13. Mai 2019

All that Jazz oder: Sind so viele Möglichkeiten! Nachlese zum XJAZZ-Festival 2019

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Wenn in der schnelllebigen Berliner Szene – wo man nach dreijährigem Bestehen schon als etabliert gilt – ein Festival in sein sechstes Jahr geht, verdient es das Prädikat „nicht mehr aus dem Kulturkalender der Hauptstadt wegzudenken“. Wenn es sich dann auch noch um ein (wenngleich den Genrebegriff extrem weitfassendes) Jazzfestival handelt, muss neidlos konstatiert werden: Hier wurde alles richtig gemacht. Kein Wunder, dass die diesjährige Ausgabe des XJAZZ-Festivals ihren Vorjahresrekord von etwa 11.000 Besuchern mit ganzen 21.000 noch einmal toppen konnte. Das gilt auch für die Zahl der bespielten Venues, die sich traditionellerweise um den U-Bahnhof Schlesisches Tor im dem Festival seinen Namen gebenden Bezirk Kreuzberg gruppieren.

So etwa ist dieses Jahr das durch seine in der Hausbesetzerszene wurzelnde Geschichte berüchtigte, aber bislang eher nicht durch seine Affinität zum Jazz aufgefallene SO36, das laut Selbstverständnis Raumgeber für „harte Töne jenseits des Chartsmainstreams“ ist, neu als Spielstätte mit dabei, das mit der britischen Poetin Kate Tempest gleich für einen würdigen Festivalauftakt sorgte. Diesen prominenten Platz dürfte sich die Südlondonerin, die sich von mit dem genresprengenden XJAZZ-Konzept wenig Vertrauten nicht nur einmal fragen lassen musste, ob – und hier grüßt die ebenso viel zitierte wie negierte Jazzpolizei, die es eben doch gibt – das denn nun Jazz sei, wohl nicht zuletzt durch ihre jüngste Kollaboration mit Shabaka Hutchings‘ The Comet Is Coming gesichert haben. Genau wie dort besticht ihr auf der SO36-Bühne erstmals erprobtes, ab Juni erhältliches Book of Traps and Lessons durch diese unbedingte Dringlichkeit, für die man die Tempest einfach lieben muss. Sie versteht es, eine unmittelbaren Beziehung zu ihrem ergriffen lauschenden Publikum herzustellen, das von genau jenen Fragen umgetrieben wird, die Tempest stellt. Es geht um das ob Selfie-Wahn inszenierte statt gelebte Leben, um die einen beim morgendlichen Weckerklingeln beschleichende Ahnung, dass man einfach alles auch ganz anders hätte machen könnten und nicht zuletzt um lakonische Bekenntnisse in Sachen Liebe: You make me a microscope/you make me a map/some call it love/I call it a trap.

Selbst an jenen Stellen, wo die wortgewaltige Poetin ihre Reime ganz ohne musikalische Begleitung ins Mikrophon diktiert – denn von bloßem „sprechen“ kann hier keine Rede sein –, kann man im ausverkauften SO36 die sprichtwörtliche Stecknadel fallen hören. Die Gemeinde lauscht derart ergriffen, dass man recht eigentlich nicht von einem Konzert, sondern eher einer Art Gottesdienst mit Tempest als Hohenpriesterin sprechen muss. Dabei war der Auftitt von vornherein nicht unumstritten. Kann, ja: darf man die verehrte Künstlerin noch reinen Gewissens hören, seit sie ihre Unterschrift unter eine Petition der dem BDS verschwisterten Gruppe Artists for Palestine setzte, die britische Künstler 2015 dazu aufforderte, nicht in Israel aufzutreten? Man kann, denn der Rattenschwanz aus Boykott und Boykott des Boykotts kann hier die Lösung nicht sein. Tempests Bekenntnis zu AfP mag unsympathisch erscheinen, den Boykott ihres Werks kann aber nur jener Kleingeist anregen, der es nicht versteht, zwischen Künstler und Werk zu differenzieren. Anders sähe es aus, wenn die Künstlerin – übrigens selbst jüdischer Abstammung – in Leben oder Werk mit direkten antisemitischen Äußerungen aufgefallen wäre. Ist sie aber nicht, und mehr gibt es dazu dann auch nicht zu sagen.

Qualität statt Quantität

Wo sich am Mittwoch dank Kate Tempest die Frage, welchen Act man zur Festivaleröffnung sehen möchte, eindeutig beantworten lässt, stellt einen schon der Donnerstag vor nicht zu unterschätzende Entscheidungsschwierigkeiten. Der erste volle Festivaltag macht deutlich, dass ein Programm mit etwa siebzig Konzerten in vierzehn Venues nicht bedeutet, dass man bis Sonntag siebzig Konzerte in vierzehn Venues gesehen haben wird. Sinn und Zweck eines Festivals ist nicht die schiere Menge, sondern die geschickte Auswahl, denn natürlich laufen Konzerte parallel: Möchte ich den zum Jazzer gereiften Elektroniker Dominic Saloe aka Mocky sehen, muss ich sowohl auf den Londonder Drummer Yussef Dayes, der sich mittlerweile vom genialen 70s-Jazz-Funk-Avantgarde-Elektronik-Duo Yussef Kamaal emanzipiert und letztes Jahr mit einer Live-Session in den legendären Abbey-Road-Studios sein Solo-Debüt hingelegt hat, verzichten, als auch auf Mostly Other People Do The Killing-Trompeter Peter Evans, um nur einen weiteren zu nennen. Einzig zum schon um 18:00 Uhr spielenden Neunkopf-Kollektiv Wanubalé wäre es vorher zu schaffen, was auch gut ist, gelten die aus Berlin und Potsdam stammenden Musiker doch als deutsche Antwort auf Jazzfunkdubrockbands wie Snarky Puppy, Fat Freddy’s Drop, Hiatus Kaiyote oder Nubiyan Twist, wobei letztere am Samstag selbst im BiNuu zu hören sind.

Ein Must-See bzw. Must-Hear ist die am späten Donnerstagabend im Prince Charles gehostete Kryptox Labelnight. Die junge deutsche Plattenfirma für Neo-Jazz und Experimentelles präsentiert sich mit dem Londoner Flötisten Tenderlonious, Ralph Heidels Homo Ludens-Ensemble und dem Poets of Rhythm-Gitarristen JJ Whitefield, der sich für sein Krautjazz-Debüt der Unterstützung von Saxophonist Johannes Schleiermacher versichern konnte, der beim letzjährigen XJAZZ-Festival noch mit Shake Stew am Start war und dem aufgrund seines diesjährigen Auftrittes einmal mehr zu wünschen ist, dass sein Spiel endlich die ihm gebührende breite Aufmerksamkeit – und von mir aus auch den Titel des nächsten Shabaka Hutchings – bekommt. Klar ist aber auch, dass Besucher der Kryptox Labelnight die zeitgleich im Monarch bzw. der Emmauskirche stattfindenden Labelnights von We Jazz bzw. K7 verpassen. Man kann eben nicht alles haben. Gute Nachrichten gibt es jedoch für jene, die sich zwischen Mocky und Yussef Dayes nicht zu entscheiden vermochten – sie können Mocky (und im Anschluss eine der drei Labelnights) sehen, denn Dayes wird kurzerhand auf den Freitag verschoben. Das ist toll, stellt aber vor eine neue, schwere Entscheidung: Jene zwischen Dayes und Rymden, der neuen Band von Jazzland-Labelbetreiber Bugge Wesseltoft, dessen Vorstellung sich an dieser Stelle wohl erübrigt. Die Besucherschlangen vor beiden Konzerten sprechen jeweils für sich.

Wer wann wo

Noch ein weiteres Bäumchen-wechsel-dich-Spiel findet am Freitag statt, was die gedruckten Festivalguides endgültig zur Makulatur macht. Man muss schon auf die eigens entwickelte App setzen, um zu wissen, wer wann wo spielt – oder die freundlichen Menschen im XJAZZ-Truck, die einen dorthin zu schicken verstehen, wo die Musik spielt. So etwa erfährt man hier, dass sich der Showcase von Bobby-McFerrin-Tochter Madison, den man unbedingt sehen wollte, vom ursprünglich geplanten Freitag auf den Samstag verschoben hat, wo sie nun sowohl dem Omar Klein Trio, den Londoner Alternative Soulern Hejira, dem Lisa Bassenge Trio oder der wohl einmaligen Kollaboration von Simultansängerinbeatboxerin Sanni Loetzsch aka Kid Be Kid mit Lucia-Cadotsch-Saxophonist Otis Sandsjö Konkurrenz macht. Apropos Konkurrenz: Schon der freitägliche Konzertauftakt verlangt nach der Entscheidung, ob man mit dem schon mehrfach erlebten Urgestein Rolf Kühn auf Bewährtes setzt, sich das für seine ikonischen Neuinterpretationen (z.B. „Everybody Wants To Rule The World“) gefeierte US-Trio The Bad Plus oder lieber den Münchner Pianisten und Komponisten Marc Schmolling gibt.

Ich setze auf den 1929 geborenen Jazzklarinettisten, von dem ich schon bei der 2017er-Ausgabe von XJAZZ glaubte, ihn vielleicht zum letzten Mal live erleben zu können, doch weit gefehlt! Sein Yellow+Blue-Konzert im gut besuchten Lido, Kühns persönlichem Lieblingsclub in Berlin, lässt nicht vermuten, dass er so bald die Klarinette aus der Hand gibt. Und was für eine Band! Pianist Frank Chastenier macht selbst bei den in diesem Set rar gesäten Standards wie „Angel Eyes“ wohltuend klar, wo der Frosch die Locken hat, Bassistin Lisa Wulff – die später am Abend andernorts noch im Duo mit Clara Haberkamp zu hören sein wird – steht ihm in nichts nach, während der von Kühn als „Monster“ betitelte Schlagzeuger Tupac Mantilla mit einer Body Percussion-Einlage begeistert. Groß! Allein bei der Zugabe wird klar, wieviel Anstrengung die Konzerte dem fast Neunzigjährigen mittlerweile abverlangen dürften:

Weiter gehört mein noch junger Freitagabend der in Berlin ansässigen israelischen Nu-Soul-Sängerin J. Lamotta, die im Privatclub den Release ihres neuen Albums Suzume feiert, mich aber auf dem Papier weitaus mehr zu begeistern wusste als während des Auftritts. Vor zwanzig Jahren hätte mich diese Musik geflasht, mittlerweile scheine ich nicht mehr zur Zielgruppe zu gehören. Mein Herz schlägt aktuell für den London Sound der Stunde, zu denen tief im Jazz schürfende Beatmaker wie Alfa Mist gehören, vor allem aber auch Kamaal Williams mit seinem verstimmt wabernden Acid Jazz, der sich über flüsternde tsk-tsk-Beats schraubt und ferner mit blubbernden Basstupfern, Perlendem, Glockendem, Rockigens, aber auch D&B-Grooves und Streichern, kurz: ganz viel feinem Frickelkram zum Genauhinhören aufwartet, der seine Mittel vom Electro, seine Haltung vom Jazz, sein Herz aber vom Soul bezieht. Und natürlich Yussel Dayes, der mit Letztgenanntem im mithin legendär gewordenen Duo Yussef Kamaal die Percussions rührte, mittlerweile aber als Schlagzeuger auf Solopfaden unterwegs ist. Mit Unterstützung des Sun Ra Arkestra-geschulten Synthie-Schraubers Charlie Stacey und Adele-Bassist Tom Driessler bietet er im ebenfalls im Rahmen von XJAZZ erstmals bespielten Festsaal Kreuzberg eine avantgardistische, dabei trotzdem enorm leichtfüßige, um nicht zu sagen: traumverlorene Interpreation von NuJazz, die bei anderen Genreheroen oftmals seltsam bemüht klingt. Es ist ein tolles Konzert, auch wenn durch seine etwa einstündige Verzögerung Arnold Kasar nun leider ungehört bleiben muss. Stattdessen höre ich bei Rosemarine rein, einem von vielen jungen Musikern der Stadt hochgepriesenen Trio, das zur Mitternacht im Privatclub den Release seinen Debütalbums zelebriert.

Erschöpft falle ich ins Bett. Die menschliche Aufnahmefähigkeit für Musik ist, wie ich erst neulich wieder während der jazzahead! feststellen musste, nun einmal begrenzt. Deshalb gibt es für mich am Samstag nur ein Konzert, das allerdings hochspannend zu werden verspricht, vereinen sich hier doch erstmalig zwei meiner Lieblingsmusiker aus völlig verschiedenen Genres zum Duo. Gepaart mit einem voreilenden Drei-Gänge-Menü im Markthallenrestaurant der auch als „Eisenbahnmarkthalle“ bekannten Markthalle IX, wird das Konzert im Austerclub unter dem Motto „Jazz & Dine“ als bequemes Package für EUR 39,20 angeboten, das sich einigen Zuspruchs bei all jenen erfreut, die ihre Spätzwanziger hinter sich gelassen haben. Natürlich ist aber auch der alleinige Konzertbesuch möglich, um die studierte Jazzsängerin und Produzentin Sanni Loetzsch aka Loop Motor aka Kid Be Kid zu hören, die letztes Jahr unter dem Motto „drei Musikerinnen in einer“ inklusive konsequentem Verzicht auf Overdubs, Loops oder Prerecordings ihr NuSoul-Debüt Sold Out vorgelegt hat, auf dem sie sich als Sängerin, Beatboxerin und Pianistin zeigt, und das, anatomische Unmöglichkeit hin wie her, simultan. Das allein ist den Konzertbesuch wert und wird nur durch den Umstand getoppt, dass Loetzsch den schwedischen Saxophonisten Otis Sandsjö als Gast eingeladen hat, dessen speziellen, um allerlei Ventikgeklapper angereicherten Ton ich zunächst bei Lucia Cadotschs Speak Low, dann auf seinem eigenen Projekt Y-Otis kennen- und liebengelernt habe und den ich neben Johannes Schleiermacher und „Lotuseater“ Wanja Slavin aktuell glatt als meinen Lieblingssaxophonisten bezeichnen würde. Nicht ohne Grund gilt mir dieser Abend als persönliches Highlight von XJAZZ 2019.

Klangsatt oder: Wissen, wann genug ist

Dabei ist das gesamte diesjährige Festival nicht eben als arm an Highlights zu bezeichnen. Vielmehr sind es so viele, dass man nicht weiß, wo man mit der Aufzählung beginnen soll. Wer das Glück – oder mit EUR 159,- die finanziellen Mittel – hat, einen Festivalpass sein eigen zu nennen, könnte aufgrund dieses Füllhorns an Musik versucht sein, der Unsitte anheimzufallen, in so viele Konzerte wie nur möglich eben mal für zehn oder fünfzehn Minuten hineinzuhören. Die in fußläufiger Nähe zueinander liegenden Spielstätten machen’s möglich. Aber genau wie bei einem Album, das auch nicht dazu gedacht ist, einzelne Stücke zu überspringen, sondern (zumindest im Idealfall) aufgrund einer ausgeklügelten Dramaturgie auf einer ganz eigenen Spannungskurve fußt, ergo eine untrennbare Einheit bildet, hat der Künstler auch für sein Konzert eine aufeinander aufbauene Abfolge seiner Stücke erdacht, die dem Abend eine bestimmte Richtung, einen bestimmten Schwerpunkt verleihen. Ebensowenig wie ein Album sollte ein Konzert eine zufällige Reihung an Songs sein, in die man an beliebiger Stelle hineinzappen und sie an ebenso beliebiger Stelle wieder verlassen kann. Also, man kann schon. Bringt sich aber selbst um einen nicht ganz unbedeutenden Teil des Musikgenusses. Zu wissen, wann man klanggesättigt genug ist, gehört zur durchaus erlernbaren Kunst des Festivalbesuchs.

Wer am späten Samstagabend noch genug Energie hat, kann noch Erol Sarp & Robert Lippok in der Emmauskirche oder das Ishmael Ensemble im Privatclub hören, sich gar der mitternächtlichen Global Dance Kulture im Fluxbau hingeben. Ich für meinen Teil gehe nach Hause, denn am Sonntag wartet die mittlerweile zur guten XJAZZ-Tradition gehörende Fahrt mit dem Blue Boat auf mich. Mangels Hangover wähle ich nicht den als „Hangover Jam“ beworbenen Cruise Nummer 1, wo sich Sebastian Studnitzky himself, seines Zeichens künstlerischer Leiter des Festivals, mit einer Handvoll Friends die Ehre gibt, sondern setze auf Cruise Nummer 2, den XJAZZ Label Launch. Hier werden mit dem aus dem JIB hervorgegangenen Quartett Die Therapie, Roman Schulers RSxT mit seiner „Contemporary Groove Music“ und Hardylackner, dem Duo-Projekt des amerikanisch-deutschen Pianisten Benny Lackner mit dem Berliner Schlagzeuger Rainer Winch, die ersten drei Signings des brandneuen XJAZZ music labels vorgestellt – für Erst- und Letztgenannte ist es sogar ihr Debüt. Ein Kreis schließt sich, denn immerhin wurde das Festival ursprünglich von den Betreibern des Labels Contemplate gegründet, um den hauseigenen Künstlern eine Bühne zu bieten. Was als Festival zum Label begann, ist mittlerweile derart gewachsen, dass es nun folgerichtig das Label zum Festival gibt.

Ich runde meinen Besuch mit einem Abstecher zum Rahmenprogramm ab, wurde mir doch das schwedisch-deutsche Duo Mattimatti ans Herz gelegt, das mit psychedelischen Stücken von pinkfloydscher Länge, in deren Zentrum der mystische Klang des Hang steht, ein sanftes Übergleiten von fünf Tagen Festivalwahnsinn in den Alltag erleichtert. Ohnehin die Nebenkriegsschauplätze! Da entstehen Dinge wie das neue Album vom Melt Trio mit Jan Bang, das während des Festivals live aufgenommen wurde und am 14. Juni seinen Release feiert. XJAZZ 2019 wird noch lange Schatten werfen. Wer jetzt noch Kraft hat, kann sich die Abschlusskonzerte auf der Schatzinsel oder das allerletzte Konzert des Sonntagabens, gespielt von DJ Acid Pauli und Vibraphonist Ivar Refseth in der Emmauskirche, anhören. Ich habe keine mehr, bin klangerfüllt bis in die Haarspitzen, freue mich aber dennoch schon auf den Mai 2020, wenn das XJAZZ-Festival zum mittlerweile siebten Mal seine stiloffenen Pforten öffnen wird.

5. Mai 2019

Dorthin, wo Jazz ist. Nachlese zur Jazzahead 2019

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Letzen Sonntag schloss die vierzehnte Jazzahead in Bremen ihre Pforten.
In den Tagen danach fühlten sich die Besucher des weltweit größten Jazz-Branchentreffs körperlich wie emotional ausgelaugt, nicht wenige sind krank. Die Postings von heilender Hühnersuppe und Ingwertee auf den einschlägigen Social-Media-Profilen jedenfalls steigen überproportional an, die wohl meistgestellte Frage in den Chats ist: „Hast du dich schon wieder regeneriert?“

Weshalb also setzt man sich diesen vier Tagen im Ausnahmezustand, der sich anfühlt als vollzöge er sich in einer Parallelwelt jenseits des normalen Zeit-Raum-Kontinuums, jedes Jahr aufs Neue aus, noch dazu freiwillig? Der norwegische Schriftsteller Lars Saabye Christensen, Keynotespeaker der diesjährigen Opening Ceremony, bringt es auf den Punkt: „Jazz is a different place and that is where we have to go.“ Wir müssen es tun. Wir können nicht anders.

Norwegian Lounge

Neben Saabye Christensen bestreiten zwei weitere Künstler des diesjährigen Partnerlandes Norwegen – das schon auf der Berlinale 2019 zum Schwerpunktland auserkoren war – die Eröffnungszeremonie: Sängerin Karin Krog und der sie an Sopran- wie Baritonsaxophon begleitende John Surman. Mit seinem Kurzauftritt gibt das Duo gleichzeitig einen Ausblick auf die traditionell am Donnerstagabend anstehende Konzertnacht des Partnerlandes: Acht sowohl stilistisch wie qualitativ höchst heterogene Acts bestreiten die Norwegian Night, darunter der Jazzsaxophonist und Ziegenhornbläser Karl Seglem, dessen balsamische Klänge in Zeiten überreizten Gemüts zwar mit schönster Regelmäßigkeit durch meine Boxen kriechen, den ich bislang jedoch noch nie live erlebt habe. Zeit für mein erstes Konzert der Jazzahead, das im benachbarten Schlachthof stattfindet, dessen blutige Vergangenheit glücklicherweise nicht mehr zu erahnen ist. Mit siebenköpfigem Ensemble – darunter gleich zwei Hardangerfiedeln, die ob ihres dank einer acht Wirbel fassenden Schnecke mit einem extrem kurzen Hals aufwarten und immer ein bisschen klingen wie die bucklige Verwandtschaft der Bratsche – beschwört Seglem die der norwegischen Folklore inhärenten Naturtöne vor einem aufmerksam lauschenden Schlachthofpublikum herauf.

Wie immer ist die Zeit viel zu kurz, den Klängen angemessen nachzuspüren – bis weit nach Mitternacht geben sich die verschiebenen Formationen die Klinke, pardon: das Mikro in die Hand. Nicht zuletzt sorgte der harmlos als Partner Country Reception benamste Empfang für einen zwar angenehmen, aber auch nicht zwingend für seine wachhaltenden Eigenschaften verrufenen Alkoholpegel. Gut, dass das European Jazz Meeting am Folgetag erst um vierzehn Uhr beginnt, was nicht nur dafür sorgt, dass man ausschlafen, sondern auch den ersten Meet&Greet-Marathon des Tages absolvieren oder sich das umfangreiche, auch als Professional Program bekannte Konferenzprogramm mit Highlights wie „A Wealth of Music Content, But What’s It Worth?“ zu Gemüte führen kann. In meinem Falle schaue ich nicht nur bei der Müsteraner Enklave der Jazzthetik-Redaktion vorbei, die ich ohne Jazzahead wohl nie treffen würde, sondern richte ich mich auch im sogenannten „Press Office“ häuslich ein, wo ich im Halbstundentakt jene Musiker treffe, mit denen ich mich im Vorfeld verabredet habe. Die Pressereferentin sieht sich das Bäumchen-wechsel-dich-Spiel eine Zeitlang an, bevor sie nur halb im Scherz bemerkt: „Sie lassen hier aber auch einfach kommen, oder?“. Aber warum auch nicht, wo das Press Office doch nicht nur Lebensnotwendigkeiten wie schwarzen Kaffee und Laserdrucker bietet, sondern auch einen ruhigen Platz jenseits der wogenden Menschenmassen und – dieses Jahr neu – eine wechselnde, warme, überaus schmackhafte Tagessuppe mit rauen Mengen an Brot und Butter. Nicht zuletzt die eingeladenen Musiker, jung und hungrig, wissen diese Annehmlichkeiten zu schätzen.

Hannah Köpf

Ich treffe Hannah Köpf, die ich in der aktuellen Ausgabe des Jazzthetik Magazins portraitiert habe; außerdem Gadi Stern und Matan Assayag vom israelischen Jazzrocktrio Shalosh, die mir für die kommende Ausgabe Rede und Antwort stehen. Zwischendurch reicht die Zeit für Gespäche unter Kollegen: Es gibt ein Wiedersehen mit Klaus von Seckendorff und ein erstes Kennenlernen mit einem weiteren großen Mann des Jazzjournalismus, Hans Hielscher. Obgleich er wie ich zurzeit eine Kolumne in der Jazzthetik bestückt, sind wir uns bislang noch nie über den Weg gelaufen, stoßen dafür aber gleich auf interessante biografische Gemeinsamkeiten wie etwa die Straße, in der ich jetzt und Hielscher vor langer Zeit wohnte. Endlich lerne ich auch den Hamburger Jazzschreiber Jan Paersch kennen, mit dem ich zwar das Programm des diesjährigen Elbjazz-Festivals betextet, den ich aber ebenfalls noch nie von Angresicht zu Angesicht gesehen habe. Jazzahead machts möglich. Es ist eben nicht nur ein Branchen-, sondern auch so etwas wie ein Familientreffen, und spätestens ab dem zweiten Besuch der Messe gehört man wie selbstverständlich dazu.

Der grüne Pfeil, Symbol der Jazzahead, hier als Deckenmobile in der BoConcept Lounge

Neben dem European Jazz Meeting, das so unterschiedliche Acts wie die Flat Earth Society, das Adam Bałdych Quartet oder MDCIII auffährt, steht am Freitag auch das Galakonzert an, welches jeweils zwei Acts des Partnerlandes auf die Bühne des im Art-Déco-Stil erbauten Konzerthauses Die Glocke bringt. Dieses Jahr ist die Wahl auf das Quintett des Trompeters Mathias Eick gefallen, das mit Håkon Aase einen wunderbaren Geiger an Bord hat, im Allgemeinen aber einen allzu elegischen Klang zelebriert, der die Grenze zur Langeweile mehr als einmal von der falschen Seite touchiert und nur noch vom zweiten Teil des Galakonzerts mit Trail of Souls feat. Solveig Slettahjell und Knut Reiersrud getoppt wird. Man kann sich des Eindrucks nicht gänzlich erwehren, dass hier jene Spielart des nordisch-mystischen Jazz zum Besten gegeben wird, die sich das deutsche Publikum am liebsten vorstellt: Hach, diese Weite! Oh, diese Wälder! Und sieh nur, die niedlichen Trolle!

Es ist verständlich, dass sich das Galakonzert vor allem auch ans lokale Bildungsbürgertum wendet und die – diesmal übrigens nicht vollständig ausverkaufte – Glocke ihre Ränge füllen muss. In Anbetracht der Tatsache, dass ich hier aber auch schon dank Künstlern wie Avishai Cohen 2013 bei meiner allerersten Jazzahead oder 2016 Nik Bärtsch und Hildegard lernt fliegen rauschende Abende erlebt habe, muss die Frage nach einer zukünftigen Perspektive des Galakonzerts jenseits der Komfortzone, sprich: einem mutigeren Booking erlaubt sein.

Ichiro Onoe

Der Samstag dagegen verspricht, spannend zu werden. Ich treffe den als „Japan’s answer to Paul Motian“ geltenden, in Paris lebenden Schlagzeuger Ichiro Onoe, der mit seinem Quartett traditionelle japanische Musik und Modern Jazz verbindet, indem er zwei klassische japanische Instrumente – die aus siebzehn kurzen Bambuspfeifen bestehende Mundorgel Shō und die Doppelrohrblattflöte Hichiriki – durch Tenorsaxophon und Klavier ersetzt; den swinginspirierten israelischen Pianisten Arik Strauss, der mit seinem Umzug nach Deutschland, dem Land seiner Vorväter, einen Lebenskreis geschlossen und darüber das Album „Closing The Circle“ gemacht hat; den Kölner Schlagzeuger Jo Beyer, dessen brandneues, noch labelloses Album „Party“ mit sperrig-schönen Songtiteln wie „Zwischen Bier in Poll und 37 Grad im Schatten“ oder „Halloween ist doof“ aufwartet; und den Berliner Komponisten und Arrangeur Ruben Giannotti, der gerade mit seinem im Spannungsfeld zwischen NeoSoul, Elektronika und retroeskem Bigbandkrimisoundtrack angesiedelten Large-Ensemble-Projekt aus dem Studio gekommen ist. Wie gut, dass das Press-Office – zweite Neuerung in diesem Jahr – statt um 18:00 erst um 19:30 Uhr schließt!

Komponist Ruben Giannotti spielt am Stand von Chess’n’Jazz um Bier

Und dann widme ich mich ganz der Musik, denn schließlich ist doch sie der hauptsächliche Grund, hier zu sein. Wo sonst lässt sich‘s innerhalb von nur dreieinhalb Tagen aus gut einhundert Konzerten auswählen? Auswahl ist das Stichwort der Stunde, denn Konzerte laufen zum einen parallel, zum anderen scheint der menschliche Geist eine begrenzte Kapazität für die Aufnahme von Musik zu haben. Ist diese erreicht, geht gar nichts mehr. Jazzahead heißt eben auch: Too much Jazz in my Head. Erst einmal aber höre ich im Rahmen der German Jazz Expo Simin Tanders Hochmittelalter- und Renaissance-Adaptionen, die kongenial von Jörg Brinkmann, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob er mir nicht noch besser gefallen soll als Tander selbst, am Cello begleitet werden: Eine höchst sinnliche Vokalistin, die fühlt, was sie singt – und dieses Gefühl weiterzugeben weiß. Das komplette Kontrastprogramm liefern Botticelli Baby, die den Schlachthof mit wildem Balkan-Gipsy-Swing-Funkabilly und Punkattitüde aufmischen. Was soll ich sagen, ich mag dieses nordrhein-westfälische Septett, dessen Sänger (und gleichzeitig Kontrabassist) Marlon Bösherz sich nicht zu entscheiden vermag, ob er nun James Brown in Blue oder lakonischer Shouter sein will. Toll!

Dann geht es auch schon weiter mit der berühmt-berüchtigten Clubnacht, deren Auftakt niemand Geringreres als Beady Belle auf dem Domshof macht. Umsonst und draußen – eine weitere Neuerung des um die Messe herumgestrickten Festivalprogramms vor historischer Kulisse. Wieder toll! Ganz zu Ende sehen kann ich den Auftritt der norwegischen NuJazzer allerdings nicht, wartet doch die Jazzahead-Straßenbahn schon, um die Teilnehmer der VIP Partybahn Tour – einer Art geführten Clubnacht – für den Auftritt von Johanna Borchert in der Kulturkirche St. Stephani einzusammeln. Untermalt vom finnischen Elektroniker Mika Forsling entspinnt diese nicht nur allerlei avantgardistisches Geräusch am präparierten Flügel, sondern auch zauberhafte Lyrics zwischen dringlicher Spoken Word-Performance und zerbrechlicher Dubstep-Ballade.

Hier endet für mich die Führung, denn ich muss dringend ein Taxi in den Bremer Norden erwischen, um Susanna Wallumrød im fernab der Messe gelegenen Kränholm zu hören – immerhin hat sie als Susanna & The Brotherhood of Our Lady mit dem vertonten Hieronymos-Bosch-Gemäldezyklus „Garden of Earthly Delights“ jetzt schon eines meiner Lieblingsalben des Jahres gemacht. Wie bei allen meinen bisherigen Fahrten in den Bremer Norden, wo ich etwa letztes Jahr Noam Vazana im KITO ihre sephardischen Lullabys singen hörte, werde ich auch diesmal nicht enttäuscht. Wallumrød spielt in der intimen Location nicht nur die vor Todsünden triefenden Bosch-Stücke, sondern auch ihre ganz persönlichen Interpretationen von auf der Nachtseite der Musik beheimateten Lieblingssongs wie Leonard Cohens „Who By The Fire“ oder Joy Divisions „Love Will Tear Us Apart“. Ein stilles, ein schönes Messehighlight, nicht trotz, sondern gerade auch wegen des weiten Weges, der zum Nachklingenlassen geeigneter nicht sein könnte. Die Overseas Night, die in Konkurrenz zur Clubnacht noch bis 1:40 Uhr läuft, lasse ich leichten Herzens links liegen und falle beseelt in mein Hotelbett. Jazzahead macht eben nicht nur fertig, sondern auch in höchstem Maße glücklich.

Die Bildqualität des folgenden Videos bitte ich zu entschuldigen. Es wäre aber ein Fehler, das Stück deshalb nicht anzuhören:

Der Sonntag, sonst lediglich für Ausstellerfrühstück, hastiges Abbauen und letzte Verabschiedungen reserviert, bietet eine weitere Neuerung: Gleich nach dem Business Lunch im Schlachthof, bei dem es für mich ein Wiedersehen mit dem letztjährigen Geheimtipp Noam Vazana gibt, steht für das Abschiedskonzert Nordic At Noon das fünfzehnköpfige, mit doppelter Rhythmusgruppe und Elektronik besetzte Paar-Nilssen-Love Ensebmle auf dem Programm, dessen ebenso mann- wie lautstarke Freejazzklänge die Besucher nach drei Nächten des Schlafmangels mitten in die Magengrube treffen, nicht jedoch ohne den einen oder anderen Moment voll stiller Schönheit im Auge des Sturms zu bieten. Auf die Verkündung des Partnerlandes beim traditionellen Goodbye Breakfast hingegen warten wir vergeblich: Da die Jazzahead im kommenden Jahr ihr fünfzehnjähriges Bestehen feiert, hat man sich zum Jubiläum etwas Besonderes einfallen lassen, das erst in den nächsten Tagen enthüllt wird.

Fest hingegen steht schon jetzt, dass die Jazzahead 2019 mit 3.408 (2018: 3.282) Fachteilnehmern aus 64 Nationen und rund 18.000 Besuchern (2018: 17.362) erneut gewachsen ist. Dabei gibt es die Jazzahead genauso wenig wie den Jazz. Jeder erlebt seine eigene Messe. Dies war meine. Es gibt noch 3.407 andere.

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