30. Dezember 2019

Sitzkonzerte für den Sessel oder: „Wo die STÜBAphilharmonie noch um halb zwölf Geigen einspielt, hätten die Babelsberger schon längst Feierabend gemacht!“

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Genau wie Tobias Preisig traf ich auch Pat Appleton und Pit Baumgartner vom sich zwischenzeitlich ohne Bindestrich schreibenden Heidelberger Klangkollektiv De-Phazz vor sieben Jahren zum ersten Mal zum Interview und begleite die Band seither Platte für Platte. Disclaimer: Für ihr Triple-A-Doppelvinyl „Garage Pompeuse – The Berlin Session“ habe ich die Liner Notes gemacht.

Nun also De-Phazz mit der STÜBAphilharmonie. Lounge goes Klassik. Natürlich nicht ohne Spacecakebreak on the Titiicaca lake, um den die „Lounge-Punks“ ebenso wenig herumkommen wie die Stones um „Satisfaction“. Subversive Texte wie diese, eingebettet in wohlfühlige, um nicht zu sagen: -gefällige Easy-Listening-Klänge, wissen vor allem die Fans aus dem ehemaligen Ostblock zu goutieren, wo vieles auch nur verbrämt gesagt werden durfte.

Warum sich De-Phazz mit dem Begriff „erwachsen“ trotz gut zwanzig Jahren im Geschäft schwertun, weshalb sie sich als „eigentlich eine Wende-Band“ bezeichnen und was das alles mit dem Russenschwarzmarkt zu tun hat, steht hier. Anlass für das Gespräch mit De-Phazz-Erfinder Pit Baumgartner und -Sängerin Pat Appleton war ein Doppelseiter in der Januar/Februar-Ausgabe des Jazzthetik-Magazins, die druckfrisch an den besser sortierten Kiosken ausliegt.

Die De-Phazz’schen Luxus-Remixe in der Januar/Februar-Ausgabe des Jazzthetik-Magazins

Noch bevor ich dazu komme, meine erste Frage zu stellen, übernimmt Pit Baumgartner das Kommando: Du bist doch die Erfinderin des Begriffs „Lounge-Punks“!

Victoriah Szirmai: Dieser Begriff wird mir zwar immer zugeschrieben, aber tatsächlich hab ich ihn nicht erfunden, sondern damals auch irgendwo abgeschrieben. Nur, seitdem kursiert tatsächlich im Netz, dass ich das erfunden hätte.

Pat Appleton (lacht): Hihi, genau.

Pit: Aber das ist doch schön, oder? Das erinnert auch an die Frage an Beethoven, warum er immer von Haydn abschreibe, woraufhin er meinte: Von wem denn sonst?!

VSz: Aha! Leider kenne ich ja den Urheber des Begriffs nicht, deshalb kann ich nicht mit „Von wem denn sonst?“ antworten.

Pit: Aber es ist so eine alte Tradition, hier bei uns.

VSz: Und das führt mich auch zu meiner ersten Frage, denn mit diesem Album kann man ja überhaupt nicht mehr von „Lounge-Punks“ sprechen. Wollt ihr damit das Image als „Lounge-Punks“ hinter euch lassen und nach mehr als zwanzigjähriger Bandgeschichte erwachsen werden? Immerhin ist es euer 15. Studioalbum!

Pat: Du hast das Album noch nicht gehört, deswegen weißt du noch nicht, wie … (bricht in einen Lachanfall aus) Oder hast du’s schon gehört?

VSz: Ich? Natürlich hab ich’s gehört!

Pat: Ah, siehste, da haste mir ein bisschen was voraus!

VSz: Und ich hab es sogar schon rezensiert.

Pat: Oh!

Pit: Ja, ich muss gestehen, mir gefiel der Begriff „Lounge-Punks“ irgendwie sehr, weil er trifft eine Seite von mir, denn ich bin ja The Clash-Fan und so weiter, deswegen kann ich damit was anfangen! Aber du hast recht, das vorliegende Album hat sich … nun ja … ein bisschen davon entfernt, aber man darf uns halt nicht aus den Augen lassen! Es hat sich unheimlich schnell ergeben, muss ich gestehen, Anfang des Jahres war das noch gar kein Thema. Da waren Konzerte anberaumt mit dem Orchester, aber keine Aufnahme. Und es hat sich so ergeben, in einem schwachen Moment sagt man dann mal ja – und der Sommer ist vorbei. (lacht) Das heißt, ich war seit Juli sechs Wochen im Studio und hab das gemischt. Für mich natürlich als Produzent eine wunderbare Erfahrung, sehr anstrengend, aber lehrreich: Also, ich weiß auch jetzt, wie man ein Orchester stimmt und wie die Kollegen sitzen und so weiter, also, man lernt doch nie aus. Was die Musik betrifft, muss ich gestehen, da sollen andere sich den Kopf zerbrechen. Ich hab diese Gelegenheit wirklich äußerst gerne wahrgenommen und hab auch natürlich meine drei, vier Lieblingssongs, aber ich musste das erstmal auch Dinge in fremde Hände geben. Das war auch so’ne Übung …

Pat: Die Arrangements, halt.

Pit: Zum Beispiel die Arrangements.

VSz: Du sagst, das Ganze ist erst aus einem Live-Projekt entstanden und nachträglich auf Platte gebannt worden. Wie ist es denn überhaupt zur Zusammenarbeit mit dem Erfurter Sinfonieorchester STÜBAphilharmonie gekommen, wie ist diese Idee entstanden, euer Repertoire in ein klassisches Gewand zu hüllen?

Pit: Also der Dirk, unser neuerlicher Manager seit Kurzem, ja doch, seit zwei Jahren, der ist in Berlin umtriebig und er hatte halt diesen Kontakt. Er kannte die von einer anderen Künstlerin, mit der sie vorher ein Projekt gemacht haben …

Pat: Alin Coen.

Pit: … Danke Pat, weil ich tatsächlich ein sehr schlechtes Namensgedächtnis habe!

Pat: Dafür bin ich ja da!

(alle lachen)

Pit: … und ganz vorher noch mit Clueso, den hab ich mir gemerkt! Weil: Der fiel mir selbst auch schon auf. Und da hab ich mir das mal angehört. Äh, ich muss gestehen: Ich bin jetzt nicht der klassische Komponist vor dem Herrn, und so eine Gelegenheit – meine bescheidenen Kompositionen oder auch unsere Texte – in so einem Rahmen zu hören und zu verwirklichen, da musste ich sofort zusagen! Da gab es dann überhaupt kein Überlegen, obwohl es dann doch viel Zeit in Anspruch nimmt und auch die Kollegen, die dann denken, was machen wir jetzt? Klassik? Und um unser Publikum kümmern und Konzerte spielen … aber für mich ist es natürlich immer eine Herausforderung, sowas zu machen. Wir haben ja auch schon Bigband gemacht, und um jetzt mal den Zeitaspekt zu betonen, wir arbeiten auch gerade an einer Kinderplatte …

VSz: Diese Sache mit der HR-Bigband, das war ja 2006, da hattet ihr mit denen ein Live-Album aufgenommen, aber ein Sinfonieorchester ist dann ja nochmal was ganz anderes. Lounge und Klassik – wie passt das zusammen?

Pit: Also, wenn du jetzt zum Beispiel … puh …

Pat: „No Jive“!

Pit: Ja, „No Jive“, aber auch … Komisch, in jedem Stück findet sich was … Ein Pariser Kollege, der mit uns mit Videos zusammenarbeitet, meinte: Das könnten eigentlich die Ursprungsversionen gewesen sein und die anderen Sachen sind Remixe.

VSz: Das ist schön!

Pit: Fand ich eine interessante Ansichtsweise. Weil, du findest in jedem Stück diese unheimlich cheesy Geigen oder sowas. Und da find ich, da gibt es Berührungspunkte.

VSz: Stimmt, das klingt manchmal sogar so wie so’n Disneyfilm-Soundtrack, mit den Geigen …

Pit: Das sind einfach Deluxe-Remixe, sagen wir es mal so! Deluxe-Remix, weil: Du kannst sowas eigentlich nicht bezahlen. Wenn du sowas buchen möchtest, würde das unsere wirtschaftlichen Kapazitäten empfindlich überschreiten. Aber in dem Kontext mit diesen … sag ich mal: unheimlich motivierten jungen Menschen, die natürlich alle Musiker sind, aber halt nicht im Orchester arbeiten, weil da auf zwei Posaunenstellen hundert Bewerber kommen, die sind nichtsdestoschlechter oder untalentierter. Die haben unheimlich viel Motivation! Wo die noch um halb zwölf Geigen eingespielt haben, hätten die Babelsberger schon längst Feierabend gemacht.

VSz: Hinter den Babelsbergern steht vermutlich auch eine Art Gewerkschaft, und hinter der STÜBA nicht.

Pit: Eben. Ich will den Kollegen da jetzt nicht an den Karren fahren, ich hab früher auch für das ZDF gearbeitet, da geht’s … um vier ist da Tuck! Und wir sind halt gewohnt so zu arbeiten: Wenn’s fertig ist, hören wir auf. Aber gut.

VSz: Genau. Das läuft bei mir hier nicht anders. Wie hieß der Kollege nochmal, der gesagt hat, für ihn sind eigentlich die Orchester-Versionen die Originale und die Originale die Remixe?

Pit: Unser Freund Basil Cremer aus Paris!

VSz: Basil Cremer … schreib ich den mit K oder mit C?

Pat: Mit C wie Bruno! Bruno Cremer. Basil ist der Enkel von ihm.

Kurz vor dem Auftritt im Volkshaus Jena: Wiedersehen mit Pit Baumgartner und Pat Appleton. Foto: Karl Frierson

VSz: Das Programm der CD steht ja unter dem Motto „Lounge goes Classic“ – oder zumindest wird es in der Pressemitteilung so angekündigt. Die Arrangements allerdings wurden von verschiedenen Personen aus beiden Genres gemacht – du hast ja vorhin auch gesagt, dass du sie erstmals aus den Händen gegeben hast, unter anderem in die von Joo Kraus. Wie ist es denn zu dieser kunterbunten Aufteilung der Arrangements gekommen?

Pit: Wenn ich vorher noch kurz ergänzen darf, ohne mich da jetzt andauernd frei zu machen: Wir haben verschiedene Listen zusammengetragen, die Kollegen hier, die Pat, oder Karl, welche Stücke denn in Frage kämen, und dann sollten es sich die Arrangeure selbst aussuchen, denn ich wollte da niemandem irgendwas aufdrängen. Und die haben sich dann ihre Lieblingsstücke ausgeguckt und haben sie dann auch arrangiert. Ich hab noch mal kurz drübergeguckt, ob was dabei ist, was vielleicht kritisch ist bezüglich der Rechtevergabe und so, da war aber alles okay, und dann sind die losmarschiert! Und ich war selbst überrascht, als man … beziehungsweise, ich konnte mir erst überhaupt nichts vorstellen, sondern war überrascht, als dann langsam die Demos reinkamen und dachte, na, schaun mer mal! Du musst wissen, ich bin … Ich hatte in Englisch eine Fünf und verdiene mein Geld mit englischen Texten; ich kann keine Noten lesen und verdiene mein Geld mit Musik. Ich bin da Zaungast gewesen, erstmal als Zuschauer oder Zuhörer.

VSz: Apropos englische Texte: Wem von euch beiden verdanken wir eigentlich die legendäre Zeile vom Spacecake break on the Titicaca lake?

Pit: Die Dame sitzt da gegenüber. Ich glaub, sie war damals mit ihrem Verflossenen in Südamerika unterwegs.

Pat: Genau. Und ich hatte schon so die Idee des Space Cake Picknick, weil: Ich war tatsächlich am Titicacasee auf 4.200 Metern Höhe, und ich hab mir dann vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn man sich da oben dann so’n Keks einwirft. Meine erste Erfahrung mit solchen Drogen war, dass mir eine einen Keks gab und mir nicht sagte, was das für ein Keks war. Und der schmeckte mir so gut, dass ich gleich noch einen zweiten dazu gegessen hatte und war völlig … Also ich hatte … danach war ich satt. Ich hab gesagt, ich brauch nie wieder irgendwas von diesem Zeug! Es war fürchterlich, zu Fasching irgendwie drei Tage völlig neben der Spur zu sein, alle Leute sagen irgendwie komisch aus … Und da hab ich mir gedacht, weil man da oben bei 4.000 Metern ja auch so einen komisch aufgeblähten Kopf hat, weil ja das Blut völlig anders fließt als sonst, wie das dann wohl sein würde, wenn man sich dann da oben noch so’n Keks einwirft. Und dann hab ich zu Pit gesagt: Wie wäre es denn mit Space Cake Picknick? Und dann sagte er, mach doch einfach Space Cake Break draus! Weil: Picknick ist zu lang. Und so ist das dann entstanden. Aber es war witzig, weil wir haben das Lied zuerst angefangen, und dann bin ich in den Urlaub gefahren, und wir wollten erst so Orte wie Beirut oder so einbauen, also so Krisenurlauber haben wir da schon früh beleuchten wollen, und dann kam ich aus Südamerika zurück und hab gesagt, du, da sind die Namen von den Orten viel, viel schöner, lass uns doch das nehmen! Und so kam das dann.

VSz: Es ist wirklich meine Lieblingstextzeile von euch, ich hab mich sehr gefreut, dass sie hier wieder auftaucht!

Pit: Ja klar, der „Mambo“ muss natürlich rein, weil das ist … ich mein, frag mal Mick Jagger, der kommt um „I can’t get no“ auch nicht mehr rum – und die Leute hätten gefragt. Weil, ich finde auch … lustigerweise, „Mambo“ kannste eigentlich nicht kaputtmachen, der klingt immer gut, wie er klingt, ob das jetzt mit der Philharmonie war oder mit der Bigband … Der Mambo ist irgendwie immer der Mambo.

VSz: Er ist ja auch irgendwie euer Signature-Song. Und ich finde ihn auch subversiv – das ist eigentlich das, was ich damals mit den „Lounge-Punks“ meinte, dass ihr so etwas Hintergründiges an euch habt.

Pit: Das zieht sich ja wie ein roter Faden durch unsere Kunst. Das fängt bei der ersten Platte mit den „Rosenbergs“ an, eingebettet in ein zartes Lounge-Gewand, da geht es um rauchende Köpfe, oder „Something Special“ ist auch so’ne Umkehrung, das klingt nett, ist aber eigentlich auch eine ganz profane Popbotschaft. Ich funktioniere selber so, wenn ich Musik höre, ich sprech auf ganz profane Zeilen an, die retten dann den Tag oder machen dich beschwingt oder lösen kurz Mal dein Problem …

VSz: Hören das die Fans auch so oder genießen die einfach die Leichtigkeit der Musik?

Pat: Ich glaube, die Verklausulierung von Dingen ist zum Beispiel ganz besonders in Russland beliebt, weil die da auch nicht immer sagen dürfen, wie es eigentlich ist. Deswegen mögen die auch solche verschachtelten Gedanken. Also man merkt schon, dass die Leute sich das dann auch irgendwann mal anhören oder plötzlich macht es ping! und sie sagen, ach, das habt ihr gesungen? Das hab ich ja gar nicht mitgekriegt! Es ist auch manchmal erst bei der Lektüre der Texte dann klar, was da eigentlich so unter der Oberfläche noch alles schimmern könnte. Und deswegen glaube ich schon, dass das auch gut ankommt – gerade in Osteuropa, weil die Leute da irgendwie gewöhnt sind, in blumigen Bildern zu sprechen, um Dinge zu beschreiben, die man eigentlich gar nicht ansprechen darf.

Pit: Was mir dazu auch einfällt, ist, wo ich beim Mischen auch nicht sicher war, ist es kitschig oder nicht, ist bei „No Jive“ die Kinderstimme mit den Waffen. Das ist ein ganz süßes Thema, und dann hast du dieses Kind, das Waffen aufzählt …

Pat: „Rifle … twenty-two“.

Pit: Genau. Und lustigerweise mache ich gestern beziehungsweise am Freitag die Süddeutsche auf, und der Leitartikel geht um „Gott gab uns die Waffen“, da ist ne Mutter mit ihrem Kind und in der Mitte ne Kalaschnikow. Weil die Amis sich das Recht auf ihre Waffen nicht nehmen lassen. Ich hab den Artikel nicht gelesen, weil ich fand’s abstoßend, aber dieses Thema ist im Grunde eigentlich aktuell wie nie! Oder immer aktuell, keine Ahnung. Aber da sind wir schon wieder beim Thema! Wir könnten uns über Waffenlieferungen unterhalten, kein Problem, aber wir können’s auch über Lounge-Musik machen – was der Tag braucht.

VSz: Ihr macht ja beides: Ihr unterhaltet euch innerhalb süßer Lounge-Musik über diese ernsten Themen. Aber ich möchte noch einmal kurz darauf zurückkommen darauf, was Pat eben gesagt hat, mit Russland – ihr habt eure größte Fanbase eigentlich dort, oder?

Pat: Ja, könnte man sagen. Auf jeden Fall unter den Leuten, die zu Konzerten erscheinen.

Pit: Mir ist es immer noch ein Rätsel. (alle lachen)

Pat: Naja, es ist ganz einfach, der Schwarzmarkt hat uns da weitergebracht …

Pit: Das klingt gut!

Pat: …es war einfach relativ billig, da zu kaufen, überall, an jeder Ecke, und es gab Alben, die haben wir hier nie gesehen. Manchmal, wenn mir etwas zum Signieren gereicht wurde, dann habe ich gedacht, was ist denn das bitte für ein Album? Es gab da auch ganze Alben, wo nur Barbara drauf ist oder wo nur Pat drauf ist oder wo nur Karl drauf ist, die haben sich da echt die Mühe gemacht, die dann auseinanderzuklauben und deswegen … Das war einfach in einer Zeit, da kommen sie heute noch auf uns zu und sagen, das war der erste Moment eines kleinen bescheidenen Wohlstandes. Wo sie einfach gemerkt haben, oh, es geht bergauf, die Sowjetunion verschwindet, wir können unser Leben selber gestalten, in Gänsefüßchen, und wir können ein bisschen Luxus genießen. Und da war unsere der Soundtrack dafür. Es war einfach toll, und das danken die uns bis heute.

VSz: Ihr wart also zur richtigen Zeit bei der richtigen historischen Entwicklung dabei.

Pat: Wir sind sozusagen eigentlich auch ne Wende-Band! Nur ist das hier in Deutschland nicht so bekannt.

VSz: Eine Wende-Band! Das heißt, ihr hättet eigentlich gestern zum dreißigjährigen Mauerfalljubiläum spielen müssen.

Pat: Eigentlich hätten wir da rumspringen müssen. Wobei ich froh bin, dass wir nicht da in der Kälte stehen mussten!

Pit: Ich bin ja weit weg von der Hauptstadt!

Pat: Sei froh!

VSz: Apropos Konzerte – das Orchesterprojekt wird es jetzt ja auch wieder live geben, ich weiß zumindest von zwei Konzertterminen in Hamburg und Berlin. Wie viele Musiker stehen denn da letzten Endes eigentlich auf der Bühne?

Pat: In Berlin? Ich glaube, da spielen wir bis jetzt noch nicht.

VSz: Warte mal … Ach nee, Jena. Im Volkshaus. Entschuldigung. Hamburg und Jena.

Pat: Berlin ist leider noch nicht dabei. Wir planen natürlich für nächstes Jahr noch weitere Konzerte, aber es ist erstmal so’n bisschen schwierig, die Leute davon zu überzeugen, dass das jetzt geil ist. Deswegen müssen wir da langsam drangehen.

Pit: Wir stoßen da auch an logistische Grenzen. Die Menschen im Orchester haben teilweise auch Jobs nebenbei, die können sich jetzt nicht Zeit nehmen für vier Wochen Tour. Also muss man alles auf ein enges Zeitfenster begrenzen, und dann wird es schwer, so stringente Termine zu finden. Es sind fast sechzig oder siebzig Leute oder irgendwas in der Art – find mal ne Jugendherberge für die …

VSz: Oder finde überhaupt mal einen Konzertveranstalter, der sagt, ich zahle jetzt für siebzig Leute auf der Bühne statt für sieben!

Pit: Ja, das muss dann in einem anderen, gesponsorten Rahmen laufen oder mit irgendwelchen Goethe-Instituten, keine Ahnung. Ich bin natürlich auch am Fühlerausstrecken – wir haben hier ja auch die Rheinland-Pfalz-Philharmoniker, die haben, so wie damals die Bigband, natürlich professionelle Strukturen, das könnte man natürlich nutzen. Vielleicht gibt es auch ein entsprechendes Orchester in Moskau, ich weiß es nicht. Wir sind da im Moment dran, es ist jetzt erstmal auf dem Tisch, es muss jetzt erstmal zerrissen werden von der Kritik und dann werden wir sehen, ob wir noch irgendwo spielen können!

(alle lachen)

VSz: Ich hab hier noch zwei Fragen eher technischer Natur, die sich wahrscheinlich eher an Pit richten …

Pat: Kein Problem!

VSz: Beim zweiten Stück, den „Roses“, da setzt bei Minute 2:20 so ein schleppender 2010-Beat ein und man fühlt sich wieder ganz in den After-Work-Soundkosmos von DePhazz zurückversetzt … Wird der Beat jetzt wirklich live gespielt oder ist der programmiert?

Pit: Nee nee, wir hatten schon einen Schlagzeuger dabei, der hat ja das ganze Orchester geleitet! Im Grunde hat die Band das Fundament gelegt, das muss verteilt sein, zusammengehen, das gibt ja, wie ich gelernt habe, Vorschriften auf dem Notenblatt, das heißt, wenn da steht, auf der Eins fangen wir an, dann sollten alle auf der Eins anfangen. Und der Schlagzeuger hat die Grundierung gelegt, und das Orchester hat sich dann im Idealfall draufgesetzt. Der ist natürlich auch dabei. Das ist vom Klang her natürlich ein Unterschied, ob du im Raum spielst oder ob man im Studio nochmal die Möglichkeit hat, einen anderen Klang beizumischen wie ein Klangmaler, so dass es noch ein bisschen wie in dem Fall elektronisch klingt. Das weiß ich noch, bei den „Roses“ wollte ich es ein bisschen elektronischer haben, weil auch das Stück daherkommt, aus der Technophase vom Anfang, oder der Drum&Bass-Phase. Auf der Bühne wird es dann natürlich erdiger klingen und live – das ist aber ein komplett anderes Medium, da ist wirklich der Moment wichtig. Wenn du dahinkämest, würdest du glaub ich nicht auf den Snare-Sound achten, sondern das Gesamtkunstwerk anhören in dem Moment.

VSz: Wahrscheinlich. Das heißt, du warst mit dem Stück aber nochmal nachträglich im Studio.

Pit: Ich war mit allen Stücken nochmal nachträglich im Studio. Das musst du auch! Das ist, tja, wie soll ich sagen, ein Thema, da könnten wir jetzt zwei Stunden drüber reden – das war ja für mich die große Erfahrung in diesem Projekt. Wie klingt es in der Halle – ich stand da erstmal überwältigt in diesem Raum, als das Orchester vor mir stand –, und danach hast du den ganzen Schmutz auf hundert Spuren im Studio. So. Da geht es plötzlich um was ganz anderes. Räume, um Wiederverschmelzung, es geht um: Wie dämme ich diese Gewalt ein und unterordne sie der Stimme?

Pat: Ja, und es geht ja auch um deinen Sound, so ein bisschen, weil du bist ja eigentlich derjenige, der diesen Sound auch erfunden hat und den dann auch irgendwie wiederfinden will auf dem Album.

Pit: Ja, einerseits das, andererseits sind das ja auch immer noch Popsongs, und ein Popsong besteht aus einer Stimme und wenn du ne Stimme hast, muss sich die Band hinter die Stimme einfügen, sonst hat das keinen Zweck. Wenn du im Radio irgendso’ne halbherzige Stimme da irgendwo in der Ferne hörst, nur, weil ein Orchester spielt … Das muss den Popkriterien unterworfen werden! Und da, liebe Victoriah, wenn du mir ʽne Freude machen willst, da gibt es einen ganz wichtigen Menschen in dem Prozess, das ist der Horst Schnebel, der mir da unheimlich beigestanden hat bei dem Ganzen. Ich wäre da technisch überfordert gewesen. Du musst die Geigen in den Raum bringen, du hast Blechbläser, die müssen hörbar sein und grooven, aber die müssen hinter der Stimme sein! Du hast Holzklapperleute überall, du hast Pauken drin, mein Gott, ein Paukenschlag, und der Song ist zu! Also, du musst das alles bändigen. Und das war für mich die große Erfahrung. Aber wie gesagt, ein Thema, könnten wir zwei Stunden drüber reden! Darüber könnte ich jetzt eine Abhandlung schreiben!

VSz: Horst Schnebel, der ist Tontechniker?

Pit: Tontechniker, ja. Der macht schon immer unsere Platten. Und er kannte auch schon die Aufnahmeprozesse von einem Orchester, weil er in Russland einen Popstar damit aufgenommen hat. Deswegen hat er mir da auch die Angst genommen. Ich selbst wäre da wahrscheinlich erstmal …

VSz: Noch eine Frage zu Stück, zum „Mambo Craze“: Dieser Auftakt, der wieder so etwas Märchenhaftes, Die-Fee-erscheint-mäßiges hat, so etwas Magisches … Ist das ein verfremdetes Vibraphon?

Pit: Eine Harfe! Also, entweder es kann die Harfe sein – oder es ist ein Vibraphon. In so einem Orchester hast du ja alles. Live sogar noch! Es muss wohl ein Vibraphon gewesen sein, ich geh mal davon aus, oder auch die Harfe. Weil die muss natürlich … Eine Harfe ist so ein zerbrechliches Instrument, und das kämpft dann plötzlich gegen sechs Posaunen an, und das ist ne Aufgabe, das dann noch so rauszuarbeiten, dass es dann immer noch zerbrechlich klingt!

Pat: Wobei die Harfenistin auch wirklich ein steiler Zahn war, eine tolle Frau!

Pit: Hat Spaß gemacht, ihr zuzu- … äh … -hören.

VSz: Gibt es noch etwas zu dieser Platte zu sagen, von dem ihr unbedingt wollt, dass die Welt es erfährt?

Pit: Wenn du mich so fragst, dann fällt mir immer in erster Linie ein, dass ich diese ganze Platte mache, weil ich Musiker bin und kein Schreiber, das heißt, die Antwort steckt bei mir eigentlich in der Musik. Mir fällt da jetzt nichts anderes zu ein, außer liebe Grüße aus der Provinz!

Pat: Ich würde sagen, da sollen endlich auch mal wieder Leute kommen, die sich bei der letzten Tour beschwert haben, dass sie stehen mussten. Weil wir sind ja auch nicht mehr die Jüngsten!

VSz: Das werden jetzt also Sitzkonzerte …

Pat: Genau, es werden Sitzkonzerte. Wer tanzen möchte, der möge sich an die Seite stellen, solange die Ordner das zulassen, aber man könnte sich auch einfach mal schön in einen kuscheligen Sitz hüllen und die Musik in ihrer neuen Form auf sich wirken lassen. Also, das wäre glaube ich für uns alle schön, weil es einfach auch so einen feierlichen Rahmen hat, das ist etwas ganz Besonderes. Wir geben uns da echt redlich Mühe, das super hinzustellen, also, wir freuen uns alle drauf!

Pit: Du siehst, Victoriah, dahinter verbirgt sich das wahre Motiv für die Produktion dieser Platte. Damit wir in richtigen Konzertsälen sitzen können und nicht in klebrigen, schmutzigen Clubs herumstehen müssen.

(alle lachen)

VSz: Also doch erwachsen geworden mit diesem Album.

Pit: Ich tu mich so schwer mit dem Wort „erwachsen“.

Pat: Nennen wir es „alt“ …

Vsz: Das wollte ich gerade vermeiden!

Pit: Man muss sich manchmal in unserer Branche noch diesen Kopf fürs Querdenken erhalten, und der ist so gar nicht erwachsen, manchmal. Den brauchst du, um auf dumme Ideen zu kommen oder für kreative Prozesse.

VSz: Nach dem Alterswerk frage ich dann also in zehn Jahren nochmal …

Pit: Das ist eine gute Idee! Lass uns da in zehn Jahren nochmal drüber reden. Wenn die uns aus den Opernhäusern wieder entlassen haben.

Das Motto eines rauschenden Abends: pures Glück!

28. Dezember 2019

Vom Suchen im Nichts oder: „Jeder Ton, der gespielt ist, ist gewollt und gemeint.“

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: — VSz | Klangverführer @ 22:56

Den mittlerweile in Berlin lebenden Zürcher Geiger Tobias Preisig kenne ich seit seiner ersten Platte – dem im Frühjahr 2012 auf Traumton erschienenen „In Transit“. Er wird nicht müde zu erzählen, dass unser damaliges Gespräch sein erstes Interview überhaupt war – und das, obwohl wir uns im verflixten siebten Jahr unserer Bekanntschaft befinden!

Für meine Kolumne Szirmais Fermaten in der frisch erschienenen Januar/Februar-Ausgabe des Jazzthetik Magazins durfte ich seine neue Platte „Diver“ – ein Album, so schön, dass es kurzerhand noch auf meine Critics‘ Picks-Liste rutschte – besprechen. Natürlich nicht, ohne dem Künstler vorher einmal mehr persönlich auf den Zahn zu fühlen!

Mitte Oktober sprach ich mit Preisig von unfassbarem Glück, gelernter Reduktion und der DNA des Tons – und was das alles mit gutem Techno zu tun hat, der experimenteller und avantgardistischer als Free-Jazz ist, wie sich einladende von ablehnender Musik unterscheidet und warum Spotify eine „großartige Geschichte“ ist.

Spaß beim Gespräch am 19. Oktober 2019. Foto: Tobias Preisig

Victoriah Szirmai: Tobias, ich kenne dich nicht nur von Egopusher und im Duett mit Stefan Rusconi (Levitation, 2016), sondern auch von deinen beiden Traumton-Soloplatten In Transit (2012) und Drifting (2014). Trotzdem hast du im Chat „mein erstes Soloalbum“ geschrieben, als es um „Diver“ ging. Warum?

Tobias Preisig: Genau. Also, die Platten bei Traumton, das war eigentlich mein Quartett. Im Jazz hat man ja ein Quartett, wenn man zu viert ist. Und wir waren wirklich auch ein eingeschworenes Team und haben uns eigentlich mehr als Band verstanden, obwohl es meinen Namen führte. Und darum ist es kein Soloalbum, weil du hast da vier Musiker, Bass, Schlagzeug und so fort, wo die Rollen klar verteilt sind – und „Diver“ ist wirklich ein Geigenalbum.

VSz: Das heißt, obwohl nicht „Tobias Preisig Quartett“ draufstand, war es eigentlich ein Bandalbum.

TP: Absolut, das war für uns immer so.

VSz: Und jetzt bist du das ganz allein. Wobei … Im Grunde handelt es sich ja auch um eine Kooperation, nämlich die mit Jan Wagner.

TP: Genau, ja. Aber Jan Wagner war der Produzent, der das Ganze geformt hat, und in dem Sinn: Es ist wahr, es ist interessant, die Reduktion auf solo hat mir komplett neue musikalische Wege gezeigt – aber ich brauchte doch einen Partner, um sie auf Band zu bringen. Ich hab’s alleine nicht geschafft.

VSz: Erzählst du mir ein bisschen von ihm?

TP: Gerne. Jan Wagner ist ein Pianist und Produzent. Und, wie gesagt, ich habe mein Solo-Repertoire über Jahre aufgebaut, viele Konzerte gespielt, die Musik hat sich entwickelt, sie wurde immer stärker … Und ich habe immer versucht, sie irgendwie selbst aufzunehmen. Aber ich hab das nicht geschafft. Ich hab dann auch ein Studio und einen anderen Produzenten und alles ausprobiert, es hat sich aber nie richtig angefühlt. Und dann hat Alessandro, mein Egopusher-Partner, gesagt, hey, zeig das doch mal Jan Wagner, der ist in Berlin, ist ein Super-Typ, ein Super-Musiker, zeig’s ihm einfach mal, vielleicht kann er es mischen, vielleicht kann er was damit machen. Ich hab Jan geschrieben, es hat es sich am nächsten Tag angehört und gesagt, hey, lass uns das nochmal machen. Du klingst so verloren in diesem riesigen Studioraum, die Musik … da ist noch viel mehr drin! Und dann haben wir einfach das unfassbare Glück gehabt, dass wir beide einen vollen Monat Zeit hatten, praktisch nichts anderes zu tun hatten, und uns einfach vergraben haben. Er hat mich in meinem Studio so eingerichtet, dass ich einfach am Morgen kommen, „Rec“ drücken und loslegen konnte. Und er hat das so hingebracht, dass ich eigentlich nur noch Musik gemacht habe. Trotzdem habe ich sie irgendwie selber aufgenommen. Mit ihm. Er hat mich geleitet. Aber eigentlich war es wirklich so: Ich geh rein, nehm‘ auf und tschüss. Und am Abend habe ich ihm die Sachen geschickt, dann ist er vorbeigekommen, wir haben die Sachen angehört und dann einfach so nahdisnah weiterentwickelt.

VSz: Du hast gesagt, du hattest schon mal mit einem anderen Produzenten probiert, es aufzunehmen. Wo war denn der Unterschied zwischen jenem Aufnehmen, das nicht so klappte, und dem jetzt?

TP: Es war einfach … Die Chemie mit dem Produzenten hat nicht funktioniert, mit dem Ingenieur, das war dann nur noch ein Missverständnis und eine Momentaufnahme des Live-Moments. Ich wollte das aber nicht so. Für mich ist ein Live-Konzert ein Live-Konzert, und eine Platte ist eine Platte, die im Studio passiert. Für mich ist das nicht das Gleiche.

VSz: Heißt das, du bist kein Freund von Live-Platten?

TP: Doch, bin ich sehr – vor allem im Jazz! Aber ich wollte mehr weiterkomponieren, weiterproduzieren und ich wollte irgendwie tiefer gehen als der Live-Moment geht. Ja. Und das hat wahnsinnig gutgetan mit ihm, weil alleine habe ich das nicht geschafft.

VSz: Die Musik dieser Platte ist ja auch wirklich wie gebaut, wie aufgeschichtet. Vielleicht ist das der Unterschied zwischen dem Live-Moment und der Studio-Produktion.

TP: Nein, ich kann das live eins zu eins umsetzen, das ist überhaupt kein Problem. Aber für mich ist das so: Der Live-Moment – da spiele ich mit dem Raum, ich spiele mit den Zuschauern, ich spiele mit dem Moment, ich kann extrem viel Energie reinstecken, ich kann mal wild, mal laut, mal intensiv spielen … und ich habe das Gefühl, das einen das auf der Platte komplett überrennen kann und dass es gar nicht bei einem ankommt, weil man das Bild nicht hat und den Raum nicht hat. Auf der Platte kann ich viel, viel reduzierter arbeiten, was vielleicht auf der Bühne komplett langweilig wäre, wenn ich es eins zu eins so übernehmen würde. Und jetzt ergibt sich irgendwie eine neue Mischform: Diese Platte hat mich gelehrt, noch reduzierter zu werden, was ich live eh schon ein bisschen wurde, aber eben noch reduzierter, noch konzentrierter, noch fokussierter, und live nehme ich es jetzt und fange wieder an, es ein bisschen mehr zu umspielen.

VSz: Es sind andere Energien, live und im Studio …

TP: Es sind komplett … Für mich sind es andere Energien! Ich wollte die Platte produzieren. Ich wollte mir Zeit nehmen, ich wollte neue Sachen entdecken – und für das muss man produzieren und nicht einfach auf „Rec“ drücken und ein Konzert aufnehmen.

VSz: Kann man auch sagen, die Platte als Nicht-Live-Platte ist eher der introvertierte, der Live-Moment der extrovertierte Aspekt daran?

TP: Ja, absolut! Und ja, man hat irgendwo die Möglichkeit, Neues zu entdecken, auf beiden Ebenen, auf der Bühne und im Studio, das sind zwei verschiedene Sachen.

VSz: Die Musik selbst hast du vorhin im Chat und jetzt auch wieder als „ultrareduziert“ bezeichnet. Die Presse-Info spricht von „Ambient“ und „Neo-Contemporary“. Dennoch ist sie für mich persönlich vor allem gekennzeichnet durch diesen unverkennbaren, immer etwas heiseren, stets tastenden, grenzauslotenden, nahe am Ultraschallbereich angesiedelten Ton, der immer sucht, immer im Werden und Wandeln ist … Den würde ich wohl unter tausenden wiedererkennen, und ich kenne ihn schon von deinen alten Platten. Was ist für dich der Unterschied zu deinen bisherigen Arbeiten?

TP: Wahrscheinlich ist es halt die persönlichste Platte, weil halt alles weggeschält wurde, was eben nicht dieses Suchende und dieses, was du jetzt gerade beschrieben hast, ist. Jetzt ist es eigentlich nur noch das. Und dieses Wegschälen von ah-jetzt-versuche-ich-etwas-zu-sein-was-ich-nicht-bin und hier-spielt-noch-jemand-anderes-mit-und-macht-sein-Ding – was ja auch völlig okay ist, weil der hat sein Space –, führt dazu, dass es jetzt nur noch dieser Sound ist. Und ich finde es sehr schön, dass du ihn wiedererkennst! Für mich persönlich ist er auch da, seit Jahren, er entwickelt sich einfach weiter, aber der Kern, die DNA ist die gleiche. Das Neue ist wirklich, die Reduktion gelernt zu haben, dass in wenigen Tönen eine riesige Tiefe ist. Wirklich so: Jeder Ton, der gespielt ist, ist gewollt und gemeint. Hinter jeden Ton eine Bedeutung reinstecken – das ist schon lange ein Thema für mich, und das ist jetzt einfach noch stärker geworden.

VSz: Das gibt dem ja auch diese Dringlichkeit, dieses Gewollte, oder, wie du sagst, diese Bedeutung. Kann man sagen, dass das jetzt im Grunde die Essenz, deine Essenz ist? Wenn du sagst, alles sei weggeschält? Das bist jetzt: du?

TP: Ja. Genau. Das ist das pure Öl. (lacht) Nein, nicht das Öl! Aber die Essenz, ja! Ich weiß auch nicht, ich hab … (überlegt) … ja, doch, das kann man wirklich so sagen!

VSz: Was für mich dabei auch immer mitschwingt, ist … nicht unbedingt die Barockzeit selbst, aber ihre fast mathematische Präzision. Ist die Geigenliteratur bzw. generell die Musik aus dieser Zeit eine Inspirationsquelle für dich?

TP: Wie gesagt, es hat überhaupt keine …

VSz: Bezüge?

TP: Doch, natürlich, es hat all diese Bezüge aus meinem Leben und aus meinem Umfeld. Aber nein, barocke Musik … mag ich eigentlich, aber ist keine Referenz.

VSz: Ich merke einfach … Zwischen dem ganzen Musikhören und -schreiben kriege ich den Kopf ausschließlich mit Bach’schen Cellosuiten freibekomme. Die laufen dann vier Stunden sehr, sehr laut …

TP: Herrlich, ja!

VSz: … und dann ist erstmal wieder gut. Und bei deiner Musik, also der neuen Platte, habe ich ein ähnliches Gefühl des Hirn-Klärens. Du hast da zum Beispiel dieses acht-Ton-Motiv, dauerrepetiert …

TP: Ja …

VSz: … in einem ganz strengen, formalen Korsett, und das erinnert mich an diesen barocken Geist.

TP: Das stimmt. Ich würde aber vor allem eher noch eine Parallele zu guter Techno-Musik sehen, weil: Das ist eigentlich dasselbe! Es ist sehr …

VSz: Gute Techno-Musik *ist* Barock!

(beide lachen)

TP: Genau, ja! Vielleicht ist es eher das. Barock hatte ich im klassischen Studium gelernt und auch spannend gefunden, aber Referenz wäre wirklich eher elektronische Musik, auch, wenn das vielleicht nicht gleich als Erstes zu hören ist, aber dieses Strukturierte, dieses Organisierte, das kommt vielleicht von dort.

VSz: Woher kommt denn deine Faszination für diese Art der elektronischen Musik?

TP: Das ist, wenn man in Berlin ist … (beide lachen) … gezwungenermaßen läuft man dem über den Weg! Ich fand es einfach wahnsinnig faszinierend, ich bin sehr viel ausgegangen, habe Sachen entdeckt, die ich viel, viel avantgardistischer und experimenteller erlebt habe als Freejazz-Konzerte. In totalen Clubs, also, wo die Leute tanzen, umherfliegen, driften … Ich habe da eine wahnsinnig neue, experimentelle Welt entdeckt, die mich irgendwie interessiert.

VSz: Das ist lustig, denn zu deiner Platte habe ich auch am Ende notiert: „Ich würde gern Avantgarde! ausrufen, wenn es mich emotional nicht so berühren würde“. Avantgarde ist für mich eher etwas, das einen intellektuell so ein bisschen wegschubst … Und das passiert bei deiner Musik definitiv nicht! Das ist eigentlich das Erstaunliche an ihr, dass sie beide Aspekte so sehr vereint.

TP: Das ist natürlich schön. Ich finde es schön, wenn Musik einladend ist und nicht ablehnend. Für viele Musiker mag das Ablehnende wichtig sein, mich interessiert das jetzt überhaupt nicht. Ich finde es sehr schön, wenn etwas passiert beim Zuhörer. Und dann passiert auch bei mir was. Das kann sich dann gegenseitig befruchten.

VSz: Das ist so ein Ding bei diesem achten Track. Ich dachte zuerst, eigentlich könnte das Album für mich mit „Isolation“, dem siebten Track, aufhören, aber trotzdem saugt dich dieses „Collective“ irgendwann so ein, und du merkst die ganze Zeit, da passiert was, und da passiert ’ne ganze Menge und da passiert viel, aber du weißt nicht genau, was da passiert, aber irgendwo rührt es dich an. Das heißt, für dich ist wichtig … Also, du hast es nicht auf Virtuosentum abgesehen, um die Leute davonzuspielen, sondern es geht bei der Einladung doch um emotionale Berührung?

TP: Absolut, ja. „Virtuosentum“ finde ich einen spannenden Begriff, weil man Virtuosität ja mit technischen Mitteln, mit Schnelligkeit in Verbindung bringt. Aber eine Virtuosität kann genauso einen klanglichen, verspielten Reichtum bedeuten. Für mich bedeutet Virtuosität, dass klanglich oder emotional viel möglich ist. Und das ist bei mir jetzt so. Auch bei diesem „Collective“, da passiert ja eigentlich überhaupt nichts, wie du sagst …

VSz: … aber eben doch so viel!

TP: Genau. Es ist ein Ton. Und plötzlich habe ich gemerkt: Du spielst einen Ton – und auch der ist eigentlich schon fast zu viel.

VSz: Das ist völlig faszinierend!

TP: Das ist absurd! Aber wenn man sich mal drauf einlässt und zehn Minuten so was hört, dann entdeckt man darin die klitzekleinsten Härchenverbindungen, und plötzlich wird das sooooo intensiv! Und das meine ich, das ist eigentlich die Quintessenz.

VSz: Von Virtuosentum.

TP: Dieses Suchen im Nichts kann plötzlich so wahnsinnig reich werden.

VSz: Das ist schön … „Das Suchen im Nichts“ … Eine neue Definition von Virtuosentum.

TP (lacht): Ja, genau …

VSz: Und demgegenüber die Schnelligkeit und all das, was man landläufig so darunter versteht. Man hat dich ja bei deiner ersten CD total gern mit dem Etikett des Teufelsgeigers belegt, und seitdem zieht sich das durch die Presse, die dich begleitet.

TP: Ja klar, das hat man als Geiger schnell. Wenn man ein bisschen verrückt ist oder anders klingt als alle anderen, ist man schnell der Teufelsgeiger. Und das ist auch völlig okay …

VSz: Wobei da natürlich immer Paganini mitschwingt und die Capricen …

TP: Genau, genau!

VSz: … was aber dein Album ja nun mal so überhaupt nicht ist!

TP: Das Gegenteil, ja! Aber es hat irgendwie … Ich liebe Paganini! Ich finde, er ist der absolute Wahnsinn!

VSz: Es sei denn, David Garrett spielt ihn …

TP: Ja, gut, das ist …

(beide lachen)

TP: … ein ganz, ganz, ganz schwieriges Thema!

(noch mehr Lachen)

TP: Aber eben diese Intensität, finde ich, und du hast es anscheinend auch gefunden, sogar in einem Track, wo nur ein Ton gespielt wird, das ist doch eine unfassbare Erkenntnis! Für mich.

Tobias Preisig, Diver, Quiet Love Records, 2019

VSz: Absolut, für mich auch. Diese Platte muss man durchaus noch viel öfter und vor allem bei Nacht hören! Was mich aber noch interessiert: Warum „Diver“, warum das Bild des Tauchers? Ist es, weil er eintaucht in das, was da unter der Oberfläche lauert?

TP: Genau.

VSz: Dieser flüssigen Textur begegnen wir musikalisch ja auf der gesamten Platte, titelgebend auch in „Flooding“. Ich finde, es ist sehr flüssige, sehr liquide Musik …

TP: Voll, ja. Also, der „Diver“ ist eigentlich … Ich habe immer von Eintauchen gesprochen, „lass uns in diesen Ton eintauchen“, „lass in diesen Klang eintauchen“, in diese Räume, diese Hallräume, das ist ein Riesenthema auf dieser Platte! Der Taucher war also immer schon da, und dann habe ich einen Film gesehen über Apnoe-Tauchen, das sind die, die ohne Flasche …

VSz: Ja, ich weiß, das ist meine persönliche Horrorvorstellung, ich hätte eine Scheißangst davor!

TP: Ja, ich auch! Also, ich mach das nicht. Tauchen ist gar nicht meine Welt. Aber der Film hat mich so fasziniert, weil ich solche Parallelen, emotionelle Parallelen, gefühlt habe. Die lassen sich so runtergleiten und erzählen von diesem Gefühl, wo plötzlich alles … also, am Anfang ist das so Panik-Panik-Panik, und dann, wenn man sich drauf einlässt, ist das so ein Runtersinken und ein die-Welt-weg-von-sich-lassen und dass man eine komplett neue Welt entdeckt in diesem Nichtunten. Das wird sehr frei, es wird sehr leicht, plötzlich, und man vergisst die Zeit. Und das ist so ein bisschen … Dieses Gefühl hatte ich andauernd, und so bin ich auf diesen Taucher gekommen. Es ist auch ein bisschen das Gefühl, man taucht in dieses schwarze, dunkle Meer runter und geht ganz bis zum Grund und zeigt auf diesen kleinen Stein oder diese kleine Muschel da unten. Das ist für mich diese Platte.

VSz: Das ist ja eine sehr intime, sehr persönliche Erfahrung, Eintauchen in Schwärze, um auf diesen Stein, diese Muschel zeigen zu können. Diesen nahezu unscheinbaren Ton, zu welchem sich vorzuarbeiten so viel Mühe kostet. Wenn du sagst, Jan war die ganze Zeit dabei – wie schwer ist es, so persönlich zu werden, wenn man nicht ganz allein ist?

TP: Das war halt überhaupt kein Problem, weil es einfach symbiotisch funktioniert hat. Und bei den anderen Produzenten hat es halt nicht funktioniert. Und daher musste ich das alles wegwerfen. Und das ist genau das: Plötzlich kommt jemand, und der hat, das habe ich, glaube ich, auch schon einmal gesagt, der hat den richtigen Schlüssel gehabt und das Tor geöffnet – es floss einfach alles dahin. Und es war keine Frage mehr im Raum! Ich weiß auch nicht, das ist einfach auch ein riesiger Glücksfall! Es ist einfach: Er hat es geschafft, dass es bei mir einfach … blubbert.

VSz: Du legst dich damit ja offen, du machst dich damit ja bloß.

TP: Genau. Wir hatten viele Gespräche, und es war einfach alles inspirierend. Darum wird unsere Zusammenarbeit auch weitergehen, ganz klar! Und wenn du sowas erlebst, dann ist das auch wie: Jetzt macht es Sinn, eine Platte zu machen! Davor hat das keinen Sinn gemacht. Ich habe viel live gespielt, und alle haben gefragt, warum hast du keine Platte? Und ich konnte immer nur sagen: Ich fühl’s nicht.

VSz: Das Repertoire hat sich über einen Zeitraum von drei Jahren entwickelt?

TP: Ja, drei Jahre und ich hab es nicht gefühlt. Und jetzt ist es einfach da und es macht total Sinn und ich habe keine … also, es gibt viele Fragen, aber diesbezüglich gibt es keine Fragen mehr.

VSz: „Ein Jedes hat seine Stunde“ – und das war jetzt die von „Diver“.

TP: Absolut. Das war jetzt der Moment dafür.

VSz: Sprechen wir noch einmal von Reduktion und Verlangsamung bei dennoch stets vorhandener strenger äußerer Form. Ist es so, dass dieses sehr formale Korsett dazu führt, dass man emotional freier sein kann als man es könnte, wenn die äußere Form weniger streng wäre?

TP: Also, dass man in der Stenge …

VSz: … viel freier ist als in der, sagen wir, antiautoritären Form.

TP: Ja, ich finde das absolut. Das andere ist dann vielleicht mehr punkig und chaotisch, und das ist ja auch wunderbar, das sind ja auch Sachen, die vielleicht mal in so einem Ursprung stattgefunden haben, aber dann war es mir wichtig, den eine Form zu geben, eine ganz klare Form, eine Klarheit zu finden in dieser Sprache, eben, damit es keine Fragen mehr aufwirft – aber sehr gerne beim Zuhörer etwas auslösen soll.

VSz: Ich empfinde es ja gerade dadurch als emotional noch berührender. Mir ist ein Vergleich aus der Literatur in den Kopf gekommen. Es gab im Ungarn der letzten Jahrhundertwerde zwei konkurrierende Dichter, Ady Endre und Mihály Babits. Und während der erste ein der freien Form huldigende Hitzkopf war, schrieb der andere ausgeklügelte, streng formalisierte Sonette. Babits machte sich in einem Sonett sogar darüber lustig, was seine Gegner über ihn sagten. „Ezek hideg szonettek“, schrieb er, „dies sind kalte Sonette“, aber das so formvollendet und feinziseliert, dass jeder die Überlegenheit der Form über den Freigeist erkennen musste. Ich war immer „Team Babits“. Für mich reicht es einfach tiefer, in der strengen Form die Emotion zu finden, als in der Expressivität.

TP: Vielleicht ist man auch weniger abgelenkt im Vergleich dazu, wo alles immer und überall möglich sein soll. Dass man sich da gar nicht so sehr damit befassen kann, weil man …

VSz: … diesen Ozean an Möglichkeiten hat. Und andersherum sperrt man ihn von vornherein aus.

TP: Ja, ich hab auch das Gefühl. Das meinte ich auch mit Abschälen. Mit wie-eine-Schlange-Haut-abstreifen. Sachen, die einfach nicht mehr zu dir passen – weg. Komplett weg damit! Auch wenn man sich überlegen könnte, ah, der eine Kritiker wird sagen, das ist schlecht, und die andere Kritikerin wird sagen, das ist lustig oder was auch immer, dass einfach alles von dem weg ist und nur noch Was-bin-ich-wirklich und Wer-bin-ich-wirklich übrig bleibt. Es hat sich einfach so am besten angefühlt, und es fühlt sich immer noch am besten an.

VSz: Apropos abschälen – du hast mir geschrieben, dass diese Musik nicht nur Raum, sondern vor allem auch Zeit braucht. Dabei hast du mich auf die einstündige Belichtungszeit des Coverfotos bei Nacht hingewiesen. Erzähl mir doch ein bisschen mehr davon!

TP: Der Fotograf ist ein portugiesischer Künstler, der war im Studio und hat gehört, was ich da mache – zufällig, er ist ein Freund von mir. Er ging dann, und eine Stunde später kam das Bild per Handy. Er hat geschrieben, hey, ich hab vor zwei, drei Jahren ein Bild gemacht, und diese Musik ist das Bild.

VSz: Was genau stellt das eigentlich dar?

TP: Es ist ein riesiger Stein – der westlichste Punkt von Festlandeuropa.

VSz: Ein Stein, der von oben nach unten wächst?

TP (hantiert mit dem Cover): Also, das Meer ist da, und der Stein ist so. Es ist einfach ein riesiger Stein. Ich komm gleich nochmal dazu! Das Schöne ist, es ist hier von allen Seiten beleuchtet vom Mond. Wenn man jetzt aber einen Schnappschuss von ihm macht, dann ist er immer nur partiell beleuchtet. Aber weil er halt über eine Stunde eine Langzeitbelichtung hatte, ist er auf der ganzen Breite beleuchtet. Es ist eigentlich ein irreales Bild, das gibt es so in der Natur nicht. Es ist eigentlich ein Film. Ein Film auf einem Bild. Und um das zu erreichen, hat er halt eine Stunde in der Nacht da stehen müssen, für dieses perfekte Bild. Und er hat es ein paar Mal gemacht, weil irgendwie hat es nicht funktioniert wegen des Wetters oder was auch immer, es ist halt so ein Vollmond-Ding. Und mir hat es gleich sehr gefallen, einerseits wegen der Langzeitbeleuchtung, für die man sich Zeit nehmen muss, man muss dort hingehen, man muss sich drauf einlassen, und andererseits hat mich halt dieses Steinige, dieses Kantige, in dieser Weichheit dieses Kantige, Goldige, extrem fasziniert. Ein Stein ist ja sowas Festes in der Landschaft. Trotzdem hat er ganz viele kleine Details. Und jetzt, um auf deine Frage zurückzukommen, hat der Grafiker ihn umgedreht. Weil, der hat … Wie der Taucher, taucht hier alles so ab ins Dunkel, in das Nichts. Und diese Welt wird hier ein bisschen angedeutet.

VSz: Und als das Weiche – du sprachst vorhin vom Kantigen in der Weichheit – betrachtest du die Dunkelheit, das Wasser, das da den hier gar nicht hart aussehenden Stein umspült.

TP: Genau. Der Fotokünstler heißt übrigens André Carvalho. Er macht wahnsinnig viele und wahnsinnig schöne dieser Langzeitbelichtungen. Und irgendwie war es einfach so passend!

VSz: Im Grunde macht er ja das mit Licht, was du auf dem Album mit der Geige machst: Dass du Dinge, und sei es ein Ton, in Langzeit beleuchtest. Ich finde auch, zum Schluss, auch wenn das ganze Album so viel mit Wasser zu tun haben scheint, zum Schluss hat es auch viel mit Licht zu tun.

TP: Ja, das stimmt. Schon der erste Titel heißt „Néon“! (kichert vergnügt vor sich hin, als hätte er etwas entdeckt, woran er große Freude hat)

VSz: Ich hatte noch zu „Collective“ notiert, diesem Schlussstück, wo vordergründig gar nichts, aber dahinter umso mehr passiert: „Es ist etwas jenseits von Inwortefassbarkeit, ein Spiel mit Schichten, Frequenzen, und, ja, auch wenn das mit Tönen eigentlich unmöglich ist, mit Licht. Im Grunde gilt das für die ganze Platte, die eine tongewordene Schwarzweißfotografie ist, voller flüssiger Schatten und im Moment eingefrorener Begegnung“. Und wenn du mir jetzt sagst, dass das Cover im Grunde ein eingefrorener Film ist, dann  bin ich überrascht, wie das zu passen scheint!

TP: Total! Also, diese wie du sagst: Schichten in schwarzweiß, die sind nicht einfach schwarzweiß, da kann man so viel entdecken! Wenn es aber ein vollfarbiges, leuchtendes Bild wäre, wäre man vielleicht auch überfordert und könnte darin weniger entdecken!

VSz: Die freiwillige Selbstbeschränkung der Form!

TP: Ja, Weil man dann einfach sagt, meine Aufnahmekapazität ist voll. Und darum finde ich die Schwarzweißparallele sehr schön.

VSz: Und dennoch muss man sich darauf einlassen, weil sonst sieht man nämlich nur schwarz und weiß und sonst exakt nichts, und sagt, jo, ganz hübsch. Auf dem Lied passiert halt sechs Minuten lang ein Ton – was soll mir das sagen?

TP: Genau. Und das werden viele sicher machen. Das wird nicht überall funktionieren. Aber die, die sich darauf einlassen, die haben plötzlich Platz, sich selber und ihre Welten und ihre Gedanken darin entfalten zu können. Es hat halt viel Platz, das Album.

VSz: Und das willst du auch, dass die Zuhörer sich ihre eigene Welt darin entfalten.

TP: Unbedingt! Ich glaube, das Gegenteil wäre, wenn man jemandem etwas aufdrückt und sagt, du musst dich jetzt glücklich fühlen, du musst dich jetzt schlecht fühlen …

VSz: Programmatische Musik!

TP: Zum Beispiel, ja. Und das ist überhaupt nicht das. Es ist diese Welt – und die hat so viel Freiraum. Ich meine, es kann sein, dass jemand kommt und sagt, dieser Song mache ihn so glücklich, und der andere sagt, er mache ihn total traurig. Weil er sie beide an etwas ganz anderes erinnert.

VSz: Und das ist für dich okay.

TP: Das finde ich super, weil ich hab keine Lyrics. Ich erzähle eine Geschichte, aber die ist eigentlich so abstrakt, weil ich ja nicht sage, ich gehe die Straße runter und geh dort in den Coffeeshop und hab Herzschmerz dabei – nichts von dem. Und doch ist das alles drin, wenn’s irgendwie passt.

VSz: Kommen wir noch einmal kurz auf das Äußere der Platte zurück: Am Anfang war diese Musik gar nicht für CD, sondern nur für Vinyl und digitale Veröffentlichung bestimmt. Warum?

TP: Das Label ist ein junges Schweizer Label, Zürcher Label namens Quiet Love Records. Und das sind zwei Leute. Es ist heutzutage irgendwie zeitgemäß … die haben keine großen Budgets und so, um die CD auf der ganzen Welt rumzuschicken. Und der Effekt, dass man in den Laden geht und das kauft, ist eigentlich vorbei. Wir haben dann gedacht, hey, CD, das hört eh niemand mehr, das will eh niemand mehr und haben sann gesagt, Vinyl und digital. Das kann man bestellen über Bandcamp, die Bestellungen kommen direkt zu uns, wir profitieren, wenn jemand das wirklich will – und sonst kann man das ja digital überall haben. Und die CD habe ich dann gemacht, weil ich gemerkt habe, dass ich doch ziemlich viele Leute ausschließe. Weil, ich habe gemerkt, in meinem Umfeld, auch mit dir zum Beispiel, wann kommt das physische Exemplar? …

VSz: Aber ich nehme ja auch gern Vinyl!

TP: Natürlich, das kommt noch. Es ist noch nicht da. Aber ja … Ich hatte das Gefühl, es sei zeitgemäß. Ich hatte überhaupt keine Lust, zweitausend CDs zu machen und die dann irgendwo zu stapeln, bis man die verkauft.

VSz: Auch kein Booklet und gar nichts …

TP: Nein, ich finde das irgendwie unökologisch, ich find’s komisch, ich finde, es ist vorbei.

VSz: Das heißt, die Entscheidung war dem Zeitgeist, der Ökonomie und Ökologie geschuldet, aber eigentlich keine künstlerische Entscheidung? Dass du sagst, diese Musik kann man nur von Vinyl hören …

TP: Nein, weil … nein. Ich finde, die Leute sollen die Sachen so hören, wie sie’s wollen. Ich bin überhaupt nicht dogmatisch, von wegen, man soll es nicht digital runterladen, man soll nicht nur einen Song hören und so. Die Leute sollen machen, was sie wollen und was sie fühlen! Es war einfach eine praktische, ökologische Überlegung. Ich finde, es ist ein bisschen vorbei mit dieser CD. Ich selbst habe keinen CD-Player mehr.

VSz: Tatsächlich nicht?! Aber findest du es nicht schade, wenn gerade Musik, die diesen großen Raum aufbaut, und an einer Stelle hatte ich das Gefühl, sie baue nicht aus tausend Sternen, sondern aus kargen Tönen einen Dom, dass die dann komprimiert wird auf das MP3-Format? Dass man die nicht wenigstens als FLAC-, wenn nicht als WAV-Datei hören sollte?

TP: Das! Ist! … Ich behaupte, ich hör’s nicht. Die Leute sagen, sie … also, viele, die sehr, sehr tief in Musik gehen, die hören das – ich persönlich hör’s, glaub ich, nicht. Wenn du mit mir einen Blindtest machst, würde ich die beste, hochauflösendste MP3 und die WAV wahrscheinlich nicht auseinanderhalten können.

VSz: Das möchte ich bei einem Geigergehör kaum glauben.

TP: Vielleicht schon – ich hab es einfach noch nie ausprobiert. Aber ich finde – klar! Wenn jemand Freude daran hat, eine gute Anlage hat, gute Kopfhörer hat, dann soll er sich das unbedingt in WAV holen. Wenn man bei Bandcamp das Album kauft, kann man es als WAV herunterladen. Bei iTunes glaub ich auch. Bin gar nicht sicher! Nur Spotify ist total MP3. Streaming.

VSz: Spotify benutzt man ja auch nicht. Aber das ist ein anderes Thema, Oder was sagst du als Künstler?

TP: Bin ich ganz anderer Meinung! Ich persönlich finde es eine großartige Geschichte. Wahrscheinlich bin ich da einer der wenigen, die in der Jazzthetik auftreten und diese Meinung haben …

VSz: Um nicht zu sagen: der Einzige!

TP: Weil es eben auch wieder Leuten die Musik erhältlich macht, die sonst nicht darauf kommen würden.

VSz: Dir geht es um Zugänglichkeit.

TP: Total! Ist doch schön! Also, wenn jemand irgendwo in der Pampa draußen den Titel vorgeschlagen bekommt und mich dadurch entdeckt – ich meine, das ist doch großartig!

VSz: Aber … das Albumkonzept!

TP: Ich finde, sogar wenn sie nur einen Track hören, ist das cool. Ich finde es toll, wenn man die Platte im Ganzen hört, aber auch, wenn man nur einen Track hört, finde ich das total okay. Das muss jeder für sich selber entscheiden. Um die Frage zu beantworten, warum wolltest du erst keine CD machen: Es ist absolut cool, wenn jemand in Brasilien sitzt und den zweiten Track hört und das dort teilt – großartig! Für mich ist das nur positiv. Ich finde es eine schöne Sache. Natürlich, die Industrie leidet, aber es werden neue Sachen kommen, die werden sich arrangieren. Dann werden halt die CD-Läden vielleicht ein bisschen kleiner, dafür gibt es dann aber Liebhaberplattenläden, die viel pointierter sind als das Saturn-CD-Zeugs. Ich glaube, die Menschen sind klug genug, die machen sich ihren Weg, man muss ihnen das nicht vorschreiben.

„Diver“ in der aktuellen Ausgabe der Fermaten. Danke an Christian Bohn für das nette Foto!
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