischen Repertoire – so eine gitarrespielende Kindergärtnerin hätte ich auch gern gehabt, und das Publikum gibt gern den Kindergartenchor. Nach einigen Nashville, Tennessee-Nummern beschließt Cathleen ihr Set mit Ocean of Lust, das sie diskret mit „Ozean der Liebe“ übersetzt.
Grandios, das. Kopfhörerhund allerdings mag Akustikgitarren nach wie vor nicht – auch keine gut gespielten. Er will flüchten.
Kurz nach zehn entern dann die vier Krispin-Jungs die Bühne, und der charismatische Frontmann Roland Krispin hält mit sympathischer Selbstironie fest, dass nun wohl ein Großteil des Publikums auf der Bühne steht, was ihn aber glücklicherweise nicht davon abhält, ein schönes Konzert spielen zu wollen. Zu meiner großen Freude eröffnet er sein Programm mit Vergessen, meinem Lieblingsstück des Albums Gegen die Uhr. Und auch Kopfhörerhund hat sich mittlerweile wohlig grunzend ausgestreckt, ein Zeichen für Musik, die im Fluss ist und die Hundeseele streichelt.
Dem Opener folt Als ob du mich nicht kennst, der Sechsachtler mit dem Tausendfüßler im Text, bei dem ich immer Reinhard Meys Maikäfer fliegen höre. Ohnehin empfinde ich Krispin als sehr liedermachergeprägt, und nicht zuletzt keimzeitet es sowohl auf dem Album als auch bei der Live-Show ganz schön. Indessen kann Roland Krispin besser singen als die meisten seiner Kollegen, mit denen er sich das Genre teilt.
Der dritte Titel Vier Buchstaben schlagzeugbest ganz wundervoll vor sich hin und ist ohnehin ein toller Song. Davon hätte ich gern mehr! Auch das E-Gitarren-Solo ist hier unglaublich angenehm und ufert nicht aus. Spätestens bei Wenn du gehst mit einem auf die Gitarre umgestiegenen Bassisten weiß ich, was Ex-Poems For Laila-Sänger und nun Krispin-Produzünt Nikolai Tomás meinte, als er den Element of Crime-Vergleich bemühte, während sich Gitarrist Andreas Laudwein inzwischen um Bohren und der Club of Gore-Sporen bemüht. Ohnehin kennt man sich bei Krispin mit gepflegter Düsternis aus. Und so gibt es auch auf Ich habe dich gern wieder die Bohren-Gitarre.
Jede Band hat ihre eigene Berlin-Hymne, bei Krispin ist es das basslastige Nebel, das auf Fröhlichkeit und Wahnsinn einstimmt, dem wir so schöne Neologismen wie „Straßenbahnschmerzen“ und „Fliederduftbüsche“ zu verdanken haben und das bei mir mal wieder das Gefühl hinterlässt, die falschen Songs gefilmt zu haben. Das hier hätten Sie hören müssen!
Auch bei Schnee, dem Song, in dem der Winterdienst so ratlos durch die Stadt führt, kann man vor Gitarrist Laudwein nur niederknien, denn obgleich er so ein reich bestücktes Brett zum Spielen mitgebracht hat, macht er davon dankenswerterweise nur dezenten Gebrauch. Auch etwas, wovon so manch ein anderer lernen könnte.
Leider steht er – ebenso wie Schlagzeuger Ronny Seiler – vorerst zum letzten Mal mit Krispin auf der Bühne; ab Herbst gibt es Krispin light mit Roland Krispin an Vocals und Gitarre und Christoph Thiel am Bass, wobei eine Cellistin den Krispin’schen Liedgeschichten noch eine kammermusikalische Note verleihen wird.
Nach Papierherz gibt es mit Pick-up Truck schon mal eine Zugabe in der künftigen Duo-Besetzung.
Bei Paula, dem einzigen Nicht-Krispin-Song des Abends, kommen Andreas und Ronny wieder und machen aus der Nummer eine Art Berlinerisches Angie – hier kommt doch tatsächlich mal kurz die Rockband in Krispin zum Vorschein. Wieder regt sich ein dringender Video-Wunsch in mir, aber da ich den Song nun einmal nicht gefilmt habe, bleibt Ihnen nur noch eins, wenn Krispin das nächste Mal spielen: Nämlich nichts wie hin.
Jetzt wäre eigentlich alles ganz wunderbar, Paula wäre der ideale Abschluss eines schönen Abends gewesen. Krispin aber wären nicht Krispin, wenn sie sich als finalen Rausschmeißer nicht einen Song gewählt hätten, der allen Weltschmerz des Universums in sich vereint. Zwar schenkt uns Denk an mich wieder ein wundervolles neues Wort – diesmal sind es die „Kopfnachtgespenster“, die kenne ich gut, nur hatte ich nie einen so schönen Namen für sie! -, aber danach kann man sich als Publikum auch gleich geschlossen aufhängen gehen. Und vermutlich erklärt sich auch so die mysteriöse Besucherzahldezimierung: Die haben sich nach dem letzten Krispin-Konzert schlicht und ergreifend alle vor den nächstbesten Autobus geworfen.
Als ich Boy zum ersten Mal sah – ich glaube, es war bei einem Auftritt für TV-Noir oder den Münchener Hauskonzerten – fand ich, dass sie etwas von Welpen hätten. Einfach niedlich. Und auch beim zweiten Hinsehen lässt die ganze kaugummiblasenplatzende Ästhetik eher Teenager oder höchstens noch Early Twenties vermuten, aber man darf sich nicht täuschen lassen. Bei Boy hat man es mit zwei ernsthaften Musikerinnen zu tun, wie man sich beim Hören des Albums Mutual Friends schnell bestätigen lassen kann. Und wen das noch nicht vollends überzeugt, dessen erster Eindruck wird sich spätestens dann relativieren, wenn er Valeska Steiner aus Zürich und Sonja Glass aus Hamburg erst einmal gegenübersitzt. Dazu hatte ich an einem der seltenen sonnig-warmen Tage dieses Sommers Mitte Juli die Gelegenheit, als ich die beiden in einem Straßencafé im Prenzl‘berg getroffen und mit ihnen über ihr morgen erscheinendes Debüt-Album Mutual Friends gesprochen habe – aber nicht nur darüber. Lesen Sie hier, wieso Mutual Friends keine trendy Platte ist, weshalb Boy keine Gitarrenmädchen sind und warum Jungs nicht auf einen Anruf warten.
Klangverführer: In meiner Rezension eurer CD habe ich geschrieben, dass ich verliebt bin in ein Lied – genauer gesagt in Drive Darling. Ich glaube, es trifft den Nerv von jedem, der gerade sein Zuhause oder ganz allgemein vertrautes Terrain verlässt, um sich ein neues zu erobern – oder den Nerv dessen, der sich an diese Phase in seinem Leben erinnert. Die zwiespältigen Gefühle eines jeden Aufbruchs, die Freude darüber, ein eigenes Leben zu beginnen – Good morning, freedom! – und gleichzeitig die Angst davor, die bisherige Geborgenheit zu verlieren – Good night, lullabies –, kommen hier perfekt im Ausdruck, erwartungsvoll und wehmütig zugleich. Laut Presseinformation „angelt ihr euch Geschichten aus dem eigenen Leben“. Geht der Song auf einen persönlichen Neuanfang zurück? Vielleicht sogar den Umzug von Dir, Valeska aus Zürich nach Hamburg, um mit Dir, Sonja das Abenteuer Boy zu beginnen?
Sonja: Ja, genau so ist es. Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen! Exakt wie Du gesagt hast – Du brauchst uns eigentlich gar nicht mehr!
Valeska: Also, die Texte sind tatsächlich alle aus dem Leben gegriffen, und Drive Darling handelt tatsächlich von meinem Umzug und von der Autofahrt, die auch so ein bisschen zelebriert wurde. Meine Mutter hat mich nach Hamburg gefahren, und ich war mit sehr gemischten Gefühlen dabei, wie Du schon gesagt hast, mit Vorfreude aber auch dem Wissen, jetzt geht gerade etwas vorbei, was auch schön war.
Überhaupt ist eure Platte vom ersten Song This Is The Beginning an sehr vom Thema „Aufbruch“ geprägt und sehr zukunftsorientiert. Im zweiten Song heißt es, her time is yet to come … Also, man ist noch unterwegs.
Sonja: Ja, das ist auf jeden Fall die Überschrift, die wir auch selber über dieses Album setzen würden.
Valeska: Ja, total!
Könnt Ihr mir ein bisschen mehr dazu sagen, warum das so ist?
Valeska: Also, ich glaube – zumindest bei mir für die Texte – ging das in der Situation, in der ich sie geschrieben habe, oder in der Zeit, auch wirklich darum. Ich glaube, man hat nie so ein starkes Aufbruchsgefühl wie in dem Moment, wo man gerade an einem neuen Ort angekommen ist und das Gefühl hat, man muss wieder alles suchen und etwas dafür tun, dass etwas in Gang kommt. Und dieses Gefühl hat mir für die Texte wahnsinnig viel Inspiration gegeben.
Das heißt, die Texte kommen alle von Dir?
ValesJa, genau. Für dieses Album haben wir sehr aufgeteilt gearbeitet, weil wir ja zum ersten Mal überhaupt zusammen geschrieben haben und mussten erst einmal ein bisschen herausfinden, wie das am besten funktioniert. Und schlussendlich hat es sich so ergeben, dass Sonja bei sich die musikalischen Ideen hat – also, die Musik kommt erst einmal eigentlich immer erst von Sonja. Sie schickt mir dann eine Idee, die trage ich dann bei mir herum … und schreibe dann einen Text, eine Melodie darauf und schicke es ihr zurück. Und dann geht das hin und her. Also, irgendwie funktioniert das besser als wenn wir beide in einem Zimmer sitzen und schreiben.
Weil man sich auch länger Zeit nehmen kann …
Sonja: Genau, und der andere muss nicht warten.
Valeska: Ja, und irgendwie auch … Wenn wir zusammen schreiben, ist ja jeder auch sehr für sich in dem, was er macht. Uns ist es wichtig, dass man wirklich zu sich selber kommen kann, um etwas aus sich heraus zu bringen.
Heißt, Ihr seid zwei wirklich selbstständige Individuen, die sich zwar zu einem Duo zusammengefunden haben, aber …
Valeska: Genau, und dann treffen wir uns bzw. haben wir uns immer in Berlin getroffen mit unserem Produzenten zusammen, und da erstmals dann in einem Zimmer über die Songs gesprochen, und da auch sind sie auch erst zu dem geworden, was sie jetzt sind und so auf den Punkt gekommen uns ausformuliert worden … Dann haben wir das schon zusammen …
Sonja: … zu Ende gearbeitet.
Wenn ich das richtig verstehe: Die Musik ist bei Boy zuerst da. Sonja, Du schickst zuerst musikalische Ideen …
Sonja: Genau. Ich mache so Fragmente, oder manchmal sind es auch längere Teile oder mehrere Teile in einem, aber nie ganze Songs. Ich finde es schon wichtig, dass die Melodie auch mit der Musik harmoniert, deswegen versuche ich zwar schon deutlich zu skizzieren, was ich machen möchte, aber auch noch Platz zu lassen für das, was Valeska dann macht.
Skizzieren auch im Sinne einer thematischen Vorgabe?
Sonja: Nee, gar nicht. Erstens weiß ich nicht zu jedem Song … Also, meistens formuliere ich sozusagen musikalische Stimmungen und ich finde es eben manchmal auch ganz spannend, was dann zurück kommt. Sonst würde ich Valeska ja total einschränken. Manchmal habe ich zwar schon selber ein Thema von dem ich denke, das würde passen, aber ich lasse das frei, weil ich auch wissen möchte … oder keine Vorgabe machen möchte. Weil wir ja zusammen schreiben und das zu sehr einschränken würde. Aber wenn es mal nicht weitergeht, dann sprechen wir auch darüber, oder Valeska sagt, Du könntest ja irgendwie so oder so was machen …
Valeska: Und das halte ich für eine unglaubliche Fähigkeit! Weil ich glaube, ich habe … nicht den leichteren Part, aber ich habe auf jeden Fall schon eine Stimmung, auf die ich mich stützen kann und ich finde es total großartig, darin aber noch so frei zu sein, erst einmal sagen zu dürfen, was ich gern möchte, und dann schaut man gemeinsam, wie das alles zusammenkommt.
Investigativer Musikjournalismus mit gespitzem Stift. Von links: Valeska Steiner, Klangverführer, Sonja Glass
Um noch einmal auf das Lebensgefühl zurückzukommen, das ihr mit Eurer Platte transportiert: Ich glaube, dass sich die meisten jungen Frauen so zwischen zwanzig und dreißig in euren Liedern wiederfinden. So kennt bestimmt jede das Gefühl, welches ihr in Little Numbers besingt – das Warten neben dem Telefon auf SEINEN Anruf, während man in einer unproduktiven Leerlauf-Schleife gefangen ist, oder, wie es bei euch so schön heißt: Waited for your call/for the moon/To release me from the longest afternoon/I’ve re-arranged parts of my living room/But time is hard to kill since I met you …
Boy: Glaubst Du, nur das Lebensgefühl von Frauen?
Naja, von den Texten her … Ich glaube kaum, dass ein Mann so unproduktiv auf einen Anruf warten kann …
Sonja: Ehrlich? Aber was machen denn Typen, wenn die auf einen Anruf warten?
Ich glaube, die warten kurz auf einen Anruf, dann machen sie ihr Ding, zum Beispiel gehen sie Computer spielen – und dann gehen sie völlig im Spiel auf, ohne dabei zu warten … Klingelt dann das Telefon, schön, wenn nicht, auch schön. Ich glaube, Männer machen weniger, um Zeit zu überbrücken und leben mehr im Hier und Jetzt …
Valeska: Also, ich glaube, wir sehen uns nicht so, dass wir Musik für Frauen machen.
Sonja: Und wir haben vor allem auch von vielen Männern gehört, dass sie sich mit dem einen oder anderen Inhalt total identifizieren. Bei dem Song ist es vielleicht weniger so, aber … ich habe das noch nie so gesehen.
Valeska: Ich auch nicht. Aber ich meine, es ist natürlich schön, wenn Du das sagst mit dem Nerv und so. Wir wünschen uns natürlich und es ist schön, wenn man merkt, dass das, was man schreibt, bei den Leuten ankommt und dass sie etwas damit anfangen können oder sich vielleicht in manchen Situationen wiedererkennen oder wiederfinden und es auf ihr eigenes Leben anwenden können.
Sonja: Aber was ich auch schön finde, ist, dass anscheinend viele Leute die Platte als etwas sehr Positives empfinde. Das finde ich schön, denn man hört ja auch oft Platten, die von Traurigkeit geprägt sind oder von verflossener Liebe …
Valeska: Ja, und ich hoffe aber … Also, ich finde es nur schön, wenn man das Glück vertonen kann ohne … Also, es ist schwierig, ein glückliches Lied zu schreiben, ohne oberflächlich zu sein.
Sonja: Oder ohne kitschig zu sein.
Eine leichte Wehmut habe ich in Euren Liedern aber auch gehört, aber es stimmt, die Platte kommt ohne Trauer aus, und vor allem auch ohne Aggressivität. Ihr seid jetzt nicht so wie diese ganzen „angry young women“ à la Alanis Morissette, Meredith Brooks oder Anouk, obwohl man daran ja zuerst denkt, wenn man an Singer/Songwriterinnen denkt …
Sonja: Ja, obwohl ich finde, der Song, der schon ein bisschen aggressiv ist, ist Boris …
Oh, den mag ich sehr sehr gern – das ist mein Lieblingssong auf der Platte!
Sonja: Wow, danke. Also, ich finde, der greift schon ein bisschen an am Ende.
Um noch einmal auf die positive Grundstimmung zurückzukommen: Die Platte endet mit dem versöhnlichen Schlaflied July, in dem – auch im übertragenen Sinne – das Nachhausekommen besungen wird. So gerät das Album zu einer Art Reise mit Aufbruch – Wirrungen – Ankunft und der Aussage, dass all die unterwegs erlebten Irrungen, alle schlaflosen Nächte und aller Herzschmerz letzten Endes dazu geführt haben, dass man jetzt so ist wie man ist und endlich ganz bei sich angekommen – ist das die Botschaft? Dass es sich allen Widrigkeiten zum Trotze lohnt?
Sonja: Ich glaube nicht, dass wir uns da eine richtige Botschaft überlegt haben, aber wir haben uns schon ganz bewusst entschieden, diesen Song ans Ende des Albums zu legen, weil er eben etwas Ankommendes hat, inhaltlich und musikalisch. Und auch etwas Versöhnliches, weil wir die Leute sozusagen mit etwas Versöhnlichem aus dem Album entlassen wollten.
Valeska: Ja, und man kann schon sagen, es ist auch eine Reise.
Dass die Platte eine Art musikalischer Initiationsroman ist? Man bricht auf, macht Dinge durch, aus denen man gestärkt hervor geht, und kommt an?
Valeska: Ja, ich würde jetzt nicht sagen, dass wir – also, wenn man das jetzt auf uns anwendet – dass wir schon angekommen sind. Aber für die ganze Platte und für die Produktion, und für diese Zeit auch von der Labelsuche, die am Anfang gar nicht so gut lief, und von diesen Zweifeln, wie man das überhaupt hinkriegen soll, hat das schon gewisse Parallelen, dass wir jetzt wirklich sagen können, wow, es ist voll schön gelaufen, auch wenn es zwischendrin manchmal eher war wie, wie sollen wir das schaffen und wie bringen wir dieses Album raus? Und jetzt ist es so gut herausgekommen, und das ist schon mal was!
Was ich an der Platte noch sehr angenehm finde in unserer ganzen Superstar- und R&B-Hochglanzproduktion-dominierten Zeit, dass sie so schlicht und irgendwie durchweg ehrlich scheint – kein Bling-Bling in den Texten, kein Hall-Gerät für den Gesang, keine sonstigen Soundspielereien …
Boy: Doch, da ist schon ein bisschen Hall drauf …
Es hört sich in jedem Falle so an, als würdet ihr direkt im Wohnzimmer neben einem sitzen und dort spielen. Was ich fragen wollte: Erfordert es heute Mut, so eine tiefenentspannte, ja: hoffnungslos altmodische Platte zu machen?
Sonja: Mut? Nein. Die Platte ist unser persönlicher Musikgeschmack. Deswegen finde ich es nicht mutig, weil das Ziel war ja, eine Platte zu machen, die aus uns beiden entsteht.
Valeska: Es ist wahrscheinlich keine „trendy“ Platte. Manche haben den Anspruch, etwas sehr Zeitgeistiges zu machen, das war nie unsere Idee oder unsere Vorstellung.
Sonja: Und es entspricht auch nicht unseren Persönlichkeiten!
Valeska: Aber auf jeden Fall haben wir dafür vielleicht ein Album, was man sich auch in fünf Jahren noch anhören kann und was dann nicht plötzlich „out“ ist.
Sonja: Aber mich freut sehr, dass Du dieses reduzierte Gefühl trotzdem hast, denn es sind tatsächlich wahnsinnig viele Spuren und sehr viele Instrumente und es passiert sehr viel, und das freut mich, weil ich manchmal denke, hoffentlich ist es nicht zu überladen!
Man merkt natürlich, es ist nicht die Demo-Version, die Ihr aufgenommen habt, aber ich empfinde das Album als überhaupt nicht überproduziert – ganz im Gegenteil. Womit sich meine nächste Frage im Grunde fast erübrigt. Ihr sagt, ihr habt bewusst keine trendy Platte gemacht. Mittlerweile bemerke ich, dass der (nahezu) vollständige Verzicht auf jedwedes Elektrogeschnassel die neue Avantgarde zu kennzeichnen scheint, nachdem man sich in den letzten Jahren an all diesen Ambient-, Chillout- und Lounge-Sounds überhört hat … Ehemalige Elektroniker wie Goldfrapp veröffentlichen mit einem Mal Folk-Alben … Euer akustischer Sound ist aber nicht diesem neuen Zeitgeist verpflichtet, sondern tatsächlich aus der Not geboren? Irgendwo habe ich gelesen, Ihr konntet Euch am Anfang keine Band leisten …
Sonja: Genau, aber das stimmt nicht so ganz, weil: Das Album, wie es jetzt ist, war von Anfang an als ein Band-Album gedacht. Weil wir jetzt aber so viel im Duo unterwegs waren, könnte man denken, dass die Songs am Anfang so klein da waren, so ganz akustisch und so – aber das stimmt nicht: Erst war die Band-Version da, und dann waren wir als Duo unterwegs. Es ist also genau umgekehrt, als man vermuten könnte.
Valeska: Es war eher eine Herausforderung, die Songs zu reduzieren. Das kam so aus der Not, dass wir wussten, wir wollen ganz viel spielen, aber es ist ein sehr großer technischer Aufwand, immer eine Band mit dabei zu haben, wenn man mit dem Zug reist, und deswegen mussten wir die Songs total runterbrechen und uns das auch irgendwie draufschaffen … Ich meine, Sonja spielt ganz viel Gitarre, was ja nicht ihr Hauptinstrument ist, was sehr gewachsen ist, seitdem wir das machen. Wir freuen uns aber, dass es zwei Gewänder gibt für die Lieder, das eine sehr reduziert zu zweit, und dann aber auch die Bandversion, mit der wir im Herbst zum ersten Mal auf Tour gehen.
Das heißt, Ihr musstet Euch erst noch einmal richtig hinsetzen und eine Akustik- bzw. Duo-Version erst einmal formulieren.
Valeska: Genau, und das war eine Aufgabe!
Das glaub ich gern. Ich wollte noch etwas zu Eurem Label fragen: Die letzten Grönland-Veröffentlichungen, die ich gehört habe, haben mich auch mit ihrem zauberhaften Singersongwriter-Pop begeistert, beispielsweise Susanne Sundfør …
Boy: Ja, und William Fitzsimmons ist da und auch Philipp Poisel …
Oh, der auch? Der hat eine schöne Version von Schwarz zu Blau gemacht, wobei man als Berliner natürlich auch das Original von Peter Fox mögen muss … Aber, worauf ich hinauswollte ist, dass ich finde, ihr passt mit eurer Musik perfekt zu Grönland. Wie ist es zu der Zusammenarbeit mit dem von Herbert Grönemeyer gegründeten Label gekommen ist.
Sonja: Wir haben einen Freund und Manager, der uns bei diesen Sachen unterstützt und der unsere Musik an Labels gegeben hat bzw. mit denen in Kontakt getreten ist und uns präsentiert hat. Und der hat dann auch Grönland angesprochen.
Valeska: Und die kamen erst zu einem späten Zeitpunkt ins Spiel oder ins Rennen, denn davor gab es auch einige Absagen von anderen Labels. Im Endeffekt sind wir aber jetzt sehr froh darüber, weil wir jetzt da gelandet sind, wo es wirklich sehr gut für uns ist – bis jetzt.
Valeska, du hattest dir vor Boy in der Schweiz schon eine eigene Karriere als Sängerin aufgebaut, mit Einflüssen wie Juliana Hatfield, Shawn Colvin, Ben Folds, Damien Rice oder Cat Power; Sonja war professionelle Bassistin und auf u.a. auf Produktionen von Kim Frank, Rosenstolz, Tic Tac Toe oder Michel van Dyke gespielt. Wie kam es zu der Entscheidung, mit Boy als „Akustikgitarrenmädchen“ aufzutreten, obwohl Ihr doch von ganz anderen Hintergründen kommt?
Sonja: Das ist eben eigentlich … eigentlich sind wir eben keine Gitarrenmädchen. Das Album ist eben genau das nicht. Wir waren jetzt nur so viel im Duo unterwegs, dass ich verstehen kann, dass man auf die Idee kommt. Aber eigentlich bin ich Bassistin!
Valeska: Wobei, in dem Moment, wo wir als Duo auftreten, sind wir ja auch Gitarre spielende Mädchen. Aber das ist eben nur die eine Seite. Aber ich glaube eben, wer das Album hört, der merkt dann schnell, dass wir nicht nur zwei Gitarrenmädchen sind.
Das heißt, wenn ihr als Boy mit der Band auftretet, dann spielst Du zum Beispiel auch Bass?
Sonja: Ja, dann spiele ich hauptsächlich Bass. Dann haben wir einen Gitarristen dabei, einen Schlagzeuger und auch einen Keyboarder.
Valeska: Ich spiele bei wenigen Songs Gitarre, aber ansonsten konzentrieren wir uns dann beide auf unsere Hauptinstrumente.
Damit hat sich fast schon wieder eine Frage erübrigt – ich habe bei einem eurer unplugged-Auftritte Valeska gekonnt eine Hohner Melodica spielen gehört; von Sonja weiß ich, dass sie studierte Bassistin ist und eigentlich vom Cello kommt. Diesen doch recht komplexen musikalischen Background hört man eurem Debüt Mutual Friends überhaupt nicht an … Absicht?
Boy: Wieso findest Du, man hört das der CD nicht an – weil sie so reduziert daherkommt?
Ja, aber im positiven Sinne einfach und leichtfüßig. Wenn man sagt, ein Text ist perfekt, wenn man nichts mehr weglassen kann, dann ist diese Platte perfekt, weil man nichts mehr weglassen kann.
Boy: Ah, so meinst Du das!
Ja, denn manche sagen, sie haben jetzt Musik studiert und dann muss man das auch auf Teufel komm raus hören, die machen und tun …
Sonja: Ach ja … Das ist mit persönlich eben auch sehr wichtig, dass man eben Musik macht, um einen Song zu machen, und nicht um zu zeigen, was man kann. Es geht ja darum, dass man ein Gewand für einen Song findet, der dem dient. Wir machen ja keine Musik wie Fusion oder Jazz, wo man eben total zeigen kann, was man kann. Ich möchte es auch gar nicht bewerten, das ist ja auch toll. Aber wir – wir machen halt Songs. Und keine Frickelage.
Bei den letzten Songs auf Eurem Album – Oh Boy, Skin, Silver Streets – die ich übrigens unglaublich gern mal live hören würde, hört man, dass ihr auch lupenreinen Rock’n’Roll spielen könnt ! Können wir bei eurer Winter-Tour die Songs in großem Arrangement und ebenso großer Besetzung erwarten?
Boy: Ja, die Tour im Oktober wird auf jeden Fall genauso bunt wie das Album werden.
Und die führt Euch dann durch Deutschland?
Boy: Durch Deutschland, die Schweiz – und ein Konzert in Wien.
Ihr freut Euch drauf …
Boy: Ja, extrem!
Kommen wir langsam zum Ende. Wie ich vorhin schon erwähnt habe, mag ich persönlich auf Mutual Friends – neben Drive Darling – das You-Should-Get-of-Town-Too-Lied Boris am liebsten. Habt ihr ein Lieblingslied auf dem Album?
Sonja: Meine Lieblingslieder wechseln. Ich hab mal das und mal das lieber. Im Moment ist auf jeden Fall Railway eines meiner liebsten Lieder, weil es sehr emotional ist. Ich kann auch gar nicht sagen, warum, aber es geht mir sehr nahe. Ich habe zu diesem Song irgendwie eine besondere Verbindung.
Valeska: Ich kann es im Moment gar nicht sagen, weil es auch bei mir total wechselt. Gerade in letzter Zeit habe ich das Album mal nicht so oft gehört und mich damit nicht so oft auseinandergesetzt, was ich auch mal ganz gut finde. Aber wir waren vor einer Woche in Barcelona und haben da unser erstes Musikvideo gedreht zu Little Numbers, der ersten Single, und das hat großen Spaß gemacht. Wir haben den Song dort so oft am Tag gehört und es hat ihn mir nicht verleidet!
Sonja: Ja, das stimmt. Da kann man ja froh sein.
Valeska: Genau, das war ein gutes Zeichen. Und jetzt haben wir das Video bekommen, den ersten Rohschnitt. Und der ist super, deswegen mag ich den Song gerade sehr gern.
Wisst Ihr, wann das Video rauskommen soll?
Sonja: Ich glaube, in einer Woche ist das Video fertig geschnitten oder soll es fertig geschnitten sein, und ich glaube dann dauert es nicht so lange, bis man es sehen kann.
Könnt Ihr mir schon vorab ein bisschen darüber erzählen oder ist das noch geheim?
Valeska: Ich glaube, Leute, die sehr auf den Text hören, werden enttäuscht sein, denn die Geschichte des Videos bezieht sich gar nicht auf den Songtext. Es ist so, wir hatten verschiedene Treatments, also verschiedene Entwürfe für die Geschichte von verschiedenen Regisseuren, und dieser hat uns vor allem durch seinen Look überzeugt. Es gab einige, die haben sehr konkrete Vorschläge gemacht, à la „Valeska sitzt am Telefon und wartet“ …
Sonja: Also auch sehr bildlich, sozusagen.
Valeska: Genau, und das war uns von Anfang an ein bisschen zu extrem. Jetzt haben wir uns für eine Variante entschieden, die eine Flut von sehr vielen, sehr bunten Barcelona-Bildern geworden ist.
Sonja: An Eindrücken, an Stimmungen und Situationen, in denen wir uns befinden, und auch sehr viel Interaktion mit Leuten, die in Barcelona leben …
Valeska: Und es greift viel eher die Stimmung auf von dem Lied, als den Inhalt. Weil das Lied so etwas Positives hat, so viel Energie – und die Bilder werden schnell wechseln und farbig sein …
Sonja: Es transportiert das Gefühl des Songs sehr gut, weniger den Inhalt. Aber den hört man ja im Text.
Was ich vorhin verstanden habe ist, dass Ihr Euch nicht als Gitarrenmädchen positionieren wollt, als die Ihr auf den ersten Blick erscheint. Ich bin nach dem ersten Hören von Mutual Friends auch sehr schnell davon weg gekommen, aber wenn man zum aller ersten Mal in so einen Akustik-Clip von Euch reinschaut, denkt man, oh, die sind aber niedlich. Das relativiert sich ja auch sehr sehr schnell, wenn man Euch hier so sitzen sieht. Trotzdem will ich natürlich wissen, wie Ihr, die Ihr in erster Linie als sehr mädchenhaft wahrgenommen werdet, darauf kommt, Euch den Namen „Boy“ zu geben.
Valeska: Also, wir haben ganz lange nach einem weiblicheren Namen gesucht, nach einem, der uns mehr entspricht oder mehr beschreibt, der darauf eingeht, dass wir zwei Frauen sind, oder auch darauf, dass wir aus Zürich und aus Hamburg kommen, irgendwas! Und wir haben nichts Passendes gefunden, und irgendwann kam so diese Idee, komm, wir nennen uns einfach Boy! Boy, das ist das Gegenteil, aber es ist schon okay …
Sonja: Das sieht gut aus, das klingt gut und ist kurz …
Valeska: Wir sind dann wieder davon abgekommen, aber irgendwie haben wir es nicht mehr vergessen – und ich glaube, das ist auch das Gute an dem Namen, dass man ihn nicht mehr vergisst in der Kombination mit dem, was dahintersteckt, weil es eben was Unerwartetes ist.
Mutual Friends erscheint am 2. September 2011 bei Grönland sowohl als CD als auch
auf Vinyl