28. Oktober 2016

Wolf Kerschek | Symphonic Jazz (Vol. 2) – My Polish Heart

Filed under: Allgemein — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 10:13

Mit klassischer Dreisätzigkeit hat das vierzehn Tracks umfassende Klavierkonzert wenig gemein – und auch sonst setzt Wolf Kerschek mit seinem für Pianist Vladyslav Sendecki geschriebenen My Polish Heart auf den ungewöhnlichen Dialog von improvisiertem Soloklavier und wandelbarer, da reaktiver Komposition, sodass das Werk recht eigentlich als Doppelkonzert für Klavier und Orchester zu begreifen ist.

Den Auftakt machen mit „Birth of Concsiousness“ behutsame orchestrale Dissonanzen, die Sendecki aufgreift und mal hier-, mal dorthin mäandernd weiterführt im kontinuierlichen Austausch mit einem Orchester, das ouvertürengleich eine bedrohliche Ahnung vorwegzunehmen zu scheint: Man wartet auf das erlösende Moment, ist gar gewillt, ein Ende mit Schrecken in Kauf zu nehmen, wenn sich nur die schier unerträgliche Spannung endlich löste! Das tut sie auf „First Memories“, das mit geerdetem Groove und folkloristischen Flötensprengseln zu einer Reise in offener Kutsche übers Land einlädt, bevor an einem prächtigen Hof halt gemacht wird, wo ein pompöses Fest, konterkariert von zartesten Klangmalereien Sendeckis, im Gange ist.

Vollends fort tragen die symphonischen Klanggewalten von „Landscapes“, auf denen die Hamburger Symphoniker ihr ganzes Potenzial entfalten, bis mit „Adolescence“ nachgerade funky Waberndes die New Yorker Columbia-Studios der Siebzigerjahre wieder auferstehen lässt, gekrönt von Frank Delles NDR Bigband-erprobtem Baritonsaxophon, während die Gitarre von Kerscheks Bruder Sven auf „Early Manhood“ für einen Hauch PsychRock sorgt. Der löst sich auf „Moving Ahead“, das den Dialog mit NDR Bigband-Trompeter Claus Stötter sucht und findet, in dicht orchestriertem Wohlgefallen auf.

Das ganze Drama der Ouvertüre spiegelt sich in „Spiritual Journey“ wider, die – nicht unähnlich der Doyna von den Klezmatics – die physikalischen Beschränkungen des Altsaxophons, hier bis zur Schmerzgrenze ausgelotet von Peter Bolte, zu verschieben trachtet. Auf „Love“ steht wieder Sendeckis filigranes Tastenspiel im Vordergrund, während die Philharmoniker soundtrackartige Soundscapes zaubern, bis die Klänge einer Sterntalermusik gleich fliegen. Stefan Lottermanns naturhornnaher Posaunenton beschwört auf „The Inner Voice“ eine Szene zwischen pastoraler Idylle und Regenwald herauf, ein Gong entführt ins Zen-Kloster, bevor der philharmonische Großsegler wieder in den heimischen Hafen von Polens Ostseeküste einläuft, wo mit „Rage“ schon die Freejazz-Strandkapelle wartet, die privat gern mal ein bisschen zu viel Zappa hört und sich jetzt dieser ganzen Gewaltig-, ja: Gewalttätigkeit entledigen muss. Erst die gedämpfte Trompete Reiner Winterschladens und allerlei Regenwaldgeräusch lassen auf „Transformation“ pure Schönheit blicken, die aus dem Chaos geboren wurde.

Mit „Reminiscence“ schwingen sich die Symphoniker in ungehörte Höhen empor, jubilieren, tirilieren, aufgefangen vom federleichten Pianospiel auf „Destiny“, das ebenso im Jazzclub über nervösem Off-Beat zu bestehen weiß wie vor dem aus vollem Rohr tönenden Symphonieorchester und einer auf „Free At Last“ endgültig explodierenden Bigband. Wenn das Symphonischer Jazz ist, bin ich ab sofort Fan.

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Wolf Kerschek | Games of Passion

Filed under: Allgemein — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 10:11

Ausgehend vom gleichnamigen ARD-Olympiasong ist mit Games of Passion ein ganzes Album unter dem Eindruck der Olympischen Spiele 2016 in Rio entstanden. Hier widmet sich Weltrekord-Dirigent & Echo-Preisträger Wolf Kerschek in bewährter Zusammenarbeit mit der NDR Bigband den populären Musikstilen des Olympia-Gastlandes. Mit an Bord: Latin-Diva Daniela Mercury, die sich gleich auf dem titelgebenden Opener eindrucksvoll vorstellt. Als überschäumende Fiesta Latinoamericana verbeugt sich das fanfarenstarke Titelstück mit seinen Mais que nada-Anklängen vor Brasil-Legende Sergio Mendes, während eine souveräne NDR Bigband mit akzentuierten Jazzclub-Rhythmen die Brücke nach Europa schlägt.

Symphonischer geht’s auf dem von der Berliner Popjazzhoffnung Marc Secara intonierten „Victory“ zu, einem Stück, welches das Pathos nicht scheut und jedem Boxer als Einmarschmusik gute Dienste leisten würde. Alle Gravität muss weichen, wenn die grandiose Mercury das Mikro auf „Paralympics“ wieder übernimmt, das an den Flirt eines Quincy Jones mit den Rhythmen aus dem Land der tausend Farben gemahnt. Fiete Felschs Ipanema-Flöte umspielt den Gesang von Ken Norris und dem kleinen Jesse Kerschek, die sich auf dem mit hochgradig eingängiger Melodie bezauberndem „Childhood Dreams“ ein Stelldichein geben, während sich Folarin Omishades Reibeisen-Vocals auf „Hope To My People“ mit jedem modernen NuSoul-Crooner messen lassen können ‒ noch dazu sie auf genretypisches Wehklagen zu verzichten, sondern vielmehr die Melancholie ob der verlassenen Heimat in die kämpferische Energie eines Südstaaten-Predigers zu transformieren wissen, kongenial in Rhythmen gefasst von Schlagwerker Kiko Freitas und einem direkt aus einem Baxploitation-Movie entsprungen scheinenden Bläsersatz.

Elegantes Kreuzfahrtflair verströmt die Bossa-Ballade „It Was Worth It“, die offenlässt, ob es sich hier um die Reminiszenzen eines nicht siegreichen Athleten handelt oder jene eines unglücklichen Liebhabers, der gewagt, aber nicht gewonnen hat. Kerschek ist hier eine Art Bossanova-Torch-Song gelungen, der die Chöre des Openers dezent wieder aufnimmt ‒ und damit auch die Idee eines untrennbar zusammenhängenden Albums. Dass die Verbindung von populären brasilianischen Rhythmen und Jazz gelingen kann, beweist „Fair Play“, während das fast formatradiotaugliche „The One To Outrun“ ob seiner nachgerade alpin wirkenden Tubaklänge auch den Zuspruch eines jazzungewohnten Publikums finden dürfte.

Nach dem verspielten „Forro“ mit Lutz Büchner an der Klarinette spielen sich auf „Speed Match“ die Bläser den Ball, vielmehr: das Motiv zu, bevor auch hier eine überbordende Spielfreude übernimmt, ohne die intimen Jazzclub-Wurzeln des Stücks zu verleugnen. Sowohl „Activities“ als auch das opulent Soundtrack-artige „Tears of Joy“, das mit gleich drei Vokalisten aufwartet, nehmen wieder das Chormotiv des Beginns auf, dessen getragenen Charakter die portugiesische Reprise von „Paralympics“ gleich wieder vergessen macht, ist hier doch Fiesta pur angesagt! Die Klammer dieses tausendfarbigen Albums, das seine Message wie nebenbei zu platzieren versteht, wird geschlossen von einem wohl schönsten Stück: dem Edelbossa „It Was Worth It“, der in seiner Muttersprache noch ein Quäntchen mehr unter die Haut geht als auf Englisch.

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