30. September 2012

Ein Song, dran zu gesunden – die Platte des Monats ist online

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 17:32

„Stellen Sie sich vor, die Berlin Music Week – oder eine ähnliche, mehrtägige Großveranstaltung Ihrer Branche – hätte Sie verschluckt und erst gestern wieder ausgespuckt. Und so fühlen Sie sich auch: irgendwie ausgespuckt. Sie haben definitiv zu viele Menschen getroffen, die Tage waren stressig, die Nächte lang. Jetzt brauchen Sie dringend etwas Ruhiges im Soundtrack Ihres Lebens, eine kleine Portion musikalischen Seelenbalsam, wollen dabei aber weder verdummen noch in volkstümlicher Terzseligkeit (oder ihrem modernen Äquivalent: pseudo-trancigen „Dream-Dance“-Sounds) baden. Wenn Ihnen in diesem Zustand Dogs In Spirit in die Hände fällt, das Debütalbum der 27-jährigen Baslerin Anna Aaron, ist das ein Glücksfall im Wortsinne. […]“

Warum das so ist und was es mit Anna Aarons Hunden im Geiste, Seeungeheuern und der Königin des Klanges auf sich hat, steht wie immer hier auf fairaudio.de. Vief Freude damit und einen guten Start in den Herbst!

14. September 2012

Das war überraschend … gut. Skunk Anansie hautnah in der nhow-Gallery

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 13:40

Es ist ein bisschen so wie bei „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Schon wieder Stralauer Allee. Schon wieder Musik. Das hatte ich doch gerade erst die ganze letzte Woche! Wie es scheint, ist diesem winzigen Stückchen Stralauer Allee zwischen den Hausnummern eins und acht nicht zu entkommen, wenn es um Popmusik in Berlin geht. Mediaspree ist, ob das Gentrifizierungsgegnern und Kapitalismuskritikern nun gefällt oder nicht, aufgegangen. Diesmal sind wir allerdings weder bei Universal Music (Stralauer Allee 1) noch im Spreespeicher (Stralauer Allee 2) noch bei MTV Europe (Stralauer Allee 6/7) noch in der Fernsehwerft am Osthafen (Stralauer Allee 8), sondern in der Hausnummer 3, dem nhow-Hotel, wo vor einem knappen Jahr auch das Klangverführer-Interview mit der Wiener Sängerin MisSiss entstanden ist. Damals gaben uns in der Galerie des Hotels die Arbeiten des Niederländers Peter Bastiaanssen eine ganz spezielle Kulisse. Diesmal geht es weniger künstlerisch, dafür aber umso atmosphärischer zur Sache.

Nun also Skunk Anansie. Die habe ich zuletzt in meinem Abijahr 1996 gehört, als sie mit Hedonism (Just Because You Feel Good) einen großen Hit hatten. Das Lied hatte mich nicht sonderlich beeindruckt; die Nachfolgesingle Brazen (Weep) – und dort die phantastische Gesangleistung von Skunk Anansie-Frontfrau Skin – allerdings umso mehr. Die hat es sogar auf meine private Rock My Soul-Compilation geschafft, die ich neulich erst wieder einmal gehört habe. Skunk Anansie – bessergesagt: dieses eine Lied von ihnen – war in meinem musikalischen Hinterkopf also immer irgendwie präsent, das Interesse an der Band selbst hielt sich bei mir allerdings in Grenzen. Weder habe ich die Auflösung der Band 2001 mitbekommen, noch die unter dem Pseudonym SCAM erfolgte allmähliche Annäherung der Musiker aneinander von 2009 verfolgt. Vielleicht war es die eine Single von vor fünfzehn Jahren, aber es machte irgendwie Klick in meinem Kopf, als mir die Einladung zum Pre-Listening des neuen Albums von Skunk Anansie samt semi-akustischem Live-Gig ins Haus flatterte. Bei meinen potenziellen Begleitern hingegen schien dieser Klick auszubleiben – es war wie verhext, niemand hatte an diesem Abend Lust oder Zeit, mitzukommen.


Diese Frau kann singen: Deborah Anne Dyer alias Skin

Schließlich fand sich Bassplayerman bereit, mich in die Gallery des nhow zu begleiten. Auch er hatte eine aus den Neunzigerjahren stammende Idee der Skunkz im Hinterkopf, die bei ihm aus welchen Gründen auch immer darin bestand, es mit einer zusammengecasteten Band zu tun zu haben. Auch diese Idee sollte sich im Laufe des Abends angesichts des Auftritts der Band sehr schnell relativieren. Zunächst aber wurde das mit rosa Bändchen versehene Publikum – man kann sich hierbei eines gewissen Herden-Feelings kurz nach der Brandmarkung nicht wirklich erweheren – genötigt, sich das am Folgetag erscheinende Album Black Traffic in Gänze anzuhören. Es dauere auch nur 38 Minuten, fügte die Moderatorin des Abends fast entschuldigend hinzu. Für elf Nummern nicht schlecht – das erinnert an rumpelige Punkplatten, wo ein Song auch nicht viel länger als drei Minuten dauern darf. Black Traffic jedenfalls mit seinen nervös treibenden Gitarren und dem omnipräsenten Haudrauf-Schlagzeug ist in erster Linie, unabhängig vom Pegel, mit dem man es hört: laut. Und erstaunlich … ich will nicht sagen schlecht, aber doch seltsam … abgemischt. Die charismatische Stimme von Skin ist viel zu weit hinten und geht im Klangchaos unter. Das kann man jetzt als sympathischen Meine-Band-ist-auch-wichtig-Ansatz begreifen. Das kann man aber auch lassen und sich stattdessen darüber ärgern, denn diese Art zu mixen macht dem Zuhörer schlicht Schwierigkeiten, ja sogar Stress.

Allerdings legt sich das nach den ersten neun Stücken: Die Schlussnummern Sticky Fingers in your Honey und Diving Down gefallen gleich auf Anhieb und lassen mitrocken (Sticky Fingers) bzw. -grooven (Diving), wobei man sich wieder fragen muss, ob hier der Gewöhnungseffekt nicht mitspielt – oder ob gar die Gin Tonics, die an diesem Abend großzügig ausgegeben werden, langsam aber sicher ihre glückselig machende Wirkung entfalten. Live und halb-akustisch hingegen fügt sich alles wie von Zauberhand: Das hier kann man nicht nur aushalten, das hier ist sogar ziemlich gut.

Und Sie, liebe Leser, können das zu Hause nachmachen. Hier die Chords:

Nachdem Sie Ihre Gitarren jetzt wieder weggelegt haben, lehnen Sie sich zurück und genießen Sie zwei weitere Songs:

Bleibt als Frage des Abends eigentlich nur noch: Weshalb macht so eine (gute) Band so eine (allenfalls mediokre) Platte? Wer eine Antwort hat, schreibe mir bitte. Bleibt noch etwas anderes: die obligatorische Zugabe. Natürlich spielen die sympathischen Briten ihren 1996er-Smash Hit Hedonism (Just Because You Feel Good):

Das war in der Tat anders als erwartet. Die Band, die übrigens nicht zusammengecastet ist, sondern vielmehr seit fast zwanzig Jahren in unveränderter Besetzung zusammen spielt, erweckte den Anschein, als hätte sie wirklich Bock zu spielen, dem Publikum gefiel es – und auch in meinem persönlichen Fan-Kosmos hat wieder eine Band mehr den Shift von ist-ja-ganz-nett zu gefällt-mir-sehr-gut geschafft. Es war ein schöner und vor allem überaschender Abend (und das sage ich Ihnen als jemand, der Überraschungen mindestens skeptisch, wenn nicht gar mit Abscheu beäugt), und ich hoffe, Ihnen davon einen kleinen Eindruck vermittelt haben zu können. Auf die Platte aber können Sie, ganz im Vertrauen, getrost verzichten.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Cathrin Schmiegel im Rolling Stone – ein treffender Konzertbericht, nachzulesen hier. Eine exklusive Fotostrecke von Alexander Mechow finden Sie hier. Die Ausleuchter lbrty&vstnss, die den Abend in magischen Glanz hüllten, haben die Fotos und eines der Klangblog-Videos in ihre Seite eingebunden, nachzusehen hier.


Ohne Botschaft geht bei Skin nichts: Save the Sea

9. September 2012

My Berlin Music Week: zwischen leeren Stühlen, authentischer Imitation und der endgültigen Entmystifizierung des Songwritings

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , , , — VSz | Klangverführer @ 18:33

Nachdem man letztes Jahr mit der in die Berlin Music Week eingebetteten Popkomm alles anders machen wollte als vorletztes, wo man mit nämlichem Ziel antrat, um daran grandios zu scheitern, hat man dieses Jahr die Popkomm kurzerhand gestrichen. Zumindest den Messeteil. Länderorientierte Showcases sowie die Conference genannten Podiumsdiskussionen, in denen über die Zukunft der Musikindustrie meditiert wird, finden auch dieses Jahr statt, wenngleich man dem Kind einen anderen Namen gegeben hat: Word on Sound nennt sich das Sammelsurium aus Impulsreferaten und Workshops, untertitelt mit Die neue Plattform für Professionals. Das Ganze gibt es, schon allein – aber nicht nur – aus geographischer Sicht industrienah, im Spreespeicher in der Stralauer Allee.

Uninteressant sind die in die Segmente Arts and Polity, Werkstatt, Most Wanted: Music, World Nightlife Fund, Green Berlin Music Week, Master Class, digi-digi con, Denkfabrik und Umg€ld unterteilten Veranstaltungen indessen nicht, denn mit Themen wie „Kapitalismus, Kreativität und die Krise der Musikindustrie“, „Was wurde aus den Utopien der frühen elektronischen Clubkultur?“ oder „Studien zu Herrschaftssturkturen“ verharrt man wenigstens nicht wie sonst im Bejammern der aktuellen Entwicklung, sondern bringt einen Hauch Kapitalismusikritik in die Diskussion ein, die hoffentlich mehr zu bieten hat als die wohlfeile Klage über die Gentrifizierung der Subkulturen.


Ein schöner Ort, dieser Spreespeicher. Kein Wunder, dient er sonst doch als virtueller Indoor-Golfplatz für die Reichen und Schönen.

Freilich schwingt die Tanz-am-Abgrund-Stimmung auch dieses Jahr mit, von Kollege Jens Balzer für die Berliner Zeitung kongenial mit Genieße es, so lange du noch kannst übertitelt und von mir nur ganz leicht aus dem Zusammenhang gerissen. Praktische Antworten auf die Krise werden indessen gewohnt konventionell gegeben, auch wenn man trefflich daran zweifeln kann, ob Streaming das Heilsversprechen der Musikindustrie der Zukunft ist. Ich bin nach wie vor fest davon überzeugt, dass Menschen ihre Musik auch besitzen wollen – und wenn sie schon auf physische Tonträger verzichten, dann wenigstens als Datei auf ihren Festplatten. Sämtliche virtuelle Speicher, Clouds und was nicht alles noch kranken an dem selben Problem: Mensch vertraut ihnen nicht, getreu der Urangst: Was, wenn morgen das Internet abgeschaltet wird?


Hat mittlerweile dreijährige Tradition: das Speise(karten-)foto der Berlin Music Week auf Klangverführer.de

Ich werfe bei einem ersten Rundgang erst einmal einen Blick in The New TV: The Evolving Landscape of Online-Videos und Stuff, you will love to watch. Neue Geschichten, neue Formate, neue Partizipationen. Gut: Man hat verstanden, denen über die Schultern zu schauen, die nach dem Tod des klassischen Musikfernsehens Musikvideos kreieren, welche sich wie ein Lauffeuer in der YouTube-Landschaft verbreiten, beispielsweise den genialen Gregory Brothers mit ihrer Autotune the News-Reihe. Was man noch verstehen will: Was machen die, was herkömmliche Musikvideo-Produzenten nicht machen – und vor allem: Wie machen die das? Leider sind die Reihen in der Zuhörerschaft recht spärlich besetzt.


Wenig los im Fachpublikum …


… sowie draußen …


… und auch drinnen.

Vielleicht muss die Musikindustrie zuallererst einmal verstehen, dass sie, wenn sie als Industrie auftritt, machen kann, was sie will: Das Vertrauen ist ohnehin weg. Da scheint mir das Konzept Let’s Build Our Own Industry des For-Artists-By-Artists-Künstlerkollektivs A Headful Of Bees schon zukunftsweisender. Kreiert wird hier auf D.I.T. (Do It Together)-Basis, der monetäre Aspekt soll auf Freiwilligkeit beruhen, denn schließlich operieren Cafés und Konzertveranstalter mit dem „Jeder zahlt am Schluss, soviel es ihm Wert war“-Konzept ja auch recht erfolgreich, wie A Headful of Bees-Mitglied Eric Eckhart im Interview einräumt. Dazu aber später noch mehr, denn erst einmal steht die offizielle Eröffnungsveranstaltung der Berlin Music Week an – „15 Jahre Radio Eins“ im Tempodrom.


Ein einsamer BOSE hält tapfer die Stellung

Der Abend verspricht, lang zu werden, denn fünf Künstler treten hier auf, vom Hamburger Singer/Songwriter Olli Schulz und der grandiosen Gemma Ray über die Gangsta-Swing-Oriental-Balkan-Surf-Punker BudZillus bis hin zum Schmusesoulsingersongwriter Jonathan Jeremiah und den TripHop-Rockern Archive aus London – zum Teil begleitet vom Filmorchester Babelsberg, das auch schon Künstlern wie The BossHoss oder Peter Fox streichender-, trompetender- und paukenderweise die nötige Portion Schmelz – und manchmal auch Pathos – verliehen hat.

Den Auftakt macht Olli Schulz, der ganze vier Songs spielen durfte – und das ohne Orchesterbegleitung, worüber er sich wortreich beschwert. Außerdem sei die Garderobe zu klein, und an Sclaf schon lange nicht mehr zu denken, ist doch unter seiner Wohnung ein Bubble Tea-Laden eingezogen, der bis nachts um eins des Künstlers zarte Ohren belästigenden Kirmestechno spielt. Auch die Kollegen der Welt bekommen ihr Fett weg, haben sie sich doch erdreistet, Schulz via Überschrift zum „Klamauk-Barden“ zu machen. Ohnehin scheint latentes Angepisstsein bei dem Songwriter zur Masche zu gehören – trotzdessn oder gerade deshalb lieben ihn die Frauen, die sich angesichts der Schlechtigkeit der Welt ein Schwesternhäubchen aufsetzen und Schulz vor allem Unbill abschirmen können. Wie schon beim Interviewtag, wo dem notorisch übellaunigen Sänger ein mit „We Love You“ beschrifteter Bierdeckel zugetragen wird, ruft hier eine Frau nach seiner Beschwerdelitanei zu: „Ich hab‘ dich lieb“. Und egal, wie Schulz sich auch ereifern mag und wie sehr man auch nie weiß, was davon er ernst meint und was nur Show ist, liebhaben muss man einen Mann, der so schöne Lieder schreibt wie Schrecklich schöne Welt auf jeden Fall!

Schrecklich schöne Songs spielt auch die britische, in Berlin lebende Fifties- bzw. Sixties-Retropop-Sängerin Gemma Ray, bei der erstmalig an diesem Abend das Filmorchester aufgefahren wird.

Besonders gefällt mir Flood and a Fire von ihrem aktuellen Album Island Fire, das ich mir in der Pause dann auch dringend auf Vinyl kaufen muss. Leider habe ich kein Video davon machen können, aber dafür ein weiteres, das um das Thema Feuer kreist: Fire House.

Die Berliner von BudZillus, wegen denen ich eigentlich hier bin, spielen sich in furiosem Tempo durch ihr neues Album Auf Gedeih und Verderb, aber, ich kann mir nicht helfen, auf der Platte scheint mir vieles bedeutend besser gemixt. Gerade die Vocals haben im Tempodrom’schen Raumklang schwer zu kämpfen, und was Thomas Prestin vor sich hinklarinettiert, ist, bei allem Respekt: vorhersehbar. Am Sax hingegen gefällt er mir ausnehmend gut – und das „Tier“ am Schlagzeug verdient einfach nur Bewunderung und Respekt, denn getreu ihrem Motto „Wir spiel’n weiter“ spielt er einfach immer weiter, und das bei dem Speed – ob er jeden Abend ein halbes Kalb verspeist? Hier jedenfalls It’s Up To You:

Auch wenn ich mich heute Abend nicht des Gefühls erwehren kann – das ich beim Hören des grandiosen Albums Auf Gedeih und Verderb übrigens nicht habe -, hier die authentische Imitation einer Balkan-Kapelle zu sehen – die Leute lieben es, und erstmals an diesem Abend werden Zugabe-Rufe laut, denen man ob des straffen Zeitplans aber leider nicht nachkommen kann. Wobei, was heißt leider: Im Grunde ist das einer der großen Vorteile von Radio-Konzerten, ob live ausgestrahlt oder für spätere Sendungen mitgeschnitten: Der Zeitplan wird eingehalten, ewiges Warten auf den Hauptact gibt es nicht, man kommt früh genug ins Bett.

Davon bin ich heute Abend aber noch weit entfernt, denn jetzt kommt erst einmal Jonathan Jeremiah, dessen Existenz mir bislang völlig entgangen war, der sich aber nach anfänglich zauderndem Singer-Songwriter-Allerlei als gestandener, am Motown-Retro-Sound orientierter Soulrocker mit Eiern erweisen soll. Bei Heart of Stone sind gar die Nutbush City Limits nicht weit – das groovt!

Weshalb man allerdings Archive zum Hauptact des Abends gemacht hat, entzieht sich meinem Verständnis komplett. Egal, wie oft ich mir das anhöre – ich finde es grässlich, und dabei bin ich TripHop-Fan der ersten Stunde! Wer das geil findet, schreibe mir bitte, weshalb. Vielleicht steckt ja eine verborgene Schönheit in diesen Songs – die wäre dann allerdings sehr gut verborgen:

Kollateralschaden des Abends ist – neben einem komplett verlorenen nächsten Tag inklusive der verpassten Nordic by Nature-Nacht im Postbahnhof mit Acts wie I Got You On Tape (DK), Sandra Kolstad (NO) oder LCMDF (FIN) – ein verlorenes Notizbuch. Ein schwarzes, kariertes Moleskine mit Logoprägung der VZ-Netzwerke auf dem Einband und einem eingeklemmten Druckbleistift. Ich freue mich, wenn ich es zurückbekomme – sogar so sehr, dass ich dem Finder glatt fünf CDs dafür geben würde. Neben dem Entwurf einer Konzertkritik der Radio Eins-Nacht enthielt es ein flammendes Plädoyer über die Freuden bedingungslosen Fantums, ausgelöst durch den Kauf der frisch signierten Platte von Gemma Ray, denn Fansein gilt weder in Musikwissenschaftler- noch Musikkritikerkreisen als sonderlich cool – dabei ist das doch die Basis für Musikliebe und einen der Musik angemessenen Umgang mit ihr, der dadurch nicht weniger professionell wird. Nur durch die Lupe kühler Überheblichkeit und damit zwingend verknüpfter Distanz kann man einem so emotionalen Sujet nicht gerecht werden, und ich bin gottfroh, dass ich Professoren hatte, die nicht müde wurden mir zu versichern, dass sich auch Wissenschaftler den Luxus persönlichen Geschmacks leisten dürfen. Nun, jetzt muss es eben ohne dieses Plädoyer gehen …

Ein Kollateralschaden der angenehmeren Art, nennen wir ihn daher ruhig Kollateralnutzen, war, dass mein persönliches Verkaterungserlebnis am übernächsten Tag den Anstoß für einen Song gab, der im Rahmen eines vierstündigen Workshops – zwei für das Songwriting, eine fürs Ausprobieren des Arrangements und eine fürs Recording – entstanden ist und den ich Ihnen an dieser Stelle nicht vorenthalten will. Es war eine hochgradig inspirierende Erfahrung, bei der a2n-Werkstatt in den Räumlichkeiten der Noisy Music World in der Warschauer Straße unter Anleitung des Künstlerkollektivs A headful af bees mit einer handvoll Musiker und Musikinteressierter in einer Art Hippie-Session einen tragfähigen Song zu entwickeln. Ziel dabei war auch, den Prozess des Songschreibens zu entmystifizieren; denn während der Songschreiber sonst emotional tief bewegt im stillen Kämmerchen sich plagt, sollte hier gezeigt werden, dass man mit ein paar Musikinstrumenten (und Leuten, die möglichst viele davon spielen können), Stimmen, Stiften und Papier im Kollektiv in wenigen Stunden zu einem durchaus brauchbaren Ergebnis kommen kann.


Ganz ohne Weltschmerz und stilles Kämmerlein: Songwriting im Kollektiv

Herausgekommen ist der Titel Five More Hours, dessen Grundidee die Zustandsbeschreibung am morgen nach einer durchfeierten Nacht ist: Oh mein Gott, wann werde ich es endlich lernen, nicht mehr so zu übertreiben? Noch zwei Stunden, und ich werde in der Lage sein, meinen Kopf wieder zu bewegen. Noch fünf Stunden, und ich schaffe es, eine Aspirin zu nehmen. Und so fort. Und dann die Rückerinnerung, warum sie all das getan hat – und definitiv wieder tun wird, denn sie war die Königin der Nacht! Und auch, wenn wir angehalten waren, allzu deutliche musikalische Klischees zu vermeiden, konnten wir uns nicht helfen, dieses Bild mit einem kleinen Moll-nach-Dur-Shift zu illustrieren. Aber hören Sie selbst:

Natürlich hänge ich persönlich an dem Song. Aber ich finde ihn auch aus der Distanz zweier Tage immer noch gut. Und bin erstaunt, wie schnell man gemeinsam zu einem brauchbaren Liedchen kommt. Aber auch sonst lässt sich die Workshop-Reihe für Musiker sehen, denn anstatt in theoretischem Gejammer zu erstarren, zeigt man bei der all2gethernow (a2n)-Werkstatt, wie man es selbst macht: Um Überlebensstrategien für junge Künstler geht es, von wie publiziere ich meine eigene Musik über wie lizensiere ich sie für Filme und Fernsehen bis zu einem „Zirkeltrainig“ in Sachen Crowdfunding.


So funktioniert Songwriting heute: Zusammen einsperren, enge Deadline setzen –
und es klappt!

Viele, viele Clubkonzerte weiter ist am Sonntag mit dem ADD (Auf den Dächern)-Festival der nun dringend notwendige Schlusspunkt der Berlin Music Week erreicht. Hier treten im 20-Minuten-Takt Künstler für jeden Geschmack und Intellekt auf, von Phillip Poisel und Cro über Max Herre und Two Door Cinema Club bis zu M.I.A. und Ghostpoet auf. Wer also das Berlin Festival verpasst hat, bekommt hier die Chance, deren Auftritte in Miniaturformat nachzuholen – natürlich wieder in der Stralauer Allee am Osthafen mit phantastischer Aussicht.


Der Mann mit der Maske lugt in die Menge: Cro auf den Dächern.

Die Veranstalter der Konzerte, ob im kleinen Club oder als großes Festival, können im Gegensatz zum Kongress ein positives Fazit ziehen: Während sich nur 2.000 Fachbesucher für die Berlin Music Week fanden, hat es ungefähr 60.000 Menschen in die Clubs und Konzertsäle getrieben. In weiser Voraussicht wird die Berlin Music Week auch nächstes Jahr ohne den Messeteil – die Popkomm – stattfinden. Wirklich gefehlt hat sie nicht, denn schließlich war sie schon im letzten Jahr so klein gehalten, dass man ihr Verschwinden nur mit Mühe bemerken konnte.

Klangverführer wird auch nächstes Jahr wieder berichten. Diesjahr bleibt nur noch das traditionelle Gewinnspiel, wenngleich es im Gegensatz zu letztem Mal keine Popkomm-Taschen zu gewinnen gibt – dafür aber ein paar Fender-Gitarrenplektren, die auf einen neuen Besitzer warten. Also, ihr Gitarristen da draußen, die ihr keine Anhänger des Fingerstyle seid – schreibt eine Haben-wollen-Mail an kontakt@klangverfuehrer.de. Wer zuerst kommt – und so weiter.

3. September 2012

Seelenfutter für Tagträumer und Sich-Fallenlasser: die neue Victoriah’s Music ist da

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , , — VSz | Klangverführer @ 10:29

Lina Liebhund war gerade viereinhalb Wochen bei mir – und hatte in dieser Zeit schon vier Konzerte absolviert: Solch eine hohe Frequenz habe üblicherweise nicht einmal ich, sind Konzertbesprechungen in meinem Alltag doch eher die Kür, wo Plattenbesprechungen die Pflicht sind. Lasse Matthiessen aber, den ich gerade erst im Juli in Leipzig gehört hatte, ist es gelungen, mich – und eine sich unmittelbar vor Konzertbeginn im nahegelegenen Park in Kacke gewälzt habenden und dann notdürftig unter einem Hinterhofswasserhahn gereinigten, aber immer noch stinkenden Lina – zu seiner Show ins b-flat in die Rosenthaler Straße zu locken, was aber zugegebenermaßen nicht sonderlich schwer war, da mich der melancholische Poet vorher schon mit seiner Musik verführt hatte. Um die bzw. seine neue Platte Dead Man Waltz geht es dann auch in der aktuellen Ausgabe von Victoriah’s Music auf fairaudio.de.


Schöne Dinge kommen in schönen Briefen.

Verführen lassen können Sie sich aber auch direkt hier mit einem Live-Mitschnitt von Matthiessens Dead Man Waltz aus dem b-flat. Trotz des Lina-Debakels war es ein wunderschöner Abend!

Sie wollen den Singer/Songwriter auch live in Berlin sehen? Das ist kein Problem, wenn Sie noch etwas Geduld haben: Am 25. November spielt der sympathische Däne im Roten Salon.

Um sich von pupsenden Blasinstrumenten verwirren, von verjazztem Traditionsliedgut bezaubern und vom x-ten Nina-Simone-Tribut ärgern zu lassen, brauchen Sie allerdings keine Geduld, denn all das und mehr – wie etwa das Erreichen der nächst-höheren Chill-Ebene, die das Wohnzimmer, egal welchen Möbelstil man persönlich auch immer bevorzugt, plötzlich in einen Ort voller Rattanliegen, Seegraskörbe und weißer Hochflorteppiche verwandelt – erwartet Sie mit den neben Dead Man Waltz in Victoriah’s Music besprochenen sieben anderen Platten. Das sind diesmal

  • Esther Kaiser & Claus-Dieter Bandorf | Sternklar
  • Erika Stucky | Stucky Live (1985 – 2010)
  • Josete Ordoñez | Piedras y Rosas
  • Malia | Black Orchid
  • Sophie B. Hawkins | The Crossing
  • Chilly Gonzales | Solo Piano II
  • Various Artists | Electrospective. Electronic Music since 1958


Sophie B. Hawkins ist zurück und hat ein Cello im Gepäck

Lesen können Sie das Ganze wie immer hier auf fairaudio.de, Ihrem Lieblings-Online-HiFi-Magazin. (Nach-)Hören müssen Sie aber selber.
Viel Freude dabei und einen tollen Start in den meteorologischen Herbst wünscht
Ihr Klangverführer

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