Wir tanzen Mechanik! Der Algorithmus hat dem Musikjournalismus längst den Rang abgelaufen – klangverführer | Musik in Worte fassen

Wir tanzen Mechanik! Der Algorithmus hat dem Musikjournalismus längst den Rang abgelaufen

Hier geht es um die Perspektive auf den Musikjournalismus im Zeitalter des Internet. Das hat etwas von Wir-wollen-eine-Lawine-mitten-im-Herab-
stürzen-aufhalten. Der streitbare Lars Brinkmann (GRIMM) stellt die erste These in den Raum: „Die Plattenkritik ist auf den Hund gekommen. Zumindest was das gedruckte Wort betrifft. Ich mache mich nur noch durch Blogs kundig.“ Mehr noch, das breite Publikum scheint bei Auswahl und Empfehlung von Musik nicht mehr dem Musikjournalisten seiner Wahl, sondern vielmehr dem Bewertungsalgorithmus seiner bevorzugten Shopping-Plattform wie etwa Amazon oder „personalisierten“ Online-Radiostationen wie last.fm oder Pandora zu vertrauen. Das dahinter stehende Prinzip lässt sich auf die Grundfrage „Welche Songs könnten in ähnlichen Kontexten ähnlich klingen?“ herunterbrechen, sprich: man berechnet Ähnlichkeit. Einer, der das von Berufs wegen tut, ist der Musik- und Künstliche Intelligenz-Forscher Dr. Stephan Baumann, der allerdings mit folgender Aussage erstaunt: „Ich nutze privat keinerlei Empfehlungsalgorithmen.“ Ihn interessieren eher fast schon philosophische Fragestellungen: Wie einzigartig ist ein Mensch in seinem Musikgeschmack? Gibt es so etwas wie einen Mittelwert, um den wir alle herumtänzeln wie um das Goldene Kalb? Brinkmann bringt auf den Punkt, was alle bewegt: „Ein System hat mir noch nichts empfohlen, was ich interessant fand.“ Und tatsächlich hat ein computergestütztes Empfehlungssystem ein immanentes Problem: Es versucht immer, aufgrund einer bestimmten Sache etwas Ähnliches zu empfehlen, aber nie etwas Neues, Interessantes. Insofern könne ein Algorithmus lediglich den Plattenhändler ersetzen: Dieser hat auch immer etwas Ähnliches empfohlen. Der Musikjournalist hingegen mache etwas ganz anderes: Eine klassische Plattenkritik habe weniger den Sinn zu sagen, was der Leser kaufen soll, als ihm einen Überblick darüber zu verschaffen, was es alles so gibt. Auch (und gerade) wenn der Musikjournalismus als „Empfehlungsmaschine“ nicht mehr die Rolle spiele, die ihm eins gebührte, sei er nach wie vor die schwierigste Disziplin im Kulturjournalismus. Prof. Dr. Lorenz Lorenz-Meyer von der Uni Darmstadt übt mit seinen Studenten regelrecht das Verfassen von Musikkritiken: „Einen Klang adäquat zu beschreiben – das ist das Schwierigste überhaupt!“ Und Beschreibungen, Kontext, Konnotationen, erzählte Geschichten, kurz: das Wort, können nie durch bloße Algorithmen ersetzt werden, weshalb der Musikjournalismus dies nun umso mehr leisten müsse. Doch was macht den Mehrwert des Musikjournalismus aus, in Zeiten, wo jeder Blogger Geschichten erzählen kann, und das manchmal auf erstaunlich hohem Niveau? Das Panel einigt sich auf Leidenschaft, mit der man die Sache betreibt und Individualismus, der im Text spürbar wird. Beides allerdings könne Bloggern wohl kaum abgesprochen werden … Übernehmen wir also alle die Funktion, die die Musikjournalisten einst innehatten? Was macht den Vorsprung des Profis gegenüber dem Amateur aus? Man kommt ins Grübeln. Gerade bei Musik sind die sogenannten Amateure, die Fans, ja mit großer Leidenschaft bei der Sache – man denke hier nur an Wikipedia, wo die am sorgfältigsten und liebevollsten redigierten Stichworte aus dem Musikbereich stammen! Findet tatsächlich „der lesenwerte Musikjournalismus heutzutage in Blogs statt“ (Brinkmann)? Lorenz-Meyer hält dagegen. Für ihn sind die Qualitätskriterien im Musikjournalismus die des allgemeinen Kulturjournalismus, als da wären: Recherchetiefe (genau hinhören), Verständnis (zuordnen können), Wahrnehmungskomplexität sowie die Fähigkeit, all diese auch umzusetzen, sprich: mitteilen zu können. Nichtsdestotrotz kann man sich des Gedankens nicht erwehren, dass hier der Abgesang auf den professionellen Musikjournalismus vollzogen wird. Das Panelzelt ist voll, denn immerhin geht es um uns, um (Ex-)Print-Journalisten, die jetzt bloggen – kein Wunder, dass irgendwo die Vokabel „Selbstverliebtheit“ fällt. Hier beweint sich eine aussterbende Spezies. Vielleicht ist uns allen mit dem Gedanken der Entschleunigung gedient: Dass man nicht mehr versucht, dem Release hinterherzuschreiben, sondern die CD – und weshalb auch nicht? – etwa ein halbes Jahr nach Veröffentlichung bespricht, dafür aber in einer ihr angemessenen Form, was zumeist heißt: mit mehr Worten. Abgesehen vom wirtschaftlichen Druck fragt sich natürlich, wer einem diesen Platz zur Verfügung stellt. Da hab ich persönlich es gut getroffen, für ein Magazin zu schreiben, das sich den Claim „authentisch, ausführlich, interaktiv“ auf die Fahnen geschrieben hat. fairaudio hat nie auf tagesaktuellen Journalismus geschielt und mir immer die Freiheit gelassen, Platten so zu besprechen, wie ich es für richtig hielt – ein Vorgehen, welches Hand in Hand geht mit dem Brinkmann’schen Wunsch für die Zukunft des Musikjournalismus: weniger Platen zu besprechen, aber diese angemessen lang. Als Fazit bleibt trotz allem: „Der Musikjournalismus ist nicht tot, er hat sich verändert!“

Die komplette Diskussion samt den von mir hier unterschlagenen Teilen zur Allverfügbarkeit von Musik, zur digitalen Arroganz in Form von personali-
sierten Algorithmen und der Suche mittelalter Männer nach dem Weg zum perfekten System finden Sie hier.

Soviel Theorie macht hungrig. Ich stelle mich am Cateringstand an und
freue mich auf meine Mittagsverabredung. In der Zwischenzeit übernimmt Kopfhörerhund das Feld. War ja klar, was jetzt kommt …

Kopfhörerhund meint: Ich hab ja schon immer ge-
wusst, dass Hund und Musik mehr miteinander zu tun haben als gemeinhin angenommen. Die diesjährige (Pop Up ist der beste Beweis. Nicht nur, dass sie selbst einen Dalmatiner-Welpen im Logo führt, nein, da gibt es French Bulldogs, deren Leibchen für Fritz Kola werben, …

… den Messestand der Freiburger Waggle-Daggle Records mit
Maskottchen Falco …

… oder den Münsteraner Musiker Herrn Hund, der sich hinter dem
Omaha-Stand versteckt.

Der macht übrigens nicht nur wirklich hübsch anzusehende CD-Hüllen,
die schon fast kleine Preziosen sind – was Wunder, wenn man gelernter Grafiker ist! –, sondern auch sehr schöne Musik: Seine On Your Shirt-EP
wird behutsam eröffnet von Killers Kiss, einer den Hörer zunächst in trügerische Sicherheit wiegenden Singer-Songwriter-Nummer, die sich zum schrammeligen Rock-Stück steigert, gefolgt vom fröhlich-lärmenden Titeltrack On Your Shirt, um sich bei Soft & Crispy einer ziemlich schrägen Klangorgie hinzugeben, als hätten Elvis Costello und Jimmy Somerville einen bislang sorgsam vor den Ohren der Öffentlichkeit verborgenen unehelichen Sohn – folgt man dem Label, wären die Eltern allerdings eher Damien Rice und die frühen Radiohead.

Nach dem schon sehr speziellen Song mit dem langen Titel F*?!, You Mean
A Dog Fell In Love With A Girl,
bei dem die Stimme Hunds, teilweise getragen von einem 6/8-Walzer, das ein oder andere mal schon ins hart-an-der-Grenze-zum-Weinerlichen umschlägt und den man entweder lieben oder hassen kann, wird die EP vom knowskools-Stück 6 AM beendet, das dank seiner Basslastigkeit deutlich poppiger daherkommt als die Stücke aus der Pfote, pardon: Feder, Hunds.

Ich persönlich mag die alte EP Demos 2004–2008 lieber: Sie ist zwar einer-
seits weniger schräg, andererseits aber aufgrund des Einsatzes von Vokal-
harmonien (okay, im Falle Hunds: -dissonanzen) musikalisch interessanter. Der dritte Song, My Refrigerator’s Life, schleicht sich südlich leicht und unbeschwert ins Ohr, ist das etwa ein Samba? Und höre ich auf In Venice
gar einen Kamm, auf dem da geblasen wird? Mit allerlei Glockenspiel wird
es jedenfalls nie langweilig, und viele der Stücke haben den Anschein, als überlegten sie sich ihr So-Sein mittendrin noch einmal und entschieden sich dann für ein Anders-Sein. Dass Herr Hund mit dem Künstlernamen, der gar kein Künstlername ist (denn er heißt wirklich Christian Hund!), auch „richtig“ singen kann, stellt er auf dem letzten Stück der Demos, Lipstick Dampness, unter Beweis. Ein melancholischer Mädchensong mit dem Tenor I drove you home tonight / and then I left you … Wer Herrn Hund hören möchte, wird hier und hier fündig sowie natürlich bei Omaha selbst, in deren Hausladen man die hübschen CDlein auch erstehen kann.

Das war jetzt aber noch nicht alles an Hund, was die (Pop Up zu bieten hatte! Da war nämlich noch …………… Girella!

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Comments (2):

  • Caroline Henderson im Klangverführer-Interview: über die Essenz der Lust, das deutsche Jazz-Publikum und ihre Liebe zu einem ganz besonderen Hund namens Billie «

    […] Medien und dem gleichzeitigen Überhandnehmen von Social Media – nicht unähnlich dem in Der Algorithmus hat dem Musikjournalismus längst den Rang abgelaufen verhandelten Gedankengut, in dem es primär um die Selbst- bzw. Neupositionierung (und vielleicht […]

  • Das Evangelium eines jeden Jazz-Liebhabers: die neue Victoriah’s Music ist online «

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