Ein Rettungsboot voller Lieder: jo_berlin und illute im Panda-Theater – klangverführer | Musik in Worte fassen

Ein Rettungsboot voller Lieder: jo_berlin und illute im Panda-Theater

Was für ein Kontrastprogramm! Am Vorabend noch Mascagnis Cavalleria rusticana und Leoncavallos Bajazzo in der Inszenierung David Pountneys unter der musikalischen Leitung von Cornelius Meister in der Deutschen Oper Berlin gesehen – und heute dann jo_berlin und illute. Keine Angst, ich verschone Sie hier mit einer Opernkritik, erlaube mir aber, beide Stücke mit je einem dem Popkosmos entlehnten Zitat zusammenzufassen. Da wäre erst einmal die Cavalleria rusticana, und es liegt auf der Hand: Whatever Lola wants, Lola gets! Dann der Bajazzo: Drama, Baby, Drama! Wer ein Faible für die italienische Oper schwurbelig-spätromantischer Provenienz samt ihrem plakativen, ja: melodramatischen Verismus hat, weiß, wovon ich rede. Kurz: Es war ein Fest. Und damit sind wir auch schon beim Thema, denn ein Fest war auch der vergangene Samstagabend, wenngleich grundsätzlich anderer Natur, kann man doch übersteigerte Emotionalität, Sentiment und überhaupt Dramatik weder jo_berlin noch illute vorwerfen.

Bevor ich weiterschreibe, möchte ich noch mögliche Interessenkonflikte offenlegen, denn bei den neuen Platten beider Künstler habe ich meine Finger im Spiel. So ist illutes So wie die Dinge um uns stehn die erste Veröffentlichung, deren von mir verfassten Waschzettel – also das Begleitschreiben, das Journalisten mit dem Rezensionsexemplar erreicht – ich mit meinem Namen gezeichnet habe. Viele Kollegen schreiben diese Texte, die meisten verzichten aber auf Namensnennung, da man sich ja nicht dem Ruch aussetzen will, sich mit (s)einer Sache gemein zu machen oder, bewahre, gar Redaktion und Promotion auf unzulässige Weise zu vermischen. Ich dagegen glaube mittlerweile, dass es durchaus legitim ist, für eine gute Sache die Werbetrommel zu rühren – und Platten von illute sind immer eine gute Sache, angefangen von ihrer allerersten EP bis zu ihrem Auftritt bei und mit The Stewardesses.

Mehr noch: Ich betrachte es als Ehre, wenn einem Künstler meine Texte so sehr gefallen, dass er bei mir danach anfragt. Bei der Novemberticket-EP von jo_berlin, der den Samstagabend für illute eröffnet hat und dem ich auch privat in Freundschaft verbunden bin, habe ich, kurz gesagt, fast alles gemacht – bis auf das Wichtigste, die Musik. Warum? Ich bin ganz verliebt in die Lieder von jo_berlin, seit ich sie zum ersten Mal gehört habe. Nicht ohne Grund habe ich ihnen vor zwei Jahren in meiner Klangköpfe-Serie viel Platz eingeräumt! jo_berlin findet Bilder, die nicht unbedingt naheliegen, Andeutungen, die immer mehr meinen, als sie sagen, und schreckt auch vor den ganz großen Begriffen nicht zurück, die anderen zu emotional oder gar pathetisch scheinen. Wer etwas auf seine Coolness gibt, verwendet die nicht. Und genau das mag ich an jo_berlin: Er ist nicht cool. Und damit viel cooler als alle, die cool sind.

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Teilen sich nicht nur die Bühne, sondern auch den Plattenkoffer: jo_berlin & illute

Nicht zuletzt ist jo_berlin auch derjenige, der illutes erstes Album Immer kommt anders als du denkst als „lebensrettende Platte“ bezeichnet und damit eine seither vielzitierte Phrase geprägt hat. Und letzten Samstag hat sich dieser Kreis mit einem gemeinsamen Auftritt beider Musiker nun endlich geschlossen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich ich war, all diese Lieblingslieder hören zu dürfen, live, an ein und demselben Abend. Und während jo_berlin das Konzert für illute eröffnet, kann ich zum ersten Mal am eigenen Leib erfahren, was genau es mit dem lebensrettenden, wobei ich lieber sagen möchte: heilenden Aspekt von illutes Musik auf sich hat, und zwar nicht nur im wörtlichen Sinne – ist doch meine Erkältung spätestens bei den letzten beiden Stücken des Abends vergessen -, sondern auch im übertragenden. Aber dazu später mehr. Erst einmal erfreut jo_berlin, der als ehemaliger Frontmann einer englisch-sprachigen Grunge-Band in der Hauptstadt nicht nur seinen neuen Namen, sondern auch seine ureigene Sprache gefunden hat, mit dem Blick des Zuzüglers, der Berlin dank seines Brotjobs aus einer Perspektive zu sehen bekommt, die selbst die meisten hier Geborenen nicht kennen dürften. Nicht nur im Lied findet er schöne Worte, sondern auch in der Ankündigung. Et voilà: Novemberticket! Und für die, denen das zu depressiv ist, wirft er schnell noch den Stein ins Meer hinterher, der sich in den nächsten Tagen – gib mir dies, gib mir das/aber gib mir irgendwas – noch als verdammter Ohrwurm erweisen soll.

Und dann kommt auch schon illute und fängt ohne größere Umbauten, Umstände oder Pausen gleich mit einem Lieblingssong ein: Sichtbar, den sie, wenn ich mich nicht täusche, schon auf der Tour mit den Stewardesses gespielt hat. Ich ärgere mich, denn ich stehe noch in der Schlange vor dem einzigen (!) Unisex (!)-Klo, das nach Auffassung des Panda-Theaters knapp einhundert Leute versorgen soll. Schade, gibt es eben kein Video von Sichtbar. Ich grummele noch eine Weile vor mich hin, bis mich ein zweistimmiger a capella Loop Song im Duett mit Geigerin Danielle Grimm betört, den ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Was kann man dazu mehr sagen als zauberhaft!

Ohnehin steht der ganze Abend – Stichwort Loop Song – im Zeichen der Klangschleifen, nicht nur im konkreten, sondern auch im übertragenden Sinn, er hallt nach, findet Anknüpfungspunkte zum Alltag und kommt in der Erinnerung immer wieder momentweise hoch. Ich ertappe mich dabei, Ausklang des Abends noch tagelang vor mich hinzusummen. Mein Matrose, ein, verzeihen Sie die Wiederholung, zauberhaftes Wiegenlied, von dem ich wünschte, es wäre mir eingefallen.

An maritimen Bildern herrscht auch sonst kein Mangel bei illute, weder auf ihrem aktuellen Album So wie die Dinge um uns stehn, wo mal der „Horizont bleibt, wo er immer war“, mal „Kein Land in Sicht“ ist oder „die Hoffnung über Bord“ fällt, noch auf dem Vorgängeralbum Immer kommt anders als du denkst, auf dem sich mit My Music Is A Boat mein persönliches illute-Lieblingslied aller Zeiten versteckt. Hier toll mit großer Band – Daniella Grimm an der Violine, Jacob Przemus am Schlagzeug, Philipp Schwendke am Bass und als Special Guest zu meiner besonderen Freude einer großartigen Julia A. Noack an den Vocals – und, um im Bild zu bleiben, voller Maschinenkraft:

Nicht nur, dass ich an diesem Abend vor illute auch als Sängerin ganz neuen Respekt bekommen habe – sie kann eben nicht nur diese niedlichen Songminiaturen, für die sie bekannt ist und denen dank ihrer aus dem Spielzeuginstrumentarium rekrutierten Begleitung wie Melodica oder Ukulele immer auch etwas ganz Kindliches innewohnt -, auch hat der Song für mich an diesem Abend eine ganz persönliche Bedeutung angenommen und mich im Schnelldurchlauf gelehrt, mich auf das, was illute hier „my music“ nennt und was Sinnbild nicht nur für die Musik, das Schreiben, die Arbeit, sondern auch das täglich zu lebende Leben sein kann, zu konzentrieren. Wem die Alltagsaufgaben, in denen er aufgeht, sein Boot sind, segelt damit fort, den Fahrtwind in den Haaren, und derjenige, der ihn kürzlich sehr geärgert hat, wird langsam aber sicher immer kleiner und unbedeutender. Treffender als mit „my music is a boat on the water/the wind is in my hair and you are getting smaller“ hätte ich das auch nicht ausdrücken können, und obwohl ich keine Ahnung habe, ob es das ist, was illute mit diesem schönen Bild beschreiben wollte, fühlt es sich für mich richtig an und selbst mich von dem Lied verstanden, in ihm aufgehoben und getröstet. illute versteht es, die Dinge, die uns umtreiben, in einfache Reime zu kleiden, die einen Mantra-artig durch die Tage, vor allem die weniger guten, leiten. Das ist es, was jo_berlin gemeint hat, als er von den lebensrettenden Liedern der illute sprach, die in keine musikalischen Hausapotheke fehlen dürfen.

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