My Berlin Music Week: zwischen leeren Stühlen, authentischer Imitation und der endgültigen Entmystifizierung des Songwritings – klangverführer | Musik in Worte fassen

My Berlin Music Week: zwischen leeren Stühlen, authentischer Imitation und der endgültigen Entmystifizierung des Songwritings

Nachdem man letztes Jahr mit der in die Berlin Music Week eingebetteten Popkomm alles anders machen wollte als vorletztes, wo man mit nämlichem Ziel antrat, um daran grandios zu scheitern, hat man dieses Jahr die Popkomm kurzerhand gestrichen. Zumindest den Messeteil. Länderorientierte Showcases sowie die Conference genannten Podiumsdiskussionen, in denen über die Zukunft der Musikindustrie meditiert wird, finden auch dieses Jahr statt, wenngleich man dem Kind einen anderen Namen gegeben hat: Word on Sound nennt sich das Sammelsurium aus Impulsreferaten und Workshops, untertitelt mit Die neue Plattform für Professionals. Das Ganze gibt es, schon allein – aber nicht nur – aus geographischer Sicht industrienah, im Spreespeicher in der Stralauer Allee.

Uninteressant sind die in die Segmente Arts and Polity, Werkstatt, Most Wanted: Music, World Nightlife Fund, Green Berlin Music Week, Master Class, digi-digi con, Denkfabrik und Umg€ld unterteilten Veranstaltungen indessen nicht, denn mit Themen wie „Kapitalismus, Kreativität und die Krise der Musikindustrie“, „Was wurde aus den Utopien der frühen elektronischen Clubkultur?“ oder „Studien zu Herrschaftssturkturen“ verharrt man wenigstens nicht wie sonst im Bejammern der aktuellen Entwicklung, sondern bringt einen Hauch Kapitalismusikritik in die Diskussion ein, die hoffentlich mehr zu bieten hat als die wohlfeile Klage über die Gentrifizierung der Subkulturen.


Ein schöner Ort, dieser Spreespeicher. Kein Wunder, dient er sonst doch als virtueller Indoor-Golfplatz für die Reichen und Schönen.

Freilich schwingt die Tanz-am-Abgrund-Stimmung auch dieses Jahr mit, von Kollege Jens Balzer für die Berliner Zeitung kongenial mit Genieße es, so lange du noch kannst übertitelt und von mir nur ganz leicht aus dem Zusammenhang gerissen. Praktische Antworten auf die Krise werden indessen gewohnt konventionell gegeben, auch wenn man trefflich daran zweifeln kann, ob Streaming das Heilsversprechen der Musikindustrie der Zukunft ist. Ich bin nach wie vor fest davon überzeugt, dass Menschen ihre Musik auch besitzen wollen – und wenn sie schon auf physische Tonträger verzichten, dann wenigstens als Datei auf ihren Festplatten. Sämtliche virtuelle Speicher, Clouds und was nicht alles noch kranken an dem selben Problem: Mensch vertraut ihnen nicht, getreu der Urangst: Was, wenn morgen das Internet abgeschaltet wird?


Hat mittlerweile dreijährige Tradition: das Speise(karten-)foto der Berlin Music Week auf Klangverführer.de

Ich werfe bei einem ersten Rundgang erst einmal einen Blick in The New TV: The Evolving Landscape of Online-Videos und Stuff, you will love to watch. Neue Geschichten, neue Formate, neue Partizipationen. Gut: Man hat verstanden, denen über die Schultern zu schauen, die nach dem Tod des klassischen Musikfernsehens Musikvideos kreieren, welche sich wie ein Lauffeuer in der YouTube-Landschaft verbreiten, beispielsweise den genialen Gregory Brothers mit ihrer Autotune the News-Reihe. Was man noch verstehen will: Was machen die, was herkömmliche Musikvideo-Produzenten nicht machen – und vor allem: Wie machen die das? Leider sind die Reihen in der Zuhörerschaft recht spärlich besetzt.


Wenig los im Fachpublikum …


… sowie draußen …


… und auch drinnen.

Vielleicht muss die Musikindustrie zuallererst einmal verstehen, dass sie, wenn sie als Industrie auftritt, machen kann, was sie will: Das Vertrauen ist ohnehin weg. Da scheint mir das Konzept Let’s Build Our Own Industry des For-Artists-By-Artists-Künstlerkollektivs A Headful Of Bees schon zukunftsweisender. Kreiert wird hier auf D.I.T. (Do It Together)-Basis, der monetäre Aspekt soll auf Freiwilligkeit beruhen, denn schließlich operieren Cafés und Konzertveranstalter mit dem „Jeder zahlt am Schluss, soviel es ihm Wert war“-Konzept ja auch recht erfolgreich, wie A Headful of Bees-Mitglied Eric Eckhart im Interview einräumt. Dazu aber später noch mehr, denn erst einmal steht die offizielle Eröffnungsveranstaltung der Berlin Music Week an – „15 Jahre Radio Eins“ im Tempodrom.


Ein einsamer BOSE hält tapfer die Stellung

Der Abend verspricht, lang zu werden, denn fünf Künstler treten hier auf, vom Hamburger Singer/Songwriter Olli Schulz und der grandiosen Gemma Ray über die Gangsta-Swing-Oriental-Balkan-Surf-Punker BudZillus bis hin zum Schmusesoulsingersongwriter Jonathan Jeremiah und den TripHop-Rockern Archive aus London – zum Teil begleitet vom Filmorchester Babelsberg, das auch schon Künstlern wie The BossHoss oder Peter Fox streichender-, trompetender- und paukenderweise die nötige Portion Schmelz – und manchmal auch Pathos – verliehen hat.

Den Auftakt macht Olli Schulz, der ganze vier Songs spielen durfte – und das ohne Orchesterbegleitung, worüber er sich wortreich beschwert. Außerdem sei die Garderobe zu klein, und an Sclaf schon lange nicht mehr zu denken, ist doch unter seiner Wohnung ein Bubble Tea-Laden eingezogen, der bis nachts um eins des Künstlers zarte Ohren belästigenden Kirmestechno spielt. Auch die Kollegen der Welt bekommen ihr Fett weg, haben sie sich doch erdreistet, Schulz via Überschrift zum „Klamauk-Barden“ zu machen. Ohnehin scheint latentes Angepisstsein bei dem Songwriter zur Masche zu gehören – trotzdessn oder gerade deshalb lieben ihn die Frauen, die sich angesichts der Schlechtigkeit der Welt ein Schwesternhäubchen aufsetzen und Schulz vor allem Unbill abschirmen können. Wie schon beim Interviewtag, wo dem notorisch übellaunigen Sänger ein mit „We Love You“ beschrifteter Bierdeckel zugetragen wird, ruft hier eine Frau nach seiner Beschwerdelitanei zu: „Ich hab‘ dich lieb“. Und egal, wie Schulz sich auch ereifern mag und wie sehr man auch nie weiß, was davon er ernst meint und was nur Show ist, liebhaben muss man einen Mann, der so schöne Lieder schreibt wie Schrecklich schöne Welt auf jeden Fall!

Schrecklich schöne Songs spielt auch die britische, in Berlin lebende Fifties- bzw. Sixties-Retropop-Sängerin Gemma Ray, bei der erstmalig an diesem Abend das Filmorchester aufgefahren wird.

Besonders gefällt mir Flood and a Fire von ihrem aktuellen Album Island Fire, das ich mir in der Pause dann auch dringend auf Vinyl kaufen muss. Leider habe ich kein Video davon machen können, aber dafür ein weiteres, das um das Thema Feuer kreist: Fire House.

Die Berliner von BudZillus, wegen denen ich eigentlich hier bin, spielen sich in furiosem Tempo durch ihr neues Album Auf Gedeih und Verderb, aber, ich kann mir nicht helfen, auf der Platte scheint mir vieles bedeutend besser gemixt. Gerade die Vocals haben im Tempodrom’schen Raumklang schwer zu kämpfen, und was Thomas Prestin vor sich hinklarinettiert, ist, bei allem Respekt: vorhersehbar. Am Sax hingegen gefällt er mir ausnehmend gut – und das „Tier“ am Schlagzeug verdient einfach nur Bewunderung und Respekt, denn getreu ihrem Motto „Wir spiel’n weiter“ spielt er einfach immer weiter, und das bei dem Speed – ob er jeden Abend ein halbes Kalb verspeist? Hier jedenfalls It’s Up To You:

Auch wenn ich mich heute Abend nicht des Gefühls erwehren kann – das ich beim Hören des grandiosen Albums Auf Gedeih und Verderb übrigens nicht habe -, hier die authentische Imitation einer Balkan-Kapelle zu sehen – die Leute lieben es, und erstmals an diesem Abend werden Zugabe-Rufe laut, denen man ob des straffen Zeitplans aber leider nicht nachkommen kann. Wobei, was heißt leider: Im Grunde ist das einer der großen Vorteile von Radio-Konzerten, ob live ausgestrahlt oder für spätere Sendungen mitgeschnitten: Der Zeitplan wird eingehalten, ewiges Warten auf den Hauptact gibt es nicht, man kommt früh genug ins Bett.

Davon bin ich heute Abend aber noch weit entfernt, denn jetzt kommt erst einmal Jonathan Jeremiah, dessen Existenz mir bislang völlig entgangen war, der sich aber nach anfänglich zauderndem Singer-Songwriter-Allerlei als gestandener, am Motown-Retro-Sound orientierter Soulrocker mit Eiern erweisen soll. Bei Heart of Stone sind gar die Nutbush City Limits nicht weit – das groovt!

Weshalb man allerdings Archive zum Hauptact des Abends gemacht hat, entzieht sich meinem Verständnis komplett. Egal, wie oft ich mir das anhöre – ich finde es grässlich, und dabei bin ich TripHop-Fan der ersten Stunde! Wer das geil findet, schreibe mir bitte, weshalb. Vielleicht steckt ja eine verborgene Schönheit in diesen Songs – die wäre dann allerdings sehr gut verborgen:

Kollateralschaden des Abends ist – neben einem komplett verlorenen nächsten Tag inklusive der verpassten Nordic by Nature-Nacht im Postbahnhof mit Acts wie I Got You On Tape (DK), Sandra Kolstad (NO) oder LCMDF (FIN) – ein verlorenes Notizbuch. Ein schwarzes, kariertes Moleskine mit Logoprägung der VZ-Netzwerke auf dem Einband und einem eingeklemmten Druckbleistift. Ich freue mich, wenn ich es zurückbekomme – sogar so sehr, dass ich dem Finder glatt fünf CDs dafür geben würde. Neben dem Entwurf einer Konzertkritik der Radio Eins-Nacht enthielt es ein flammendes Plädoyer über die Freuden bedingungslosen Fantums, ausgelöst durch den Kauf der frisch signierten Platte von Gemma Ray, denn Fansein gilt weder in Musikwissenschaftler- noch Musikkritikerkreisen als sonderlich cool – dabei ist das doch die Basis für Musikliebe und einen der Musik angemessenen Umgang mit ihr, der dadurch nicht weniger professionell wird. Nur durch die Lupe kühler Überheblichkeit und damit zwingend verknüpfter Distanz kann man einem so emotionalen Sujet nicht gerecht werden, und ich bin gottfroh, dass ich Professoren hatte, die nicht müde wurden mir zu versichern, dass sich auch Wissenschaftler den Luxus persönlichen Geschmacks leisten dürfen. Nun, jetzt muss es eben ohne dieses Plädoyer gehen …

Ein Kollateralschaden der angenehmeren Art, nennen wir ihn daher ruhig Kollateralnutzen, war, dass mein persönliches Verkaterungserlebnis am übernächsten Tag den Anstoß für einen Song gab, der im Rahmen eines vierstündigen Workshops – zwei für das Songwriting, eine fürs Ausprobieren des Arrangements und eine fürs Recording – entstanden ist und den ich Ihnen an dieser Stelle nicht vorenthalten will. Es war eine hochgradig inspirierende Erfahrung, bei der a2n-Werkstatt in den Räumlichkeiten der Noisy Music World in der Warschauer Straße unter Anleitung des Künstlerkollektivs A headful af bees mit einer handvoll Musiker und Musikinteressierter in einer Art Hippie-Session einen tragfähigen Song zu entwickeln. Ziel dabei war auch, den Prozess des Songschreibens zu entmystifizieren; denn während der Songschreiber sonst emotional tief bewegt im stillen Kämmerchen sich plagt, sollte hier gezeigt werden, dass man mit ein paar Musikinstrumenten (und Leuten, die möglichst viele davon spielen können), Stimmen, Stiften und Papier im Kollektiv in wenigen Stunden zu einem durchaus brauchbaren Ergebnis kommen kann.


Ganz ohne Weltschmerz und stilles Kämmerlein: Songwriting im Kollektiv

Herausgekommen ist der Titel Five More Hours, dessen Grundidee die Zustandsbeschreibung am morgen nach einer durchfeierten Nacht ist: Oh mein Gott, wann werde ich es endlich lernen, nicht mehr so zu übertreiben? Noch zwei Stunden, und ich werde in der Lage sein, meinen Kopf wieder zu bewegen. Noch fünf Stunden, und ich schaffe es, eine Aspirin zu nehmen. Und so fort. Und dann die Rückerinnerung, warum sie all das getan hat – und definitiv wieder tun wird, denn sie war die Königin der Nacht! Und auch, wenn wir angehalten waren, allzu deutliche musikalische Klischees zu vermeiden, konnten wir uns nicht helfen, dieses Bild mit einem kleinen Moll-nach-Dur-Shift zu illustrieren. Aber hören Sie selbst:

Natürlich hänge ich persönlich an dem Song. Aber ich finde ihn auch aus der Distanz zweier Tage immer noch gut. Und bin erstaunt, wie schnell man gemeinsam zu einem brauchbaren Liedchen kommt. Aber auch sonst lässt sich die Workshop-Reihe für Musiker sehen, denn anstatt in theoretischem Gejammer zu erstarren, zeigt man bei der all2gethernow (a2n)-Werkstatt, wie man es selbst macht: Um Überlebensstrategien für junge Künstler geht es, von wie publiziere ich meine eigene Musik über wie lizensiere ich sie für Filme und Fernsehen bis zu einem „Zirkeltrainig“ in Sachen Crowdfunding.


So funktioniert Songwriting heute: Zusammen einsperren, enge Deadline setzen –
und es klappt!

Viele, viele Clubkonzerte weiter ist am Sonntag mit dem ADD (Auf den Dächern)-Festival der nun dringend notwendige Schlusspunkt der Berlin Music Week erreicht. Hier treten im 20-Minuten-Takt Künstler für jeden Geschmack und Intellekt auf, von Phillip Poisel und Cro über Max Herre und Two Door Cinema Club bis zu M.I.A. und Ghostpoet auf. Wer also das Berlin Festival verpasst hat, bekommt hier die Chance, deren Auftritte in Miniaturformat nachzuholen – natürlich wieder in der Stralauer Allee am Osthafen mit phantastischer Aussicht.


Der Mann mit der Maske lugt in die Menge: Cro auf den Dächern.

Die Veranstalter der Konzerte, ob im kleinen Club oder als großes Festival, können im Gegensatz zum Kongress ein positives Fazit ziehen: Während sich nur 2.000 Fachbesucher für die Berlin Music Week fanden, hat es ungefähr 60.000 Menschen in die Clubs und Konzertsäle getrieben. In weiser Voraussicht wird die Berlin Music Week auch nächstes Jahr ohne den Messeteil – die Popkomm – stattfinden. Wirklich gefehlt hat sie nicht, denn schließlich war sie schon im letzten Jahr so klein gehalten, dass man ihr Verschwinden nur mit Mühe bemerken konnte.

Klangverführer wird auch nächstes Jahr wieder berichten. Diesjahr bleibt nur noch das traditionelle Gewinnspiel, wenngleich es im Gegensatz zu letztem Mal keine Popkomm-Taschen zu gewinnen gibt – dafür aber ein paar Fender-Gitarrenplektren, die auf einen neuen Besitzer warten. Also, ihr Gitarristen da draußen, die ihr keine Anhänger des Fingerstyle seid – schreibt eine Haben-wollen-Mail an kontakt@klangverfuehrer.de. Wer zuerst kommt – und so weiter.

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