29. Januar 2021

Die dunkle Seite der Hingabe oder: Vom Reiz des Problematischen.

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Hingabe kann ich. Das ist im Allgemeinen eine gute Sache. Die Kehrseite: Ich kann auch Besessenheit. Im besten Falle ist es jene mit (oder von?) einem Lied: Ganz so, wie ich auch tage-, wochen-, monatelang das Gleiche essen kann, kann ich tage-, wochen-, monatelang das Gleiche hören – ohne, dass mir auch nur im Allergeringsten langweilig würde. Diesen Januar standen drei Songs auf meiner Speisekarte: „Colors“ von den Black Pumas in der Live in Studio-Version, „Highway 74“ von The Hamiltones, wie sie es bei den Roots Music Series spielten – und „Sugar“ von Kristiina Tuomi. Die Besessenheit mit Letzterem äußert sich ganz konkret darin, dass das Lied die wohl meistmitgesungene Zweitstimme meines Lebens hat, und zwar zu solch einem Ausmaß, dass ich meine eigene Stimme im Moment nicht mehr denken kann, ohne jene von Tuomi darunter zu hören.

Alles begann am 9. Januar 2020 mit einem Konzert namens The Dark Night of Soul im Orania, zu dem ich, von jeher zu jeglichem Seelendunkel hingeneigt, natürlich hingehen musste. Die Erinnerung an dem Abend spülte mir ein dafür berüchtigtes soziales Netzwerk ein Jahr später wieder in die Timeline, hatte ich damals doch ein paar Videos gemacht und gepostet. Das Stück, das ich schon vor einem Jahr als „coolsten Song des Sets“ beschrieben hatte, der als einzige Eigenkompositionen zwischen all den berühmten Covern nicht nur nicht verloren ging, sondern sie noch um Längen schlug, sollte mir zum intimen Begleiter der letzten Wochen werden. Nicht zuletzt, weil mich die „she keeps your heart on a shelf in a jar/and your soul on a chain in the yard“-Zeile getriggert hat, bin ich doch jüngst erst einer nämlich kurzgehaltenen Seele begegnet.

Wie es der glückliche Zufall wollte, wird „Sugar“, unten in der damals von mir gefilmten „Rioja-Version“ (Tuomi) zu sehen, heute von Tuomis neuem Quintett Glymmar veröffentlicht. Ich traf die Berliner Sängerin und Songwriterin, die vielen noch vom auf Traumton veröffentlichten Trio Tuomi im Ohr sein dürfte, zum Gespräch – ’ronakonform per Videokonferenz. Darin ging es nicht nur um die in „Sugar“ besungene dunkle Seite der Hingabe, den eher unjazzigen Stil und ein melancholisches Vernebeltsein, sondern erst einmal – wie das wohl unausweichlich ist, wenn das finno auf das ugrische Element trifft – um Lakritz.

Klangverführer: Schön, dass das mit uns beiden unter diesen widrigen Umständen geklappt hat. Wir wollen heute über deine neue Band Glymmar sprechen. Wie ist die zu diesem flimmernden Namen gekommen?

Kristiina Tuomi: Es ist eine alte Schreibweise von „glimmer“ aus dem Frühneuenglischen. Wir haben ja diesen Song namens „Fire“ gemacht und etwas in der Richtung gesucht – was heutzutage gar nicht mehr so einfach ist mit den Domains! Oder überhaupt einen Bandnamen zu finden, der nicht schon von einer koreanischen Punkband gekapert wurde.

Ich finde, in dem Namen schwingt auch etwas Nordisches mit …

Ja, durch die Schreibweise denken das viele. Ich bin Halbfinnin – aber das wäre jetzt eher ein typisch skandinavischer, also schwedischer oder norwegischer, Name. Und das Skandinavische ist ja auch immer ein Thema. Ich meine, man sieht ja auch so ein bisschen, dass ich aus der Ecke komme. Aber die Finnen sind wirklich nochmal ein eigenes Völkchen und haben mit den Skandinaviern ursprünglich gar nichts zu tun. Die haben sich da angesiedelt, aber eigentlich sind sie mit den Ungarn verwandt.

Ja, ich bin Halbungarin …

Ja, richtig! Es gibt aber nur noch ein einziges Wort, das sich Ungarn und Finnen teilen: „voi“ bzw. „vaj“,“Butter“. Sonst gibt es ja keinerlei Überschneidungen im Vokabular mehr. Hab ich zumindest von einer Ungarin gelernt.

Wenn wir schon keine Worte teilen: Ich habe gehört, dass du eine typisch finnische Vorliebe für Lakritz hast, die ich mit dir teile.

(lacht): Ja, das ist ein Riesenthema. Lakritze! Ich kenn das von klein auf. Meinte Mutter isst keine Süßigkeiten, aber Salmiak, diese salzige Lakritze.

Da bin ich total bei ihr. Ich verabscheue Süßes, aber Salmiak ist super!

In Finnland gibt es sogar Kartoffelchips mit Salmiakaroma. Und diverse Eiskremsorten, das ist so wie hier Schokoladeneis … Da gibt’s Glasur, und mit Stückchen und so fort. Überhaupt gibt es alles mit Lakritze: Es gibt Lakritzpudding, es gibt Lakritzsoße für Eis, das ist da wirklich so ein Standard-Flavor. Und ich liebe das echt. Da muss man aber, glaube ich, mit aufgewachsen sein. Sonst findet man das … Die meisten finden das echt nur eklig! (lacht)

Ich fahr da auch total drauf ab, obwohl ich nicht damit aufgewachsen bin. Wie dem auch sei: Sprechen wir wieder über Glymmar. Wie die Band zu ihrem Namen gekommen ist, haben wir schon gehört – jetzt interessiert mich natürlich ein bisschen was zur Bandgeschichte, wie, wann und warum ihr euch gegründet habt, zum Beispiel.

Also, die Band kam eigentlich eher so ein bisschen nach der Musik. Ich hab angefangen … Also, ich hab eine längere … Ich meine, ich bin ja jetzt keine zwanzig mehr. Ich hab ja schon ein bisschen was auf dem Buckel. Damals war ich sehr viel in der Jazz-Szene unterwegs, und da hat sich auch schon so ein bisschen abgezeichnet, dass ich einen eher unjazzigen Stil verfolge – man sucht sich’s ja nicht aus, es kommt halt so aus einem raus.

Ich bin da ein sehr intuitiver Songwriter. Ich setz mich dann wirklich hin und versuche, in so einen Flow zu kommen, und dann kommt es aus mir raus, ich zeichne alles auf, und im Nachhinein such ich mir dann die schönen Sachen raus, die da gekommen sind. Und irgendwie ist das, was kommt, immer etwas Dunkles, Melancholisch-Verträumtes – das muss jetzt nicht immer Moll-ig sein, aber es ist irgendwie immer ein bisschen vernebelt. Und es hat auch Anleihen an Minimal Music – ich mag halt solche repetitiven Patterns.

Schon damals im Jazz hatte ich ein Trio mit Carlos Bica und Carsten Daerr, Tuomi. Als wir das gegründet haben, hab ich noch studiert. Und das ist auch schon durch besonders dunkle Töne aufgefallen. Das hat immer polarisiert. In den Jazzclubs immer so düstere Stücke zu bringen, das ging für manche gar nicht! (lacht) Es gab halt einerseits richtige Fans, die auch immer noch Fans sind, das ist total süß, von denen höre ich immer wieder, Mensch, wann gibt es mal wieder was von Tuomi? Und dann gab es eben auch Leute, die kamen und sagten, das ist doch kein Jazz mehr!

Carlos Bica war dabei, sagst du?

Ja, er ist ein Kontrabassist, der sehr virtuos mit seinem Instrument umgehen kann, er spielt sehr melodiös und teilweise in Cellolage. Er ist in Portugal recht bekannt, da kommt er her, lebt aber mittlerweile hier. Er hat viel mit Maria João gespielt und hatte dann ein Trio mit Jim Black und Frank Möbus, Azul. Wir haben ihn uns damals rausgepickt, weil er sehr … er hat halt selbst auch so romantische Stücke geschrieben, und wir haben gemerkt, er passt einfach seelisch zu uns. Und das hat mich lange geprägt.

Ich hab das zehn Jahre lang gemacht. Wir haben getourt und alles, Goetheinstitutstouren und Touren durch die Jazzclubs im deutschsprachigen Raum, wir haben zwei Alben bei Traumton gemacht … Und dann habe ich gemerkt, dass ich immer mehr den Drang hatte – und ich scheue den Begriff „Popmusik“ immer so ein bisschen, weil die Leute immer sofort so eine ganz klare Vorstellung haben, was das ist, und das ist es dann meistens doch nicht so ganz! – also den Drang hatte nach etwas, das so ein bisschen zwischen den Stühlen hängt. „Sugar“ zum Beispiel, der Song, um den es heute geht, der hängt auch zwischen den Stühlen: Er ist tatsächlich sehr poppig, so richtig mit durchgehendem Schlagzeug, aber auch so ein bisschen … „zwischen den Stühlen“ trifft es schon ganz gut. Es war schon immer zwischen den Stühlen gewesen – und das ist auch jetzt so.

Tuomi haben wir aufgelöst, das hatte sich irgendwann totgelaufen. Das war eine ganz natürliche Entwicklung: Irgendwann war es einfach genug. Wir hatten auch nicht mehr so richtig Lust gehabt, noch weiter daran zu arbeiten, und ich wollte immer schon mehr mit Percussion machen, ich wollte gern ein Schlagzeug dabei haben, aber nicht alle im Trio waren damit einverstanden. Ich habe dann erstmal mit meinem eigenen Zeug eine Pause gemacht und als Profisängerin gearbeitet, richtig knackig: Ich hab Event-Jobs gemacht, Werbung eingesungen, Filmmusiken eingesungen … Ich hab einfach Geld verdient – und musste dann erstmal gucken, was ich jetzt überhaupt will, weil ich gemerkt habe, dass ich in der Jazz-Szene nicht weitermachen möchte. Ich musste mich also erstmal finden. Ein bisschen spät – aber ist ja egal! (lacht) Als Frau denkt man ja sowieso immer, man ist zu alt. Es ist eigentlich egal, wie alt man ist, man ist eh immer zu alt! (lacht wieder) Das ist dann aber auch schön, weil man sich dann sagen kann, das ist jetzt auch schon egal!

Ich hab dann jedenfalls ein Kind bekommen, das dann alles an Zeit und Plänen nochmal torpediert hat … Aber ich habe immer zwischendurch Songskizzen aufgenommen. Mich über die Jahre immer wieder hingesetzt, an die Rhodes, ans Klavier, und immer wieder Sachen aufgenommen. Und mein Mann, der zufälligerweise Produzent und Toningenieur ist, hat dann irgendwann gesagt: Ach, lass uns die doch jetzt mal hübsch machen! Damit haben wir dann auch angefangen, aber immer nur sporadisch, weil er halt auch viel gearbeitet hat – er ist der Schlagzeuger der Geschwister Pfister und macht auch viele Aufnahmen …  Ja, als Working Musician sein eigenes Zeug zu machen, besonders, wenn man dann schon in der Szene einfach viel zu tun hat, ist nicht so einfach! Aber dann kam der Lockdown. Und wir beide waren plötzlich arbeitslos. Da haben wir uns gesagt: Jetzt machen wir das.

Ist Glymmar eine Lockdownband?

Nicht wirklich. Wir haben die Musiker schon vor dem Lockdown ausgesucht. Dafür haben wir auch länger gebraucht. Zum Beispiel mit dem Pianisten: Es war so ein Ding einen Pianisten zu finden, der das so spielen kann, wie ich es höre, in mir drin. Ich spiel ja selbst Klavier beim Schreiben, aber für die Bühne – das würd ich mir nicht anmaßen! Und ich brauchte halt jemanden, der so Minimal-Patterns spielen und die nageln kann – aber auch ’nen Touch hat! Also quasi ’nen Klassiker, ’nen Popmusiker und ’nen Jazzer in einer Person. (lacht) Ich hab da viel rumprobiert. Und war da auch so ein bisschen Diva. Und dann kam mir Benedikt in den Sinn, der mit mir zusammen studiert hat und der in einer ganz anderen Ecke vom Jazz unterwegs war. Ich hab ihn auch privat mal ab und zu gesehen und dachte dann, warum frag ich ihn denn nicht einfach? Der kann das bestimmt!

Und dann hat sich herausgestellt, dass er tatsächlich auch so ein Minimal-Music-Fan ist und das total versteht – einfach *total* versteht, was ich da mache. Das ist wirklich ein Phänomen. Dieses „Secrets“-Stück, das ist ganz ohne Click eingespielt. In der Popmusikproduktion arbeitet man ja eigentlich so, dass man so einen Click reinlegt, und dann spielt jeder einzeln auf den Click seine Sachen ein, und dann legt man das übereinander. Wir haben das aber tatsächlich alles live gemacht. Benedikt hat sich hingesetzt, ich war im selben Raum, Mikrofon vor der Nase, ohne Click, und dann ging’s los! Und er hat das einfach perfekt … Wir haben wirklich gleich den zweiten Take genommen. Unfassbar! Als wäre er ich. Also, meine Verlängerung.

Schön!

Ja, das war großartig. Ich bin ein ganz großer Fan von ihm. Und das ist auch das Herz der Band: das Piano. Wir haben ein echtes Klavier; wir benutzen tatsächlich keine Synthies oder so etwas, es ist ein echtes Klavier, es steht im Studio, es ist ein ganz altes, warmes … Es hat so einen ganz dicken, warmen Sound, auf dem hab ich das geschrieben und damit nehmen wir auch alles auf. Es hat einen ganz charakteristischen Klang. Und es knarzt auch richtig! Am Ende von „Secrets“ hört man, wie das Pedal so Krrrk-krrrrk macht.

– Interviews in Zeiten der Pandemie –

Ihr habt bislang drei Singles veröffentlicht: „Moon Behind A Cloud“ im November 2020, „Fire“ im Dezember, „Secrets“ im Januar und jetzt im Fast-Februar „Sugar“. Was steckt hinter dem Konzept, jeden Monat eine Single, aber kein Album zu veröffentlichen?

Damit habe ich mich ziemlich beschäftigt. Also alles, wie es normalerweise läuft, geht ja gerade nicht. Normalerweise, in unserer Szene als Live-Musiker, als Band, die live auftritt und kein Studioprodukt ist, läuft es so, dass man Konzerte spielt und dabei eine kleine Fanbase aktiviert, die dann das Album auf den Konzerten kauft. Das geht halt im Moment nicht.

Das war ja der Hauptvertriebsweg für Alben in Streamingzeiten: der Merch-Stand auf den Konzerten, oder?

Normalerweise ja. Aber bei Tuomi war es so – aber das ist auch wirklich schon länger her, da gab es noch kein Spotify, und noch nicht mal Facebook war da so richtig am Start, das war 2004 und 2007, als wir die Alben gemacht haben –, dass es da noch ganz anders war: Da ging man in den Plattenladen und holte sich eine CD. Und da war das auch für Musiker noch nicht so schwierig, wir haben da auch was verkauft! Die Stefi von Traumton hat ein paar Pressebemusterungen gemacht, dann haben wir Presse gehabt und dann sind die Leute losgegangen und haben die CD gekauft! Oder sie bestellt. Und das lief ganz gut!

Und auch live war es bei uns immer ganz gut besucht, auf Tour haben wir immer auch verkauft, das war schon schön. Und im Radio liefen wir auch mal. Also, jetzt nicht bei Radio Energy (lacht), aber im Kulturradio. Also in der typischen Jazz- und Kulturnische. Und das funktionierte ja auch, denn die Fans dort wissen ja, dass man die Künstler unterstützt, indem man die CD kauft.

Das hat sich seitdem, während dieser Pause, die ich gemacht habe, alles total geändert. Ich saß dann da, mit dieser Musik, und dachte: Wie mach ich’n das jetzt? Und dann hab ich einfach mal geguckt, wie die anderen das so machen. Vor allem in diesem Lockdown. Wir sind ja jetzt rein digital. Man kann nicht spielen – also, man könnte jetzt ein Live-Stream-Konzert machen, das ist bei uns aber tatsächlich nicht so einfach, weil wir so viele sind. Wir sind jetzt fünf Leute, für live würde ich dann natürlich auch Backgroundgesang dazunehmen, dann sind wir bei sieben Leuten … Also, ich bin ja nicht so ein Fan davon, wenn man sagt, och, für die Musik treff ich mich jetzt doch mal auf eine kleine Corona-Party …

Dazu kommt, dass mein Mann, der bei Glymmar Schlagzeug spielt, und ich ein Kind haben – überhaupt haben alle unsere Bandmitglieder Kinder. Und die müssen betreut werden, wenn wir proben. Das ist nicht so einfach, wenn die Kita nicht da ist. Es sind halt diese praktischen Dinge, am Ende. Meine Eltern zum Beispiel sind schon etwas älter. Sie betreuen öfter mal unseren Sohn, aber wenn wir uns jetzt mit mehreren Personen zu Proben treffen würden, dann könnten sie ihn nicht mehr nehmen. Es sind die profanen Dinge, die jetzt entscheiden.

Ihr seid aber alles Berliner, das heißt, wenn Konzerte wieder möglich sind, könntet ihr euch leichter zusammenzufinden, als wenn ihr über ganz Deutschland verteilt wärt?

Ich bin die einzige gebürtige Berlinerin in der Band, aber wir sind alle in Berlin ansässig. Das geht alles. Wir haben auch schon geprobt, bevor es so schlimm wurde, aber dann ging wirklich alles drunter und drüber. Alles sind Profimusiker – bis auf den Pianisten, der hat noch einen normalen Job.

Einen Daytime-Job, der nichts mit Musik zu tun hat?

Ja, das ist seine zweite Leidenschaft, er ist nämlich auch noch Doktor der Mathematik. Hat er einfach noch so rangehängt (lacht). Er arbeitet als Mathematiker. Deswegen macht er jetzt seinen Job – aber für den Rest von uns ist es schwierig. Ich denke immer wieder, man könnte die Zeit zum Proben nutzen, aber das zieht eben solch einen unglaublichen Rattenschwanz an Problemen hinter sich her – und dafür, dass wir dann für einen Facebook-Stream dasitzen, fühlt es sich auch nicht so gut an. Ich bin schon eher so eine Rampensau! (lacht wieder) Und das fehlt mir dann.

Kann man sagen, es gibt die sukzessive veröffentlichten Singles und kein Album, weil es eben keine Record Release Konzerte gibt?

Also, ich glaube, es ist erstmal so, dass diese Songs auch als Singles sehr gut funktionieren. Das macht auch künstlerisch für mich schon Sinn. Weil … Die sind alle in Phasen entstanden und haben auch so ein bisschen ihre jeweils eigene kleine Welt. Es gibt dann auch nicht wie bei einem Album so zwei, drei Songs, die man halt noch macht, weil man ein Album füllen muss, sondern ich versuche wirklich, dass jeder der Songs eine kleine Perle ist. Mir gefällt auch die Idee, für jede Single ein eigenes Cover zu haben. Ich mag Alben, ich höre auch Alben – ich bin ja auch noch alte Schule, aber ich kann diese andere Welt der Singles auch sehr gut verstehen. Mit den neuen Plattformen, wo jetzt Musik gehört wird, macht das schon Sinn.

Ich hab auch noch mehr Songs, die kommen jetzt auch alle nach und nach, aber so bekommt halt jeder Song seine Aufmerksamkeit und seinen Platz. Ich finde das irgendwie schön. Dass alle mal dran sind. Das ist wie so eine Familie mit lauter kleinen Kindern, und jedes hat halt mal Geburtstag. Und nicht alle auf einmal.

Nochmal kurz zu den neuen Plattformen, zu dieser Situation mit dem ganzen Streaming: Ich benutze für Glymmar ja Spotify, und, das muss ich auch sagen, Spotify ist natürlich ein schlimmer kapitalistischer Konzern, der uns alle ausbeutet. Ich mach jetzt mit bei dem Game, mal für ’ne Weile, um das mal auszuprobieren, aber ich werde auf Dauer wahrscheinlich auch zu Bandcamp gehen oder so. Weil: Eigentlich darf man das nicht unterstützen.

Du hast von dieser eigenen kleinen Welt der Songs gesprochen. Lass uns über die Welt vom heutigen Release „Sugar“ sprechen – über die Situation, die der Song reflektiert.

Das ist ein kleines Märchen. „Sugar“ ist ja zweideutig: Es ist nicht nur der Zucker, es ist auch ein Name, so wie „Sugar“ in „Manche mögen’s heiß“. „Sugar“ sehe ich als eine Art Hexe, eine Sirene. Aber ich bin kein konkrete-Lyrics-Mensch. Ich erzähle keine Geschichten, sondern Bilder. Und mir ist es auch recht, wenn es Bilder bleiben. Wenn es zu konkret wird, auch bei Musik, bei Kunst generell, finde ich das problematisch. Aber ich kann auf jeden Fall sagen, „Sugar“ ist so eine Hexe, eine wunderschöne, verführerische Hexe, die süß ist und einen umgarnt, die einen aber auch heimsucht. Wie Zucker fühlt sie sich toll an, bringt aber auch superviele Schwierigkeiten mit sich. Sie macht süchtig.

Wie eine Droge.

Ja. Und die Zeile „Sugar in my bed“ – ich meine, wenn man Zucker im Bett hat, ist das auch nicht wirklich angenehm, das kratzt halt! Und auch im Blut kann es unheimlich nervig sein. Im Prinzip wie mit allen tollen Dingen, die einen wahnsinnig vereinnahmen: die haben oft auch Nachteile. Drogen, Alkohol, Sex … solche Geschichten haben ja auch immer den Reiz des Problematischen. Ich glaube, dass das etwas zutiefst Menschliches ist, dieses „Ich will, aber ich sollte nicht“. Dieses Gefühl steckt in dem Song: Ich will eigentlich, ah, aber ich weiß, ich darf nicht. Ich sollte nicht. Dieses: Ah, du wirst es bereuen.

Ich wusste doch, es gibt einen Grund, weshalb das Lied mich so triggert!

(beide lachen)

Damit kann wohl fast jeder etwas anfangen. Und die musikalische Umsetzung … Also, mein Mann hat das ja produziert. Ich schreibe nur Riffs auf dem Klavier. Ich mag Rockmusik, ich mag auch harte Rockmusik. Und Riffs auf dem Klavier zu machen, finde ich wahnsinnig spannend. Ich kann leider überhaupt nicht Gitarre spielen, das ist einfach nicht meins, war es auch nie – aber ich versuche, was so ein Rockgitarrist auf seiner Gitarre entwirft, eben: das perkussive und das harmonische Element miteinander zu verbinden, aber auf dem Klavier. Es gibt ein paar Künstler, die das gemacht haben, zum Beispiel Trent Reznor von den Nine Inch Nails. Ich bin immer ein Riesenfan gewesen, schon seit Teenie-Tagen … Halt so ein Rock’n’Roll-Klavier! Tori Amos macht das auch oft, oder Kate Bush. Das sind so meine Einflüsse, und das hört man sicherlich auch im Gesang.

Ich merke bei mir, ich sing jetzt nicht so, wie man heutzutage singt. Da merk ich, dass ich schon ein bisschen länger dabei bin. Meine Einflüsse sind aus einer anderen Zeit – und das hört man auch. Dieses Vollmundige … also, ich habe eigentlich die Stimme dafür, ich könnte das machen, aber es kommt einfach nicht aus mir raus. Was kommt, ist immer dieses Kopfstimmige. Das ist so eher meins. Und dazu diese Riffs. Mein Mann hat zu diesem Song dann auch diese Stimmeffekte gebaut, das bin ja auch ich, so eine beschnittene Stimme, wie ein Sirenengesang, der auch so ein bisschen gruselig ist. Das passt schon zu der klassischen Geschichte von der bösen Hexe im Lebkuchenhaus. Und am Ende nimmt sie dir die Seele und das Herz, und du bist ihr Gefangener.

So ist das mit den Hexen im Lebkuchenhaus: Du landest als Herz im Einmachglas auf dem Regalbrett und als Seele an der Kette im Hinterhof.

(beide lachen)

Ihr bezeichnet das Ganze ja als „Dreampop“. Bei dem Begriff habe ich immer ganz fürchterliche Assoziationen an Weichspülklänge, die in Cover mit dem Sonnenuntergang entgegenspringenden Delphinen verpackt sind … Aber sowas höre bei euch, bis auf dieses Flächenhafte, ja überhaupt nicht, gottseidank.

Es ist ja immer das Problem: Was ist das denn, was wir da machen? Keine Ahnung! Aber ich fand es ganz passend, weil: The Cure gilt ja auch als Dreampop.

Naja, wenn überhaupt, dann Dreampop noir, wobei ich da ganz klassisch mit Gothic oder Wave glücklicher wäre …

Ich glaube einfach, dieses Flächige, diese vielen Schichten, die da so ineinanderwabern … das passt da rein. Bei „Sugar“ tatsächlich nicht so sehr, aber „Fire“ und „Moon Behind A Cloud“, die passen da gut hinein. Aber wenn du einen besseren Genrevorschlag hast, ich bin da ganz offen!

Ich empfinde etwa „Secrets“ als totalen Torch Song. Nicht im klassischen Sinne, sondern im buggewesseltoftschen. Aber es ist tatsächlich eine der großen Herausforderungen des Musikjournalismus, passende Genreeinordnungen vorzunehmen bzw. neue Genres zu schaffen.

Ja, und heutzutage ist das wirklich interessant! Ich hab ja jetzt kein Label hinzugezogen, weil: Wenn man nicht spielen kann und auch keine CDs oder was auch immer verkauft, zahlt man ja erstmal nur drauf – außerdem wollte ich wirklich auch mal die volle Kontrolle haben. Einmal alles alleine machen – und vielleicht auch auf die Schnauze fallen, aber ich wollte mal wissen … man lernt auch sehr viel. Was da alles so dahintersteckt. Dass man sich zum Beispiel Genres ausdenken muss.

Und wie fühlt sich die bis jetzt an, diese volle Kontrolle?

Naja, es ist halt alles total komisch retortig, weil man nicht auftreten kann. Wir sind jetzt gerade in einer rein digitalen Welt unterwegs. Das geht ja nicht nur den Musikern so. Die Leute sind im Homeoffice, dahinten turnen die Kinder rum und vorne will man irgendwie … wie soll ich das nennen? charismatisch rüberkommen. Mir macht das wahnsinnigen Spaß, weil ich eh gerne gestalte und auch ein Typ für Social Media bin. Es ist nicht so, dass ich mich dazu zwingen muss, mir macht das Spaß. Ich habe so eine kleine exhibitionistische Ader, sonst wäre ich auch nicht Sänger geworden, das ist schon okay. Für meinen Mann aber zum Beispiel ist das Horror, der kriegt da gleich Panik.

Ich glaube, man muss dafür auch ein bisschen gemacht sein. Und ich finde es auch ganz schön, weil man so einen Reality Check kriegt, das ist sehr interessant. Aber es ist natürlich auch superschwierig! Ich bin keine kleine, süße Maus, die irgendwie da bei Instagram voll viele Follower hat, weil sie halt so supersexy und so hyperjung und niedlich ist – das kann ich nicht bieten. Das heißt, ich bin eine erwachsene Frau, die sich erlaubt, noch Popmusik rauszubringen, die dann noch nicht mal wirklich in ein Genre reinpasst! Also, man kann es sich bestimmt leichter machen im Leben.

Aber ich merke tatsächlich, dass mich das trotzdem sehr glücklich macht, weil es *wirklich meins* ist. Das ist total ehrlich: Das bin ich und so kling ich und so ist meine Musik und die hab ich selbst geschrieben und ich hab die Covers zwar nicht gemacht, aber ausgesucht, ich habe die Leute ausgesucht, die das spielen, und das ist so richtig mein Baby. Mal ganz hundert Prozent. Sich zu trauen, das rauszubringen, einfach so: Hier, guck mal, mein Herz, bitteschön – das fühlt sich toll an! Selbst, wenn nur drei Leute sagen, ach, ich finde das schön. Es ist ja jetzt nicht so, dass hier die Tausenden von Followern kommen und sagen, darauf haben wir schon immer gewartet! Aber jeder Mensch, den das glücklich macht, der ist für mich … das ist einfach wahnsinnig schön. Man teilt sein Herz mit anderen Leuten.

Glymmar sind Kristiina Tuomi (Vocals), Samuel Halscheidt (Gitarre, Keys, Vocals), Benedikt Jahnel (Piano), Carsten Hein (Bass, Keys) und Immo Philipp Hofmann (Drums).

„Sugar“ gibt es hier.

Mehr Zucker? Hier entlang: www.glymmar.com

7. Januar 2013

Ich gehe nie zu iTunes und kauf‘ mir nur ein Lied! Claudia Brücken im Klangverführer-Interview

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 15:42

Ich habe etwas, worum mich Tausende von Männern beneiden: die Mobiltelefonnummer von Claudia Brücken. Und nicht wenige ihrer Verehrer wären für eine SMS der Diva mit dem Wortlaut „Ich warte an der Hotelbar auf dich“ wohl zu jedem Verbrechen fähig.

Die bis heute ungebrochene kulturelle Signifikanz Brückens für den Jahrgang der jetzt Anfangsvierziger speist sich aus ihrer legendären Zeit bei der Synthpop-Band Propaganda, deren Hits wie etwa Dr. Mabuse sie von 1983 bis 1986 gemeinsam mit Susanne Freytag Stimme und Gesicht lieh – die „unsmiling girls“, wie man die Sängerinnen damals bezeichnete, schafften es als düster-faszinierende Pin-ups auf die Wände und in die Träume all derer, denen der vorherrschende Mainstream-Pop zu bunt, zu seicht und zu fröhlich war. Propaganda, das war Elektronik, Wave und Avantgarde, Kälte, Dunkelheit und Abgrund, Freytag und Brücken die glamourösen Anti-Heroinen in kühlem Blond, zwei Geister in der Maschine, deren Stimmen, einmal gehört, sich unauslöschlich in den Organismus einer ganzen Generation eingruben. Das galt insbesondere für die markante Stimme Brückens, die, folgt man dem Popkultur-Magazin westzeit.de, „Dr. Mabuse tiefer in das Bewusstsein katapultiert [hat], als es die Filme über den Superverbrecher je vermocht hätten“.

Die durch den Hit Dr. Mabuse angefixten Fans von damals sind es auch, die der Brücken bis heute eine nachgerade ikonische Verehrung zukommen lassen, welche den Ruf der in Düsseldorf aufgewachsenen Künstlerin als „die Ikone der elektronischen Musik überhaupt“ festigt. Umso überraschender ist es, wenn eine sichtlich entspannte Brücken mal eben so an der Hotelbar auf einen wartet, um über die Lust und Last von Coversongs, die Magie des Liedes, das Albumformat an sich, einen musikalischen Heilungsprozess und natürlich auch ihre Zeit bei Propaganda zu plaudern, aber auch private Themen wie Mutterschaft oder Hundebesitzerstolz nicht ausspart. Ich traf Claudia Brücken kurz vor meinem Weihnachtsurlaub im verschneiten Berlin und wünsche allen Lesern neben viel Freude an diesem Interview auch ein gutes neues Jahr.

Warum zwar nicht alles immer „so happy-happy“ ist, man aber trotzdem kein Album machen wollte, „das so depressiv ist, dass man sich die Handgelenke aufschneidet“, und warum es okay ist, ein bisschen old school zu sein, lesen Sie hier. Und denken Sie erst gar nicht daran: Die Brücken-Nummer werde ich auch gegen Essenseinladungen & Co. nicht rausrücken!


Ladies in black: Brücken/Klangverführer in Berlin, 12. Dezember 2012

Klangverführer: Dein neues Album enthält Coverversionen von Künstlern wie den Pet Shop Boys, dem Electric Light Orchestra oder den Bee Gees, wobei diese Songs nicht zu deren bekanntesten Stücken gehören. Ist es das, worauf sich der Albumtitel The Lost Are Found bezieht, siehst du dich als eine Art Heberin verborgener Schätze?

Claudia Brücken: Ja, das könnte man so sagen. Dieser Titel hat irgendwie viele Aspekte. Erstmal, das letzte Lied auf der Platte, genauer: die letzte Zeile, die ich singe, ist der Albumtitel. Dann King’s Cross, da hat der Neil (Tennant, einer der Pet Shop Boys, Anm. d. Red.) auch die Zeile „I found myself lost“ hineingeschrieben – und in dem Lied No One To Blame erscheint die Zeile auch. Es ist wie ein Thema, das durch das Album geht. Und dann auch für mich, dass ich diese Lieder … also Stephen (Hague, der legendären Synth-Pop-Produzent der 80er-Jahre und Produzent des Albums, Anm. d. Red.) und ich … dass wir diese Lieder wiederentdeckt haben. Wiederentdeckt im Sinne von gefunden haben und sie auch Leuten, die sie nicht kennen, vorstellen möchten. Von der Auswahl her wollten wirklich nichts machen, das offensichtlich ist. Wir haben auch darüber nachgedacht, ob diese Lieder schon häufig gecovert worden sind oder nicht – das war auch ein Kriterium für uns.

Also auch ein bisschen mit einem pädagogischen Impetus, nach dem Motto, wir finden diese Lieder so toll – die Leute müssen sie einfach kennenlernen?

Ja, aber nicht belehrend. Einfach educational im positiven Sinne.

Das finde ich völlig okay, das mache ich auch so!

Ja, das ist legitim, aber man will ja auch nicht predigend rüberkommen. Das sind alles Lieder, die Stephen und mir sehr nahe liegen, weil sie der Soundtrack für unsere Jugend waren. Ja, der Soundtrack of Life, halt!

Und die Platte habt ihr dann nach dem stärksten Titel benannt. Ist es Zufall, dass sich dessen Thema auch in den anderen Titeln wiederfindet?

Nein, ist es nicht. Es fing mit One Summer Dream an. Stephen wollte dieses Lied unbedingt covern. Wir haben vor ungefähr vier Jahren begonnen, zusammen zu arbeiten, was von mir immer ein Wunsch war.

Das war für dein letztes Album Combinded, richtig?

Genau, für diese zwei Stücke darauf. Wir wollten eigentlich ein Album schreiben, aber der Steve ist immer so beschäftigt und ich mache auch immer so viele Sachen … Wir haben es erst einmal probiert und zwei Stücke für Combined geschrieben, Thank you und Night School, und wir mochten die Zusammenarbeit sehr, irgendwie hat das alles gepasst. Und da wir jetzt nicht erst Stücke schreiben und vielleicht darum noch acht Jahre warten, sondern einfach gleich zusammenarbeiten wollten, hatte er die Idee, einfach schon vorhandene Stücke zu covern. Wir haben, wie erwähnt, mit One Summer Dream angefangen und fanden beide, dass wir das gut hingekriegt haben, und dann dachten wir, damit müssen wir jetzt etwas machen! Also haben wir versucht, das wiederzufinden, was wir mit diesem Stück gemacht hatten, diese spezielle Stimmung, und so hat sich das Konzept für das Album herauskristallisiert. Manchmal macht man ja Sachen und man weiß gar nicht, warum man sie macht … Bis sich dann die Idee irgendwann zeigt. Und so war das in diesem Falle.

Covern, könnte man jetzt ketzerisch fragen, also als Weg des geringsten Widerstandes, denn, wie du schon sagtest, die Lieder sind schon da und man muss eben keine acht Jahre damit verbringen, neue zu schreiben …?

Ja, und ich verstehe auch gar nicht, dass Covers immer so einen schlechten Ruf haben!

Vermutlich, weil Interpretation nicht als solch eigenständige künstlerische Leistung gewürdigt wird wie Komposition …

Ja, aber wir sehen das positiver. Also, erst einmal hätte es wirklich acht Jahre gedauert, bis wir sonst etwas zusammen gemacht hätten. Es war aber auch eine Selbstfindung mit den Stücken. Es sind Sachen, die uns wirklich persönlich etwas bedeuten – und vor allem, da es Stücke sind, die nicht so bekannt sind, geben sie uns auch die Chance, ins Gesamtwerk von Claudia zu passen. Es ist eben nicht nur ein Coveralbum!

Ich persönlich bin auch ein großer Freund von Coveralben und bespreche sie gern und überdurchschnittlich viele davon. Was aber macht deiner Meinung nach für die Menschen die Faszination an Coveralben aus, was reizt das Publikum daran, was den Künstler?

Ich glaube, es ist einfach die Stärke des Liedes. Für mich als Künstlerin und Interpretin ist immer Melodie und Text das Ausschlaggebende. Ich habe damals schon mit Propaganda mit Coverversionen angefangen: Femme Fatal von Velvet Underground und Nico. Damit geht auch eine ganz spezifische Identifikation einher, denn damit sage ich den Leuten: Ich steh‘ auf Velvet Underground! Und ich stehe auf diese Band und jene Band, das sind meine Vorbilder! Zum Beispiel David Bowie … das ist eine Person, die ich wirklich bewundere. Also, ich hab‘ auch vor anderen Musikern viel Respekt, aber vor ihm … Hut ab, sehr viel Respekt! Wenn ich ihn covere, ist es für mich so, wie: Ich kann mich damit identifizieren, was du sagst. Und ich möchte auch, dass dein Stück weiterlebt, ich bringe es wieder ins generelle Bewusstsein. Also, für die Leute, die auch mich entdecken. Das ist der Sinn.

Es gibt ja auch den exakt entgegengesetzten Ansatz, dass Künstler sagen: Ich nehme mir jetzt das fürchterlichste Stück vor, das ich mir vorstellen kann, und mache etwas Wunderschönes daraus. Yael Naim beispielsweise mit Songs von Britney Spears oder Rihanna …

Okay, das gibt es auch, aber in meinem Fall: auf keinen Fall!

Du hast gerade angesprochen, dass du in deiner Zeit mit Propaganda Velvet Underground gecovert hast. Ich glaube, ein Jahr, bevor du zu der Band gestoßen bist, hatten sie ihren ersten Hit auch schon mit einer Coverversion, durch die sie viel Aufsehen erregt haben …

Mit Throbbing Gristle!

Ja, Throbbing Gristles Discipline. Über diese Version soll der damalige ZTT (Zang Tuum Tumb) Records-Manager – und dein späterer Ehemann – Paul Morely gesagt haben, es sei „almost an original new piece“. Damit spricht er den Spagat an, einerseits dem Original Respekt zu zollen und gleichzeitig auf dessen Grundlage etwas völlig Neues, Eigenständiges zu kreieren … Ist das ein weiteres Faszinosum der Coverversionen?

Absolut, ja. Ich sähe auch keinen Sinn darin bzw. würde auch nichts machen, was sich genauso anhört wie das Original. Obwohl wir in dem Falle des neuen Albums sehr respektvoll zu den Künstlern und ihren Kompositionen waren. Die sind schon genial! Und trotzdem habe ich versucht, dass sie meine eigenen Lieder werden. Ich bin da generell sehr „sensitive“ mit den Stücken, aber es kommt immer drauf an: Ich habe ein anderes Coveralbum gemacht, Another Language mit Andrew Poppy, und das war etwas vollkommen anderes! Wir haben die Songs total anders interpretiert als die Originale, da gibt es nur ein Instrument und eine Stimme. Das heißt, es kommt immer auf das Projekt an, ich habe keine allgemeingültige Herangehensweise an Coverversionen. Das mit Andrew, das war ein Avantgarde-Klavieralbum, da ging es einfach um die Idee, dass man sich auch eben nur ans Klavier setzen könnte mit mir, also diese Einfachheit, dieses Simple, dieses Nimm-dir-’ne-Gitarre-und-singe. Wir haben das gemacht, damit wir wieder einen Bezug zum Lied finden, weil das total in Vergessenheit gerät: In einer Zeit, wo es unheimlich schwierig ist, dass man seine Musik auch irgendwie hört, war das ein Heilungsprozess, der uns direkt zu den Wurzeln brachte. Jetzt bei diesem Album ist das Konzept anders. Es reflektiert auch unser Innenleben zu dem Zeitpunkt der Arbeit daran. Und was und auch wichtig war, dass man so viele Musiker so vieler Genres und Epochen – ich meine, Whispering Pines ist von 1968, und auf der anderen Seite haben wir Künstler wie Stina Nordenstam! –, dass man diese Menschen zusammenbringt und eine neue Geschichte erzählt, und ich bin der Erzähler. Aber ich liebe meine Covers immer, es ist eine Freiheit in dem, was ich tue.

Du hast es vorhin schon mal angesprochen: Wenn es einen Künstler gäbe, dem du aus Verehrung eine Kerze anzünden würdest, es wäre David Bowie. Bei mir wäre es übrigens Leonard Cohen …

Oh, dem können wir gern auch noch eine Kerze anzünden!

… Worauf ich hinaus will: Du hattest dich auch schon im letzten Jahr auf deinem Vorgängeralbum Combinded mit This is Not America an einen Bowie-Song, genauer: einen Bowie/Pat Metheny-Song gewagt; auf The Lost Are Found ist mit Everyone Says Hi wieder ein Bowie-Song dabei …

… und auf Another Language hatte ich auch einen! Gott, wie hieß der nochmal? Saturday … Saturday … Drive In Saturday!

… also dein drittes Bowie-Cover! Da fragt sich natürlich, oder da frage ich mich: Was genau fasziniert dich so an Bowie, dass du seine Songs wieder und wieder singst und was war im Allgemeinen das Kriterium, nach dem du die zu covernden Songs ausgewählt hast?

Also, erstmal sind Stephen und ich beide große Bowie-Fans. Was ich an Bowie immer so „special“ und interessant fand, ist, dass er sich immer verändern wollte. Er wollte nicht in einer Phase steckenbleiben und hat sich damit auch persönliche Ziele gesetzt, was ich immer sehr bewundernswert fand. Dann kommt noch dazu, dass man ganz genau weiß, dass es ein Bowie-Track ist, wenn man ihn hört; das ist einfach wie seine Unterschrift und das kann nur er. Und natürlich die Art und Weise, wie er singt, wie er aussah bzw. wie er aussieht und wie er sich immer präsentiert hat, dieses Selbst-Image, das hat mich schon sehr lange begleitet und fasziniert. Deshalb ist Bowie für mich immer diese hell scheinende Kerze gewesen bzw. der eine, dem man die Kerze anzünden würde oder wie du das ausgedrückt hast! Deine andere Frage war, wie diese Auswahl …

… genau, zustande kommt. Warum diese Künstler. Bei Bowie hast du gesagt, er habe dich schon immer fasziniert und lange begleitet. Nicht alle Künstler, die du coverst, sind aber schon so lange dabei bzw. überhaupt so populär – Stina Nordenstam zum Beispiel musste ich erst einmal googlen, die kannte ich gar nicht! Und ich kann mir vorstellen, dass das einigen so geht, weshalb ich mich frage: Warum gerade die?

Also, es war ja so, dass wir nach Stücken gesucht haben, mit denen wir da weitermachen konnten, wo wir mit One Summer Dream, das ja ziemlich unbekannt ist (es ist mal als B-Seite veröffentlicht worden), aufgehört haben. Ein Riesenkriterium für die Auswahl war 1.) Melodie, 2.) Text und 3.) Inhalt. Ich bin jemand – und Stephen ist auch so, weshalb unsere Zusammenarbeit auch so gut lief: wir sind einfach auf derselben Wellenlänge, wir haben dieselben Ansprüche an Lieder! –, bei dem der Text total stimmen muss. Was heißt „total stimmen“ … aber er muss schon was haben. Es ging auch darum, das richtige Lied mit der richtigen Stimmung, vor allem dieses Melancholische, zu finden, und auch Stücke, die – obwohl sie teilweise sehr traurig sind – trotzdem noch die Kraft haben, einen hochzubringen. Wir wollten kein Album machen, das so depressiv ist, dass man sich die Handgelenke aufschneidet, sondern wir wollten zeigen, dass man aus einer bedrückenden oder schmerzenden Situation etwas Positives machen kann.

Der Hoffnungsschimmer, der im Dunkeln greifbar ist …

Ja, und der war uns bei der Auswahl der Songs wichtig! Und dann war es mehr so eine Art Brainstorming: Welche Lieder magst du, welche Lieder mag ich. Mysteries of Love, beispielsweise. Wir sind beide David-Lynch-Fans, vor allem, weil er auch die Melancholie und Tiefe hat. Ich mag es nicht, wenn es bei einem Künstler immer so happy und ein bisschen oberflächlich bleibt. Ich mag es mehr, wenn es tiefer geht und wenn man raushört, dass die Leute auch bestimmte Lebenserfahrung gesammelt haben. Licht und Dunkel, das gehört ja alles zusammen! Und für mich repräsentieren das diese Künstler auf dem Album. Stina war mir auch unbekannt, und Lilac (The Lilac Times, Anm. d. Red.) kannte ich auch nicht. Da hat mir Stephen wieder was beigebracht, und ich lerne gerne! Oder zum Beispiel Memories of a Color – in den Liedern von Stina Nordenstam ist immer so ein leichter Hauch Jazz mit drinnen, ihre Eltern sind auch beide Jazzmusiker. Und ich habe gerade mit meiner Jazz-Periode angefangen, da passte das. Whispering Pines wieder hat viele Blues- und Gospel-Elemente. Das ist für mich sehr lehrreich! Dann „tackle“ ich das halt und sehe es auch als Herausforderung, so nach dem Motto: Mal gucken, was ich damit machen kann.

Wagen wir einen kurzen Rückblick auf deine Karriere: Seit der Auflösung und einigen Wiedervereinigungsversuchen von Propaganda warst du ja alles andere als untätig: Du hast ein Jahr lang in der ZTT-Band Act gesungen, bist Mutter geworden, hast mit deinem neuen Lebensgefährten, OMDs Paul Humphreys, die Band Onetwo gegründet und mit Künstlern wie Martin Gore von Depeche Mode, Andy Bell von Erasure oder eben Andrew Poppy zusammengearbeitet …Letztes Jahr dann hast du für ein Computerspiel gesungen, und außerdem ist von uns heute schon oft angesprochene die Retrospektive Combined – The Best of Claudia Brücken erschienen. Eigentlich müsste sich jemand mit solch einem Output ja auch mal auf seinen Lorbeeren ausruhen können! Was ist der Anlass, die Inspiration, wieder ein neues Album aufzunehmen und woher nimmst du die Energie dazu?

(Lacht) Für mich ist das einfach ein Teil von mir. Ich glaube, ich wäre sehr depressiv, wenn ich mich musikalisch nicht ausdrücken würde. Und ich werde das auch so lange machen, bis ich … wie die Blondie das gesagt hat, bis ich lächerlich wirke! Und wenn ich was sagen oder mich ausdrücken will, dann möchte ich das auch tun. Du hattest bei der Aufzählung übrigens noch ein Soloalbum von mir vergessen. 1991 habe ich mein erstes Soloalbum gemacht, und danach wurde es ein bisschen ruhiger, weil ich meine Tochter bekommen und dann auch allein erzogen habe. Das war ein Job für sich selbst, weshalb ich nur hier und da kleine Projekte gemacht habe. Aber jetzt ist meine Tochter im Januar auch einundzwanzig, und ich habe dann wirklich so einen frischen Wind empfangen und gedacht, so, jetzt! Ich hatte wahrscheinlich ein Nachholbedürfnis, das Gefühl, ich habe da noch etwas zu tun, noch eine Aufgabe!

Das heißt, mit Combined hast du retrospektivisch quasi abgeschlossen mit deiner bisherigen Karriere, festgestellt, ich habe aber immer noch was zu sagen, und das aktuelle Album ist gewissermaßen ein Neubeginn …

Ja.

Du hast erzählt, dass du mit Stephen Hague ja schon für Combined auf zwei Tracks zusammengearbeitet hast, und ich frage mich, ob ihr dabei eben genau das festgestellt habt: dass ihr noch etwas zu sagen habt, was über Combined hinausgeht, also dass ihr quasi noch nicht „durch“ seid mit eurer Zusammenarbeit …

Auch. Es ist richtig, wir hatten diese zwei Lieder gemacht. Ich hatte Stephen vor vier Jahren auf einer Party getroffen und er war jemand, mit dem ich schon so lange zusammenarbeiten wollte. Also bin ich zu ihm hingegangen und hab gesagt, ich möchte mit dir zusammenarbeiten. Und ich war unheimlich überrascht, wie locker er war! Das hat mir total gefallen, denn ich mag es nicht, wenn Sachen verkrampft sind oder wenn Leute irgendwie zuerst über das Geschäft reden müssen und diese ganzen Sachen, denn mir geht es wirklich erst einmal um die Zusammenarbeit und um die Musik! Das ist mein Drive, und ich habe bei Stephen sofort gespürt, dass er unheimlich viel Insight hat und auch total viel Erfahrung. Diese beiden Stücke, die wir für Combined zusammen geschrieben haben, das war … Also, ich bin nicht der schnellste Schreiber. Ich wollte aber auch was machen, und zwar nicht schreiben, und es dauert dann noch ewig, sondern ich wollte jetzt was machen, und Steve auch, da waren wir ein bisschen ungeduldig. Und so kam er dann mit der Idee zu< em>One Summer Dream – und dann war da diese See von schönen Liedern, die man covern kann, da war so viel zu schöpfen! Und davon waren wir einfach inspiriert, dieses Album zusammen zu machen, und es war auch sehr therapeutisch: Er lebt in Hastings und ich lebe in London, und ich bin dann immer mit dem Zug nach Hastings gefahren und er hat mich von der Bahn abgeholt; und während wir zu ihm gefahren sind, haben wir über das nächste Lied geredet und wie wir es angehen. Wir haben das Lied, das ich eingeübt hatte, bei ihm aufgearbeitet und dann hat er mich wieder zurückgefahren und wir haben über das nächste Lied geredet. Er hat mir einen Basic-Backing-Track gemacht, also wirklich sehr basic, gar kein großes Arrangement, sondern nur ein Beat und ein bisschen Gitarre und das war’s, und ich habe mich dann wirklich total in diese Stücke reinversetzt und auch versucht, mich in den Kopf von dem Schreiber reinzusetzen – und in den des Original-Interpreten. Zum Beispiel dieses Whispering Pines, da hab‘ ich erst wie so viele Leute gedacht, oh Gott, man kann kein Cover von The Band machen! Da darf man einfach nicht rangehen! Da habe ich wirklich lange dran gearbeitet. Oder auch an And The Sun Will Shine. Weil: Robin Gibb! Das ist ja auch so eine Person, wo man sich erst nicht traut. Da musste ich mich richtig herantasten und durchwühlen. Das ist dann natürlich ein Prozess, bei dem ich auch sehr viel lerne, also, vom technischen her, wie die Phrasen sind und was die Interpreten mit ihrer Stimme alles machen und erreichen können, das finde ich sehr interessant und daraus kann ich auch lernen.

Wenn man das Album auflegt, ist man von dem von David Lynch betexteten Opener Mysteries of Love erst einmal überrascht. Wahrscheinlich erwarten die meisten von dir immer noch tanzbaren Synthiepop à la Propaganda, dabei wirkt dieser Song durch seine Orgel und den Hall geradezu sakral. So etwas hätte ich eher einer Loreena McKennitt oder einer Susanne Sundfør zugetraut. Wie kam es zu dieser fast spirituellen Atmosphäre?

Ich glaube, das liegt erstmal daran, dass da keine Drums sind.

Was für Popmusik extrem ungewöhnlich ist!

Ja, wir wollten damit auch sofort die Richtung angeben, wir wollten den Leuten, den Hörern sagen: Also, das ist so die Schiene, die hier abläuft. Erwartet nicht, dass …

… wobei die Erwartungen zwar enttäuscht, aber durch etwas Positives ersetzt werden!

Ja, das war so unser Gedanke. Erst einmal zu sagen, hallo Leute, es ist nicht … what you expect. Das war auch ganz bewusst so, dass wir das an den Anfang gesetzt haben. Und dann hat sich die Geschichte eigentlich irgendwie ergeben: What is love? Es geht los mit Mysteries, also, das zu beschreiben bzw. wie David Lynch versucht, in Worten zu beschreiben, was Liebe bedeutet, und dann kommen wir zum nächsten Lied, Memories of a Color, denn Liebe hat ja auch viel mit Memories, mit Erinnerungen zu tun …

Es fragt nach dem Farbton zwischen braun und pink …

Ja, genau. Und dann geht es in diese ganzen kleinen Geschichten. Es ist eine Gesamtgeschichte, die aus Kleingeschichten besteht und die dann diese Wege von Hoffnungslosigkeit, also auch Liebe, die nicht erfüllt wurde, und solche bewegenden Themen anspricht. Es ist nicht einfach so happy-happy. Auch nicht bei The Road To Happiness, denn die Lyrics besagen, dass man auf der Straße zum Glück durch die Hölle gehen muss!

Die Vorstellung von Liebe auf dem Album kreist in der Tat nicht gerade um pink-farbene Elefanten und Limonade! Ich habe auch das Gefühl, dass jeder Song überdurchschnittlich viel Text für einen Popsong hat und damit eher Ballade oder gar Mörderballade als Tanzflächenbeschallung ist …

Ja, bei Crime und bei King’s Cross!

Ich empfinde das sogar schon bei The Day I See You Again so, dazu habe ich mir notiert: „Auch wenn der Track im bunten Synthiepopgewand daherkommt, erinnert er mich von epischen Erzählhabitus und der Melodieführung an moderne Murder Ballads, beispielsweise an Where The Wild Roses Grow von Nick Cave und Kylie Minogue.“ Du gast ja vorhin schon angesprochen, dass sich aus diesen vielen einzelnen Geschichten durch die Songabfolge eine große Geschichte ergibt. Was ist die Meta-Geschichte, die das Album erzählen soll? Das, was du gerade sagtest: Der Weg zum Glück führt durch die Hölle?

Ja, sowas. Wobei ich es auch schwer finde, das alles in Worte zu tun! Darum haben wir ja auch diese ganzen phantastischen Frauen und Männer, die diese Stücke geschrieben haben, zusammengeführt, denn die können das so gut in Poesie ausdrücken! Das spricht dann auch irgendwie von alleine. Und was die große Geschichte angeht: Da kann sich jeder selbst seine eigene Geschichte hineinprojizieren! Zum Beispiel, eines meiner Lieblingslieder – obwohl das jetzt alles Babys sind, an denen ich sehr sehr hänge! –, Crime von Stina, da ist was Schauriges passiert. Und ich weiß nicht, was da passiert ist.

Aber was Schauriges auf eine unglaublich coole, zeitgenössische Art!

Von der Musik her, meinst du? Das ist aber auch dem Steve geschuldet, der ist nicht in dem Achtziger-Synthiepop steckengeblieben. Und das ist es auch, was ich an ihm so richtig bewundernswert finde: Er hat den richtigen Instinkt, richtige Entscheidungen zu treffen. Er weiß, was cool ist und was nicht cool ist. Das weiß nicht jeder! Er ist für mich auch eher so ein Bühnenbildner, ein Bühnenbildner für Sound. Die Stimme oder die Geschichte ist dabei etwas, worauf er sich konzentriert. Er überproduziert das dann auch nicht, er versucht nicht – obwohl, bei King’s Cross, das ist ja vollkommen verrückt, was er da macht, das ist ja ein Pandämonium am Ende! –, es mit seiner Produktion zu killen; er tut nur dort etwas dazu, wo es halt sein muss. Er macht Bilder, Soundbilder!

Baut Kulissen für deine Stimme, die darin frei wandeln kann, ihr aber gleichzeitig den nötigen Rahmen geben?

Richtig. Und macht nicht zuviel. Und das kann nicht jeder. Auch zu wissen, wann man aufhört. Beispielsweise ist Road to Happiness von der Produktion her ja sehr karg, er ist also auch sehr vielseitig. Er hat beispielsweise ein Lied gemacht, das für mich immer sehr bedeutsam war, eines meiner Lieblingslieder, das ist 1963 von New Order. Und wenn man sich dieses Lied anhört, dann kann man auch seine Lieder hier und seine Produktion verstehen.

Wenn wir noch einmal auf den Gedanken einer Gesamtgeschichte des Albums zurückkommen und den Kontext, der durch eine bestimmte Reihenfolge ja impliziert ist, heißt das, das Album an sich ist für dich immer noch ein relevantes Format? Viele Menschen hören ja leider keine ganzen Alben mehr, sondern kaufen nur ihre Lieblingssongs. Gerade in einem Fall wie bei The Lost Are Found würde einem so aber die große Geschichte durch die Lappen gehen …

Absolut! Das ist so „Cherry-Picking“ und das ist einfach nicht meine Welt! Wir haben dieses Album auch als absolutes Album, sogar als Vinylalbum, gesehen und behandelt. Auch wenn es jetzt hier auf der CD ist, haben wir schon gedacht, bei Crime hört jetzt die erste Seite auf und ab da ist es die zweite Seite. Wir sind einfach old school – und das ist auch okay so. Das sind wir, das sind unsere Erfahrungen. Und das ist wieder diese Oberflächlichkeit von Leuten und diese Schnelllebigkeit. Ich weiß noch, als ich mir früher Alben gekauft habe, mochte ich manche Lieder am Anfang gar nicht – und dann waren es auf einmal meine Lieblingslieder! Das lag daran, dass ich sie anfangs einfach nicht zum richtigen Zeitpunkt gehört hatte – man muss ja auch in einer bestimmten Stimmung sein für ein Album … Da kann man so viel verpassen, wenn man nicht richtig zuhört. Man muss sich auch ein bisschen Zeit lassen und ein bisschen gelassener sein! Wenn man sich im Museum ein Kunstwerk ansieht, dann muss man sich ja das Bild auch genau angucken und da irgendwo reinkommen – und das passiert heutzutage nur noch so selten, die Leute sind so flüchtig geworden! So empfinde ich das zumindest. Wir haben uns davon aber nicht … eigentlich haben Stephen und ich das gemacht, was wir wollten. Und wir hoffen, dass es genug Leute ansprechen wird.

Tut ihr auch aktiv was dafür, dass The Lost Are Found bevorzugt als Album zu erwerben ist, oder bietet ihr auch den Download einzelner Tracks an?

Man kann es machen, wie man es will. Die Leute können es auf CD erhalten, die Leute können es als Vinyl erhalten. Vinyl gibt es auf unserer Website als auf 500 Stück limitierte Edition, wobei die ersten 200 Exemplare von Stephen und mir signiert und nummeriert sind, für fünfundzwanzig Pfund. Wir rechtfertigen den Preis auch damit, dass, wenn wir eine Platte nach Amerika verschicken, uns das acht Pfund kostet. Acht Pfund! Das Album gibt es aber auch auf iTunes, da kannst du dir nur einen Track downloaden …

Und da wolltet ihr auch gar keinen Riegel vorschieben, um das Albumkonzept zu erhalten?

Nee. Also, entweder picken die Leute das selbst up oder nicht. Das bleibt jedem selbst überlassen. Aber für mich ist das so: Ich kann das nicht. Ich gehe nie zu iTunes und kauf mir nur ein Lied! Ich möchte das ganze Album haben. Und ich möchte das auch in dieser Sequenz hören, wie der Künstler das gedacht hat. Ich glaube auch, da die Lieder hier sehr eingängig sind, ist es mit diesem Album auch einfach so, dass es nicht viele Lieder gibt, die man skippen möchte. Ich denke mal, man kann das als Gesamtwerk ganz gut hören.

Denk ich auch – habe ich gestern auch den ganzen Abend gemacht! Du hast vorhin angesprochen, dass alle Songs des Albums mittlerweile so etwas wie Babys für dich sind. Hast du dennoch einen besonderen Favoriten?

Ich hänge wirklich unheimlich an jedem einzelnen Stück. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass ich mich solange mit denen auseinander gesetzt habe. Eines hervorzuheben, fände ich schwierig, weil die Magie des Liedes in jedem von diesen Stücken enthalten ist! Whispering Pines halte ich zum Beispiel für eines der traurigsten Lieder, die ich je gehört habe. Und wenn ich dann auch noch weiß, dass Richard Manuel (der Komponist des Stückes, Anm. d. Red.) sich das Leben genommen hat, dann ist das noch trauriger. Und Everyone says Hi ist ein Lied, das hat der Bowie für seinen Freund, den sterbenden George Harrison, geschrieben. Und wenn ich so etwas weiß, gibt das dem Lied eine zusätzliche Tiefe. Man soll jetzt nicht irgendwie Tränen verströmen oder so, aber es begleitet einen schon durch schwierige Phasen. Denn wenn man in einer schweren oder schwierigeren Phase ist, dann will man ja nicht so happy Up-beat Music hören …

Wann will man schon mal happy Up-beat Music hören!? Damit sind wir auch schon fast am Schluss unseres Gesprächs angekommen. Ich würde dir gern zum Abschluss noch den Kommentar eines begeisterten Hörers vorlesen, der sich auf Amazon zu einer deiner CDs geäußert hat: „Claudia Brücken könnte von mir aus auch Hänschen klein singen, ich mag einfach ihre Stimme“. Bei meinen Recherchen zu diesem Interview bin ich immer wieder auf Leute gestoßen, die behaupten, dass sie dich damals bei Propaganda gehört haben und deine Stimme sie seitdem in ihrem Unterbewusstsein begleitet … Was ist das Geheimnis der sagenumwobenen Brücken-Stimme, die dir schon Vergleiche mit Marlene Dietrich eingebracht hat, was tust du, sie fit zu halten?

Oh, das ist aber süß von ihm! Die Brücken-Stimme? Nun, ich singe jeden Tag. Ich singe aber auch einfach nur für mich, weil es mich in eine gute Zone bringt. Wenn ich beispielsweise vor irgendetwas Panik empfinde, dann lege ich eine Pause ein, nehme mir einen Backing-Track und singe. Und das bringt mich wieder gut drauf. Manche Leute gehen ins Fitness Studio und bauen dort ihren Frust ab, und für mich ist es eben das Singen. Natürlich kommt es auch darauf an, was die Leute mit der damaligen Zeit verbinden. Die Propaganda-Fans, die sind mir einfach richtig treu geblieben. Ich war damals neunzehn und habe darum viele Fans, die jetzt so vierzig, zweiundvierzig sind. Ich glaube, wenn man Fan ist – wie ich zum Beispiel mit Bowie, das ist dasselbe in Grün –, wenn du einmal fasziniert gewesen bist von jemandem, und wenn er dich musikalisch nicht enttäuscht, dann bleibst du immer sehr attached an diese Person. So stelle ich mir das auch bei meinen Fans vor, die sind sehr loyal und das ist sehr schön. Es gab in Propaganda-Zeiten eben diese Pop-Zeiten, also Leute, die straight Pop Music mochten, und dann waren wir da. Wir waren sehr disturbing.

Ihr wart die „Abba from hell“ …

Das wurde uns mal so untergeschoben, wir haben uns nicht selbst so getauft. Aber wir waren halt eine Alternative zu diesen anderen Bands: Wir waren rebellisch, wir hatten Attitüde – und wir haben nie gelacht. Susanne und ich, wir konnten damit immer spielen, und die Leute hatten echt Angst vor uns! Wenn ich mir heute die Plattencover so angucke, kann ich das auch verstehen! (lacht)

Das heißt, es stört dich überhaupt nicht, wenn man dich auch heute noch ständig auf deine Zeit bei Propaganda anspricht …

Nein, gar nicht! Das ist ein Teil meiner Geschichte, und ich spiele jetzt auch, wenn ich mit meiner Band nach Deutschland komme, Propaganda-Sachen, alles aus meiner Vergangenheit, also nicht alles, aber vieles. Das ist mein Repertoire. Vor allen Dingen auch Secret Wish, da bin ich sehr stolz drauf, diese Erfahrung gemacht zu haben mit diesen phantastischen Musikern, die da auch involviert waren. Sowieso, meine Zeit auf ZTT, die schätze ich sehr! Ich weiß zum Beispiel noch, wie ich im Studio war – wir haben gerade Duel aufgenommen – und jemand kommt rein und es ist Stewart Copeland von The Police, und er spielt auf einmal Schlagzeug auf unserem Stück! Ich meine, auf einmal kommt Stewart Copeland rein? Das war schon eine irre Zeit für mich! Und jeder wollte damals mit Trevor Horn arbeiten. Ich glaube, das war auch darum so wichtig für mich, weil ich bis heute gern mit Produzenten arbeite, und meine erste Erfahrung war halt Trevor Horn. Damals war ich so grün, da wusste ich gar nicht, dass Platten überhaupt produziert werden. Ich war noch in der Schule, als Dr. Mabuse ein Hit war, er war Nummer sieben in Deutschland und ich war noch in der Schule und habe gerade mein Abi gemacht … Das war schon irgendwie, als ob man ein goldenes Lotterie-Ticket bekommt! Und ich glaube, weil der Trevor so hohe Ansprüche an einen hatte, dass das auch irgendwie meinen musikalischen Geschmack geprägt hat und auch, mit wem ich zusammen arbeiten möchte. Damals war mir das psychologisch nicht bewusst, aber deshalb arbeite ich auch gern mit Menschen, die ich so hoch schätze – und wenn die dann auch noch mit mir arbeiten wollen, dann ist ja alles wunderbar!

Überspitzt gesagt ist also Trevor Horn Schuld daran, dass du jetzt dieses Album mit Stephen Hague gemacht hast!

Zum Beispiel, ja. Doch, ich meine, Produzenten sind ja auch selbst unheimliche Künstler; es geht ja auch für die Produzenten um etwas Persönliches und Eigenes, was sie auf dem Recording hinterlassen, auch ein Stück Seele von sich.

Im Idealfall …

Also, in dem Fall der Leute, mit denen ich zusammengearbeitet habe: ja. Das gilt auch gerade für das neue Album. Das ist auch ein Stück von dieser Person.

Das heißt, du würdest The Lost Are Found gar nicht unbedingt als Claudia-Brücken-Soloalbum bezeichnen, sondern eher als Brücken-Hague-Kollaboration?

Ja, eigentlich schon. Ich hatte dem Steve die Option gelassen, habe gesagt, wir können es zusammen machen oder einen Bandnamen benutzen, du kannst mit mir auf die Bühne kommen, wie du möchtest! Ich selbst sehe das als absolute Kollaboration – das ist schon ein Team-Erfolg von uns beiden.

Auch, wenn das Cover es vermuten ließe: Die beiden hier fischen definitiv nicht im Trüben!

The Lost Are Found wird in Deutschland am 11. Januar 2013 veröffentlicht und demnächst in Victoriah’s Music auf fairaudio.de besprochen – einfach öfter mal reinschauen!

8. Januar 2012

Ein Album, das auszog, ins neue Jahr hinübergerettet zu werden

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , , — VSz | Klangverführer @ 12:21

„Es ist heutzutage nicht unüblich, dass Künstler (Promoter, Labels etc.) einen Song aus einem in naher Zukunft erscheinenden Album vorab zum Gratis-Download anbieten, gewissermaßen als Appetitmacher. So war es auch im Falle der brasilianischen Wahlberlinerin Dillon. Ich hörte ihren Song „Thirteen Thirtyfive“ und fing prompt an zu sabbern und zu denken: Mehr! Mehr davon!!

Mehr davon gibt es seit dem 18. November mit This Silence Kills, einem Album, das von Kollegen gern mit den Youth Novels (2008) von Lykke Li verglichen wird, wobei sie die Musikerin selbst als eine Mischung aus Lykke Li und CocoRosie beschreiben. […]“

Weiterlesen? Wie immer auf fairaudio.de, Ihrem liebsten Online-HiFi-Magazin.

3. Januar 2011

Die Jagd nach einem Phantom: Ins neue Jahr startet Victoriah’s Music mit einem Klangkrimi
― eine wahre Geschichte ―

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , , — VSz | Klangverführer @ 10:36

Ich fuhr mit der U-Bahn so für mich hin, und nichts zu suchen, das war mein Sinn … Im Schatten sah ich dann allerdings kein Blümlein steh’n, sondern das Kundenmagazin der BVG aushängen. Mein guter Kumpel, der Fernsehturm, war auf dem Titelblatt abgebildet, schick angestrahlt und alles. Guckste mal rein, dachte ich mir. Is‘ ja manchmal die ein oder andere kulturelle Anregung drin. Und tatsächlich stieß ich so vor mich hinblätternd unter der Überschrift Musikalische Ausgrabungen bald auf die Vorstellung der neuen CD von Andrej Hermlin. Soso, hat der also wieder mal eine neue CD gemacht, und – aha! diesmal nicht in amerikanischen Swing-Gefilden gewildert, sondern gewissermaßen direkt vor unserer Haustür, genauer: der Friedrichstraße, interessant. Das muss ich zu Hause gleich mal recherchieren.

Leichter gedacht als getan. Weder die großen Online-Händler noch die Webpräsenz des Swing Dance Orchestras bzw. Andrej Hermlins selbst listet das Album. Auch die einschlägigen Seiten bei Hermlins Plattenfima hüllen sich in tiefes Schweigen. Coverabbildungen? Fehlanzeige. Diese CD gibt es nicht! Eine groß angelegte Web-Recherche ergab einen mageren Treffer. Offensichtlich hatte Hermlin das mysteriöse Werk im September bei Dussmann präsentiert. Für EUR 18,99 soll man es dort erstehen können. Und eine winzige Abbildung ist auch dabei. Nun, da ich mit Ankündigungen des selbsternannten Kulturkaufhauses bereits zur Zeit meiner Magisterrecherchen so manch lustige Erfahrung gesammelt habe, dachte ich mir: Gehste sicherheitshalber doch selbst mal hin. Erst, wenn du die CD in der Hand hast, glaubst du, dass es sie gibt.

Ich also in der nächsten Mittagspause zu Dussmann. Ist ja nicht weit; auch ich arbeite in jener Straße, die Hermlin Inspiration gewesen sein soll. Hoch zum Jazz – schließlich hätte ich das Album jetzt beim Swing eingeordnet, wie komme ich nur darauf? – , nach Hermlin gefragt. „Der iste unten bei die Dance Orchestras“, werde ich beschieden. Wieder runter zu den Tanzorchestern. Tatsächlich, da ist er. Und – da ist auch die CD Schwingende Rhythmen. CD geschnappt, ab zur Kasse. Zurück im Büro mache ich die Folie ab und scanne das Cover, um eine passable Abbildung für die fairaudio-Leser zu bekommen. Als ich dann die CD selbst in den Rechner legen will, um sie zu hören, folgt wieder eine Überraschung: Da ist gar keine CD drin! Hab ich sie etwa im Scanner verloren? Umgehend werden dieser und seine nähere Umgebung abgesucht. Nichts. Das ist eine CD-Attrappe! Eine Potemkin’sche CD! Ich sag es doch: Dieses Album gibt es gar nicht! Das tut nur so! Kein Wunder, dass (fast) niemand darüber berichtet! Kein Mensch hat dieses Album je gehört! Und wenn ein Journalist jetzt vom tollen neuen Hermlin-Album schwärmt, kann man getrost davon ausgehen, dass es einer jener Kollegen ist, die Alben nicht hören, um sie zu besprechen … Das ist alles ein Test! Ein abgekatertes Spiel! Die wollen wissen, wer wirklich Musik hört und wer nur abschreibt, was andere geschrieben haben, jawohl!

Aber so schnell gebe ich nicht auf. Am nächsten Tag mit Leer-Hülle und Kassenbon wieder zu Dussmann: „Da war keine CD drin“, beschwere ich mich. Der Reklamationsmensch kramt im Lager, fördert ein weiteres eingeschweißtes Exemplar der Schwingenden Rhythmen zu Tage. Ich bestehe darauf, die CD vor seinen Augen zu öffnen. Er denkt, ich bin komisch. Mir egal. Fakt ist: Da ist ein Silberling drin. Zurück am Schreibtisch lege ich ihn ein und – es ertönt Musik. Echte Musik, keine Attrappe!

Diese CD gibt es, ich besitze ein Exemplar, man kann sie anfassen, hören und … ich kann sie guten Gewissens empfehlen. Doch allein schon für ihre abenteuerliche Beschaffung hat sie den Status der CD des Monats verdient – wie immer auf fairaudio.de

31. Dezember 2009

— Fundstück des Monats —
… und gleichzeitig Neujahrsvorsatz:
Jeden Tag ein kleines Lied!

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 13:10

„Man soll alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte sprechen.“
Johann Wolfgang von Goethe, 1749 – 1832

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