Close together from afar – jazzahead! digital – klangverführer | Musik in Worte fassen
Close together from afar – jazzahead! digital

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Fünfzehn Jahre jazzahead!, zehn Jahre jazzahead! Festival – dieses Doppeljubiläum sollte eigentlich 2020 begangen werden, aber aus allseitig bekannten Gründen wurde nichts daraus. Diesjahr dann also digital. Hatte man sich schon längst auf der entsprechenden Plattform registriert und auf gemütliche Sofatage mit Live-Stream eingerichtet, hieß es in letzter Minute doch noch: zwanzig Journalisten können pro Produktionstag in Bremen unter Einhaltung eines strengen Hygienekonzepts live dabei sein. Am 22. April – exakt eine Woche vor Festivalbeginn also – rauschte die Einladung durch den Presseverteiler.

Eingedenk der Tatsache, dass ich zu meiner ersten jazzahead! dank genau so einer Spontanaktion gekommen war (und wir alle wissen: wer einmal dabei war, ist ab jenem Moment Teil der Familie und künftig immer dabei, da gibt es keine Ausreden – zum einen, weil man selbst Blut geleckt hat und immer wieder auf der Suche nach einer Wiederholung des allerersten Geflashtseins ist, zum anderen, weil einen die Sippe nicht mehr entkommen lässt), meldete ich mich kurzentschlossen an, nahm einen Urlaubstag im Parallelgewerbe, brachte den eigentlich ununterbringbaren Hund unter – und bin nun also hier: Good morning Bremen, my love!

Wobei es recht eigentlich Abend ist. Aufgrund unvorhersehbarer Terminkollisionen, wie es im Businessdeutsch so schön heißt, was alles und nichts bedeuten kann, in meinem Falle jedoch, dass das Parallelgewerbe mehr als einen Urlaubstag nicht gewähren konnte, fuhr ich erst am Freitagabend in die Hansestadt ein. Dabei war auch diesjahr der Donnerstag, der klassischerweise Eröffnungsreden, diversen Check-ins, ersten (Re-)Meets&Greets und der Showcase-Nacht des jeweiligen Partnerlandes vorbehalten ist, schon Produktionstag. Ich verpasse das Eröffnungskonzert von Markus Stockhausen ebenso wie das dänische Pianosextett Red Kite und drei niederländische Gruppierungen: Sun-Mi Hong Quintet, Guy Salamon Group und Rembrandt Frerichs Trio.

Auch am Freitag hat bereits Heidi Bayers „Virtual Leak“ gestreamt, bevor ich auch nur am Bahnhof bin, hat der Zug aus Hamburg doch Verspätung. Der – wie immer – vorzüglichen Pressebetreuung gelingt es jedoch, mich derart schnell mit Bändchen & Badge zu versorgen, dass ich, 17:50 Uhr am Hauptbahnhof angekommen, zu 17:55 Uhr der Livestream-Produktion des Kölner Quartetts NIAQUE beiwohnen kann. Um den tagesaktuellen Corona-Negativ-Test, ohne den niemand in die Messehallen gelangt, hatte ich mich schon am Vormittag in Berlin gekümmert.

Apropos Halle. Da wir es diesjahr mit einer Messe ohne Messe zu tun haben, wird nur eine Bühne gebraucht. Und weshalb nicht die größte und schönste nehmen, die die Messe Bremen zu bieten hat? Was sonst immer auf die Messehallen 7.1/7.2 und den Schlachthof verteilt ist, findet nun in der ÖVB-Arena statt. Das ist eine Halle für bis zu 14.000 Menschen. Wir sind zu zehnt: drei Journalisten, zwei Leute von der Messe, eine Kamerafrau, zwei Kameramänner, ein Licht- und ein Tontechniker. Plus das Quartett auf der Bühne.

Es ist spooky. Vor allem aber wahnsinnig spannend. Ich fühle mich an das Messejahr 2017 erinnert, wo mir das Presseteam den uneingeschränkten Zugang hinter die Kulissen von Festival und Messe ermöglichte, um meine Abschlussreportage „180 Minuten – Countdown zur Eröffnung der jazzahead!“ nebst Recherchedokumentation für das Deutsche Journalistenkolleg zu schreiben. Nicht weniger geisterhaft ist die Stadt selbst, der ich noch am selben Abend einen Besuch abstatte. Bremen hat, im Gegensatz zu Berlin, eine Ausgangssperre ab 21:00 Uhr verhängt, und damit die Pandemie zwar strenger, aber auch deutlich besser im Griff als die Hauptstadt. Der Marktplatz: verlassen. Wo sonst auch um diese Zeit noch Touristentrauben drängen, um sich vor den Stadtmusikanten ablichten zu lassen oder dem Esel einen Wunsch mitzugeben, herrscht gähnende Leere, und das, obgleich einzelne Klimaschützer auf dem Marktplatz protesthalber dauerkampieren. Ein paar Polizeiwannen, ein paar versprengte Aktivisten – und eine Handvoll jener, die berufsbedingt unterwegs sind. Auch wir jazzahead!-Arbeiter haben eine entsprechende Sondergenehmigung in der Tasche. Ich stehe mitten in der Stadt in der Fußgängerzone auf den Straßenbahngleisen. Kein Mensch, nirgends. Allein für dieses dystopische Erlebnis hat sich die Reise gelohnt.

Auch die Glocke, traditionsreicher Austragungsort des jährlichen jazzahead!-Galakonzertes: zu.

Wiese nicht die eine oder andere einsame Leuchtreklame auf sie hin, stolperte nicht der eine oder andere Musiker spätnächtlich zu den wenigen geöffneten Versorgungsquellen – es gäbe keinen Hinweis auf die Messe.

Obwohl am nächsten Tag der 1. Mai und somit Feiertag ist, stehen sechs Produktionen auf dem Plan. Nach dem tagesaktuellen Test in der Messe, der nach meinem Empfinden ebenfalls bedeutend strenger organisiert ist als in Berlin, erlebe ich – und entdecke für mich neu – das niederländische MAKA Kollektiv um die finnische Sängerin und Trompeterin Kirsi-Marja „Kiki“ Harju im Rahmen des European Jazz Meetings, denn seinen vertrauten Formaten ist das Festival weitestgehend treu geblieben. Es gibt neben dem erwähnten European Jazz Meeting die Canadian Concerts des Partnerlandes, die Overseas Night und die German Jazz Expo. Nicht alle davon werden in den Messehallen produziert. Heute stehen nach dem KAMA Kollektiv noch folgende Acts an: Tilo Weber Quartet „Four Fauns“, The True Harry Nulz, Nau Trio, Neferititi Quartett und Tobias Meinharts „Berlin People“. Ich konzentriere mich auf Weber und Meinhart, muss ich doch, wie so oft, extra die Hauptstadt verlassen, um den Berliner Schlagzeuger, Komponisten und Malletmuse-Labelgründer Weber sowie den Saxophonisten und Teilzeithauptstädter Meinhart zu treffen und sprechen. In Bremen ist endlich Muße dafür.

Tilo Weber hat mit seinem All-Star-Quartett Four Fauns gerade das Zweitwerk Faun Renaissance veröffentlicht, wobei sich der Titel nicht auf die Wiederkunft des Quartetts bezieht, sondern tatsächlich auf die Musik der Renaissance, die Weber hier eigenen Worten zufolge „durch den Wolf gedreht“ hat. Dabei hört man schon vom ersten Ton des Openers, der Gesualdo-Komposition „Se la mia morte brami“, dass es sich um das Album eines Schlagzeugers Handelt, denn auch, wenn Bass, Klarinette und die sich sehr ins Soundgefüge flechtende, überraschend WahWah-lose Trompete Richard Kochs über allerlei Tempiwechsel zart Kontra geben – vor allem klappert’s, rührt’s und scheppert’s hier. Erst mit der darauf folgenden Ockeghem-Komposition „O Rosa Bella“, deren Schlagwerk immer etwas enorm Rührtrommelartiges, Marschbegleitendes aufweist, wird dem Hörer bewusst, dass er es mit – bekannten und weniger bekannten – Reinterpretationen von Melodien der Renaissance zu tun hat, hätte das erste Stück doch durchaus auch als Eigenkomposition Webers durchgehen können. Schön: „Calextone, qui futdame d’Arouse“ mit seinem sekundenbruchteilkurzen Intro von gestrichenem Kontrabass, über dem Kochs – immer noch ungewohnte, weil ungedämpfte – Trompete die Fanfare gibt, bis eine gequälte Klarinette den Eindruck erweckt, hier wäre mindestens ein Synthesizer mit am Start, was aber nicht sein kann, weil die Fauns ein Akustikquartett sind. Und das hat offenkundigen Spaß an der Klangauslotung sowie der mal vollendet harmonisch parallelen, mal kunstvoll gegenläufigen Stimmführung.

Seite A der Platte endet mit dem „Canon Couperin“, von dem man annehmen könnte, dass er ins Repertoire der Alten Musik gehört, derweil er tatsächlich eine Neukomposition Webers ist, der hier das Metronomische von Barock und Renaissance, das hier vor allem vom (Walking?)Bass kommt, betont, das sich wiederum mit etwas Oh-So-Luftigem der Klarinette verbindet, zu der sich in perfekter Zweistimmigkeit die Trompete mal hinzugesellt, mal quietschend ausschert, derweil Weber besensanft begleitet, um bald schon wieder in Klappergeräuschexperimente abzudriften, sich insgesamt aber ungemein zurücknimmt, was das Ätherische der Komposition einmal mehr aufblühen lässt. Auf der digitalen Version gibt es jetzt noch „Mesomedes‘ Hymn to the Muse“, ein Jazz-Jazz-Stück – was das ist, steht hier unter der Rezension von Peter Schwebs Quintet – in Reinform, das es nicht aufs Vinyl geschafft hat.

Dessen Seite B startet mit einer weiteren Weber-Komposition: „Kyrie V“. Und als hätte er das Dystopische der leeren Stadt geahnt, ist sie ihm ein bisschen gespenstisch geraten. Da läuten Totenglocken. Nicht ohne Grund gibt es in jedem Requiem eine Kyrie. Ganz, ganz zart schließt sich eine weitere Eigenkomposition namens „Here Comes Everybody“ an, die eine Tür im Hörer zu öffnen versteht, sodass er sich ab 4:20 gern von der einmal mehr alarmistischen Fanfare zum Appell rufen lässt. „Ma fin est mon commencement“ besticht, um nicht zu sagen: erschreckt mit Störgeräuschigem, Electro-Clashigem, und wieder ist da diese Synthesizer-Anmutung, die zum munteren und dabei irgendwie auch pastoral-beschaulichen (Kreis-)Tanz ruft, der zum wilden Gypsie-Swing gerät, bis wir ganz zum Schluss dann auch die Koch’schen WahWahs sowie allerlei anderes Distortion hören. Mit der sehr getragenen, nahezu zeremoniellen „Kyrie“ aus Palestrinas „Missa Papae Marcelli“ entlässt das Album den Hörer … fast möchte ich schreiben: geheiligt. Doch wirkt sie nicht nur erhebend nach, sondern vor allem auch besänftigend, beruhigend, Ja: Ruhe gebend. Geistesruhe. Seelenruhe. Schön, das.

Ich spreche mit Tilo Weber über das Album, klar, aber auch darüber, dass das Tiefe in der Kunst nicht durch Leiden entsteht, sondern durch Hingabe, sowie über die Situation des Jazz im Lockdown. Natürlich gehört auch die Verortung des Gefühls, in die leere Riesenhalle hineinzuspielen, dazu. Zu diesem befrage ich auch den mittlerweile seit dreizehn Jahren in New York lebenden, seine Sommer aber immer in Berlin verbringenden Saxophonisten Tobias Meinhart. Der hatte 2019 mit einer Handvoll Berliner Musiker das Album „Berlin People“ aufgenommen, die Releasetour und ein paar weitere Konzerte gespielt, bevor er vom Lockdown ereilt wurde. Unter dem Motto „ECM trifft Blue Note“ unterhalten wir uns über die europäische und die amerikanische Jazz-Tradition, über Meinharts musikalische Familiengeschichte und das erhoffte baldige Ende der Pandemie.

Das sehnen alle Musiker in Bremen herbei. Manche fragen ängstlich, ob man ihnen angehört hätte, dass sie so lange nicht mehr aufgetreten wären – aber insgesamt überwiegt die Freude darüber, endlich wieder spielen zu dürfen, wenn auch vor leeren Hallen. Vor den Bildschirmen indessen haben neunhundertzwei Teilnehmer aus fünfzig Nationen sowie neunzig Aussteller aus einundvierzig Ländern an der digitalen Fachmesse teilgenommen, zu der auch die Live-Streams der Showcases gehören. Einige Wochen später wird man sie auch einem Nicht-Fachpublikum zugänglich machen. Wie es war, sich auf einer Messe, die von der persönlichen Begegnung lebt, rein digital zu tummeln, müssen indessen die Menschen vor den Bildschirmen beurteilen. Die Live-Produktion ließ wenig Zeit, mich in die bereit gestellte Plattform einzuloggen. Allerdings steht auch diese den Registrierten noch bis Ende Juli offen, sodass das Weiterspinnen des Jazznetzes auch unabhängig von den tatsächlichen Messetagen möglich ist.

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