23. März 2014

Ein Rettungsboot voller Lieder: jo_berlin und illute im Panda-Theater

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Was für ein Kontrastprogramm! Am Vorabend noch Mascagnis Cavalleria rusticana und Leoncavallos Bajazzo in der Inszenierung David Pountneys unter der musikalischen Leitung von Cornelius Meister in der Deutschen Oper Berlin gesehen – und heute dann jo_berlin und illute. Keine Angst, ich verschone Sie hier mit einer Opernkritik, erlaube mir aber, beide Stücke mit je einem dem Popkosmos entlehnten Zitat zusammenzufassen. Da wäre erst einmal die Cavalleria rusticana, und es liegt auf der Hand: Whatever Lola wants, Lola gets! Dann der Bajazzo: Drama, Baby, Drama! Wer ein Faible für die italienische Oper schwurbelig-spätromantischer Provenienz samt ihrem plakativen, ja: melodramatischen Verismus hat, weiß, wovon ich rede. Kurz: Es war ein Fest. Und damit sind wir auch schon beim Thema, denn ein Fest war auch der vergangene Samstagabend, wenngleich grundsätzlich anderer Natur, kann man doch übersteigerte Emotionalität, Sentiment und überhaupt Dramatik weder jo_berlin noch illute vorwerfen.

Bevor ich weiterschreibe, möchte ich noch mögliche Interessenkonflikte offenlegen, denn bei den neuen Platten beider Künstler habe ich meine Finger im Spiel. So ist illutes So wie die Dinge um uns stehn die erste Veröffentlichung, deren von mir verfassten Waschzettel – also das Begleitschreiben, das Journalisten mit dem Rezensionsexemplar erreicht – ich mit meinem Namen gezeichnet habe. Viele Kollegen schreiben diese Texte, die meisten verzichten aber auf Namensnennung, da man sich ja nicht dem Ruch aussetzen will, sich mit (s)einer Sache gemein zu machen oder, bewahre, gar Redaktion und Promotion auf unzulässige Weise zu vermischen. Ich dagegen glaube mittlerweile, dass es durchaus legitim ist, für eine gute Sache die Werbetrommel zu rühren – und Platten von illute sind immer eine gute Sache, angefangen von ihrer allerersten EP bis zu ihrem Auftritt bei und mit The Stewardesses.

Mehr noch: Ich betrachte es als Ehre, wenn einem Künstler meine Texte so sehr gefallen, dass er bei mir danach anfragt. Bei der Novemberticket-EP von jo_berlin, der den Samstagabend für illute eröffnet hat und dem ich auch privat in Freundschaft verbunden bin, habe ich, kurz gesagt, fast alles gemacht – bis auf das Wichtigste, die Musik. Warum? Ich bin ganz verliebt in die Lieder von jo_berlin, seit ich sie zum ersten Mal gehört habe. Nicht ohne Grund habe ich ihnen vor zwei Jahren in meiner Klangköpfe-Serie viel Platz eingeräumt! jo_berlin findet Bilder, die nicht unbedingt naheliegen, Andeutungen, die immer mehr meinen, als sie sagen, und schreckt auch vor den ganz großen Begriffen nicht zurück, die anderen zu emotional oder gar pathetisch scheinen. Wer etwas auf seine Coolness gibt, verwendet die nicht. Und genau das mag ich an jo_berlin: Er ist nicht cool. Und damit viel cooler als alle, die cool sind.

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Teilen sich nicht nur die Bühne, sondern auch den Plattenkoffer: jo_berlin & illute

Nicht zuletzt ist jo_berlin auch derjenige, der illutes erstes Album Immer kommt anders als du denkst als „lebensrettende Platte“ bezeichnet und damit eine seither vielzitierte Phrase geprägt hat. Und letzten Samstag hat sich dieser Kreis mit einem gemeinsamen Auftritt beider Musiker nun endlich geschlossen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich ich war, all diese Lieblingslieder hören zu dürfen, live, an ein und demselben Abend. Und während jo_berlin das Konzert für illute eröffnet, kann ich zum ersten Mal am eigenen Leib erfahren, was genau es mit dem lebensrettenden, wobei ich lieber sagen möchte: heilenden Aspekt von illutes Musik auf sich hat, und zwar nicht nur im wörtlichen Sinne – ist doch meine Erkältung spätestens bei den letzten beiden Stücken des Abends vergessen -, sondern auch im übertragenden. Aber dazu später mehr. Erst einmal erfreut jo_berlin, der als ehemaliger Frontmann einer englisch-sprachigen Grunge-Band in der Hauptstadt nicht nur seinen neuen Namen, sondern auch seine ureigene Sprache gefunden hat, mit dem Blick des Zuzüglers, der Berlin dank seines Brotjobs aus einer Perspektive zu sehen bekommt, die selbst die meisten hier Geborenen nicht kennen dürften. Nicht nur im Lied findet er schöne Worte, sondern auch in der Ankündigung. Et voilà: Novemberticket! Und für die, denen das zu depressiv ist, wirft er schnell noch den Stein ins Meer hinterher, der sich in den nächsten Tagen – gib mir dies, gib mir das/aber gib mir irgendwas – noch als verdammter Ohrwurm erweisen soll.

Und dann kommt auch schon illute und fängt ohne größere Umbauten, Umstände oder Pausen gleich mit einem Lieblingssong ein: Sichtbar, den sie, wenn ich mich nicht täusche, schon auf der Tour mit den Stewardesses gespielt hat. Ich ärgere mich, denn ich stehe noch in der Schlange vor dem einzigen (!) Unisex (!)-Klo, das nach Auffassung des Panda-Theaters knapp einhundert Leute versorgen soll. Schade, gibt es eben kein Video von Sichtbar. Ich grummele noch eine Weile vor mich hin, bis mich ein zweistimmiger a capella Loop Song im Duett mit Geigerin Danielle Grimm betört, den ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Was kann man dazu mehr sagen als zauberhaft!

Ohnehin steht der ganze Abend – Stichwort Loop Song – im Zeichen der Klangschleifen, nicht nur im konkreten, sondern auch im übertragenden Sinn, er hallt nach, findet Anknüpfungspunkte zum Alltag und kommt in der Erinnerung immer wieder momentweise hoch. Ich ertappe mich dabei, Ausklang des Abends noch tagelang vor mich hinzusummen. Mein Matrose, ein, verzeihen Sie die Wiederholung, zauberhaftes Wiegenlied, von dem ich wünschte, es wäre mir eingefallen.

An maritimen Bildern herrscht auch sonst kein Mangel bei illute, weder auf ihrem aktuellen Album So wie die Dinge um uns stehn, wo mal der „Horizont bleibt, wo er immer war“, mal „Kein Land in Sicht“ ist oder „die Hoffnung über Bord“ fällt, noch auf dem Vorgängeralbum Immer kommt anders als du denkst, auf dem sich mit My Music Is A Boat mein persönliches illute-Lieblingslied aller Zeiten versteckt. Hier toll mit großer Band – Daniella Grimm an der Violine, Jacob Przemus am Schlagzeug, Philipp Schwendke am Bass und als Special Guest zu meiner besonderen Freude einer großartigen Julia A. Noack an den Vocals – und, um im Bild zu bleiben, voller Maschinenkraft:

Nicht nur, dass ich an diesem Abend vor illute auch als Sängerin ganz neuen Respekt bekommen habe – sie kann eben nicht nur diese niedlichen Songminiaturen, für die sie bekannt ist und denen dank ihrer aus dem Spielzeuginstrumentarium rekrutierten Begleitung wie Melodica oder Ukulele immer auch etwas ganz Kindliches innewohnt -, auch hat der Song für mich an diesem Abend eine ganz persönliche Bedeutung angenommen und mich im Schnelldurchlauf gelehrt, mich auf das, was illute hier „my music“ nennt und was Sinnbild nicht nur für die Musik, das Schreiben, die Arbeit, sondern auch das täglich zu lebende Leben sein kann, zu konzentrieren. Wem die Alltagsaufgaben, in denen er aufgeht, sein Boot sind, segelt damit fort, den Fahrtwind in den Haaren, und derjenige, der ihn kürzlich sehr geärgert hat, wird langsam aber sicher immer kleiner und unbedeutender. Treffender als mit „my music is a boat on the water/the wind is in my hair and you are getting smaller“ hätte ich das auch nicht ausdrücken können, und obwohl ich keine Ahnung habe, ob es das ist, was illute mit diesem schönen Bild beschreiben wollte, fühlt es sich für mich richtig an und selbst mich von dem Lied verstanden, in ihm aufgehoben und getröstet. illute versteht es, die Dinge, die uns umtreiben, in einfache Reime zu kleiden, die einen Mantra-artig durch die Tage, vor allem die weniger guten, leiten. Das ist es, was jo_berlin gemeint hat, als er von den lebensrettenden Liedern der illute sprach, die in keine musikalischen Hausapotheke fehlen dürfen.

2. Dezember 2013

Ein Mann, ein Hut und eine Gitarre. Thomas Dybdahl entzündet das Licht

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Wenn sich ein Kreis schließt – und sei er noch so klein! -, stellt sich ein Gefühl tiefen Wohlbefindens ein. Das mag durch den Reim jetzt nach Kalenderspruch klingen, wird dadurch aber nicht weniger wahr. Kommt der Kreisschließer noch dazu in Gestalt des norwegischen Superstars Thomas Dybdahl, der hierzulande trotz aller Bemühungen meinerseits immer noch dramatisch unterschätzt wird, daher, kennt die Zufriedenheit am Ende des Tages kaum noch Grenzen.

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Es begab sich nämlich, dass ich mir nach einer Vielzahl arbeitsamer Wochen endlich mal wieder einen faulen Sonntagvormittag im Bett gönnen konnte; und wie ich da so zwischen Teetasse, leichter Lektüre und Schmusehund selig vor mich hindümpelte, wurde mir gar vorweihnachtlich zumute – immerhin schrieben wir den Ersten Advent. Da kann es schon mal passieren, dass sich von Ferne eine kleine Melodie in den Kopf schleicht, um sich dort niederzulassen und bei Kaffee und Adventsgebäck gemütlich einzurichten:

„Have yourself a merry little Christmas,
Let your heart be light
From now on,
our troubles will be out of sight

Have yourself a merry little Christmas,
Make the Yule-tide gay,
From now on,
our troubles will be miles away“,

sang es in meinem Kopf, und wie schön das da sang! Eigentlich mochte ich gar nicht aufstehen, hätte dies doch unweigerlich den Zauber gebrochen. Aber immerhin lockte – umsonst und draußen – ein Akustik-Set von Thomas Dybdahl, der auf dem Pariser Platz am Brandenburger Tor beim diesjährigen Lichteranzünden des Weihnachtsbaums, den Berlinern von der Königlichen Norwegischen Botschaft als „glowing symbol of Norway’s friendship“ traditionell zum Geschenk gemacht, den musikalischen Botschafter aus dem Reich der Mitternachtssonne geben sollte – im Vorjahr traf das Los, nicht minder verlockend, die Damen von Katzenjammer. Ach Norwegen, du hast schon tolle Künstler!

Also flugs aus dem Bett gesprungen und im Schlepptau des großartigen Jo_Hannes samt Familie zum Tore gewandert, dem die Massen in der Hoffnung auf Lichterglanz und norwegischen Glühwein bereits ebenso zahlreich wie freudig erregt zuströmten. Kaum angekommen, stand er auch schon auf der Bühne – Thomas Dybdahl, ein Mann, ein Hut und eine Gitarre. Rein akustisch und – abgesehen vom Schellenkranz am Fuß – ohne jegliche Effekte. Und genau hier zeigt sich (endlich wieder!) die Stärke der dybdahl’schen Lieder, die sich auf dem letzten Album hinter der aufgeblasenen Produktion versteckt hielt, denn Starproduzent hin wie her – Thomas Dybdahl braucht das alles nicht. Dem kann man eine alte, sich in der Kälte permanent verstimmende Klampfe um den Hals hängen und ihn seiner Backingband berauben – sein irgendwo zwischen Curtis Mayfield und Maxwell flackerndes Falsett strahlt umso heller. Und seine Kompositionen, derart entkernt, treffen mitten ins Herz, falls man, um die Kollegen von Max zu zitieren, eines hat.

Und genau da kommt auch das kleine Weihnachtslied wieder ins Spiel, denn Dybdahls sechs-Stücke-Set endet mit einer echten Premiere: Zum ersten Mal in seiner Karriere spielt er ein Weihnachtslied. Und welches hat er sich ausgesucht? Der Mann hat eben nicht nur göttliches Talent, sondern auch noch Geschmack.

31. Juli 2013

Cohen sehen und sterben
— Nachlese zum Berlin-Konzert vom 17. Juli 2013 —

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Unter selber Überschrift stand schon meine Konzertkritk von Cohens World Tour 2010, denn eigentlich ist diesem Stoßseufzer nichts hinzuzufügen. Kritisches schon mal gar nicht, denn Cohen ist heilig und vor Heiligen hat das gemeine Fußvolk in Ehrfurcht zu erstarren, nicht aber an ihnen herumzukritteln. Und eine weitere Lobpreisung hat der „Godfather of great singers who can’t sing“ vermutlich so nötig wie ich das allsamstagmorgendliche Aus-dem-Schlaf-Gerissenwerden via Presslufthammer vor meinem Schlafzimmerfenster. Nämlich gar nicht. Und so hat es auch exakt vierzehn Tage gedauert, bis ich mich entschlossen habe, doch noch etwas über Leonard Cohen zu schreiben. Es ist auch gar nicht als Konzertkritik im üblichen Sinne zu betrachten, eher als themenbezogene Meinungsäußerung.

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Nachdem das nun einmal klar gestellt ist, kann es auch schon losgehen mit dem Gemecker. Punkt eins: Die o2-Arena! Ein schrecklicher Ort! Schon Barbra Streisand haben wir hier erduldet, und nun also Leonard Cohen. Die Akustik ist zwar nicht so schlimm, wie man meinen könnte. Den Zauber einer Waldbühne wird diese Mehrzweckhalle allerdings nie auch nur in Ansätzen entfalten. Wer irgend kann, besorge sich Premium-Tickets, sonst schafft man es in einer fünfundvierzigminütigen Pause nicht einmal aufs Klo. Es gibt – für Frauen – zu wenig sanitäre Anlagen, obwohl man hätte meinen können, dass den Architekten bewusst sein müsste, etwa dreimal so viele Frauen- wie Männerklos zu planen. Chance vertan. Über die überteuerte Getränke- und rein-nur-mit-Plastikbechern-Politik der o2-World wollen wir hier mal dezent schweigen. Ist schon klar, dass man hier kein Picknick machen kann wie in der Waldbühne – schön ist trotzdem anders.

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Punkt zwei: Cohen bringt im Grunde genommen – nicht nur was die Setlist, sondern auch, was die Besetzung angeht – seine 2008-2010er Tour noch einmal auf die Bühne. Okay, das ist jetzt Jammern auf ganz ganz hohem Niveau. Cohens letzte Tour kann eigentlich gar nicht oft genug wiederholt werden. Und so eröffnet er das erste Set des Abends gewohnt routiniert mit Dance Me to the End of Love, gefolgt von The Future. Das vor drei Jahren an dieser Stelle gespielte Ain’t No Cure for Love fällt weg, dafür folgen wieder Bird on the Wire und Everybody Knows. Auch das damals gespielte In my secret Life musste weichen, Who by Fire wird vorgezogen. Doch dann zeigt Cohen, dass er es nicht auf eine bloße Wiederholung seiner wahnsinnig erfolgreichen letzten Tour abgesehen hat und die 2013er Old Ideas-Tour ihren Namen zu Recht trägt. Schließlich ist in der Zwischenzeit sein lange gereiftes Album Old Ideas erschienen – und tatsächlich reichert er sein Programm auch mit Stücken daraus an.

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I’ve got no future/I know my days are few, röhrt Cohens Gänsehautbass bei The Darkness, und die Hammond orgelt dazu. Es sind die neuen Stücke, die das Publikum in Cohen-Fans der alten Schule (die das Album nicht kennen, sich gar weigern, es zur Kenntnis zu nehmen, denn es kann ja nicht so gut sein, wie seine alten Sachen, die sie für die einzig wahren halten) und erst kürzlich in sein Werk Eingestiegene teilt. Ich selbst bin erst seit Live in London vom August 2010 dabei, brüste mich aber damit, im Zeitraffer Jahrzehnte Cohen’scher Lyrik nachgeholt zu haben. Außerdem gefällt mir Old Ideas. Gefällt mir sehr! Das wiederum machte den Devotionalienerwerb schwer, denn alles, was der Händler so hatte, musste ich mit einem müden „Hab‘ ich schon“ abtun. Nur die massiv beworbene Solo-CD Everybody Knows von Background-Sängerin Sharon Robinson hatte ich noch nicht – wollte sie aber auch nicht.

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Vermutlich war das ein Fehler, denn bei Stücken wie Amen (Tell me again) oder Come Healing (of the Spirit) fällt einmal mehr auf, dass man sich die Arrangements ohne den Engelssatzgesang Robinsons und der göttlichen Webb-Sisters gar nicht mehr vorstellen kann. Was für die 2010er-Tour galt, gilt auch hier: Endlich, endlich haben die Stücke Leonard Cohens die Arrangements bekommen, die sie schon immer verdient hatten. Cohen hat mit seinen Musikern gewissermaßen nichts Geringeres als den finalen Aufbau, die definitive Ordnung seines Werkes gefunden. Wie bin ich froh, den Stücken in dieser Phase begegnet zu sein – andernfalls wäre ich vielleicht nie solch ein glühender Cohen-Fan geworden!

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Lover Lover Lover (Come back to Me) schließt das erste Set ab, und viele mittelalte Damen im Publikum fühlen sich persönlich angesprochen und kreischen inbrünstig mit. Dennoch bleibt nach diesem erste Set ein irgendwie unbefriedigtes Gefühl: Das soll es jetzt gewesen sein? Wo ist der Funke geblieben, der 2010 so schnell übersprang? zugegeben: Die Stücke des erstens Sets haben alle eine recht ähnliche musikalische Diktion; und auch die ersten Songs von Set zwei – Tower of Song, Suzanne, Chelsea Hotel #2, Sisters of Mercy – klingen alle so, als hätte man ihnen einen eher rockigen, vor allem aber sehr gleichförmigen Anstrich verpasst.

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Bei The Partisan rasten die Leute regelmäßig aus – so auch hier. Selbst, wenn ich die Geschichte des Songs kenne und schätze – ich weiß nicht, für mich ist die Begeisterung über ihn zum Gutmenschenlippenbekenntnis bekommen und ich fange an, mich über einige Altachtundsechziger im Publikum freumdzuschämen. Was nicht an Cohen liegt. Der imponiert mir. Und das umso mehr, wo er während Sharon Robinsons Solo-Ballade Alexandra Leaving andächtig lauschend neben ihr stehen bleibt. Wo die Streisand die Nummern ihrer Mitmusiker nutzte, um hinter der Bühne zu verschwinden, zeigt der 79-jährige – der übrigens immer noch sexy wie die Hölle ist – respektvolle Präsenz. Und Präsenz hat auch die Grabesstimme des Dichtersängers, die mit voranschreitender Zeit immer besser zu werden scheint – nicht nur mit den Jahren, wie ein guter Wein, sondern auch im Verlauf des Konzerts selbst. I’m your Man konstatiert er – und vermutlich gibt es mittlerweile kaum noch jemanden im Saal, der das nicht glaubt.

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Und dann singt, nein: predigt Cohen sein Hallelujah, und auch ich bin erstmals an diesem Abend erfüllt von stillem Glück. Wenn nur wegen dieses Liedes – der Abend hätte sich gelohnt. Er muss ihn schon tausende Male gesungen haben, seinen Signature-Song, und immer noch gelingt es ihm, Ergriffenheit hervorzurufen – nicht zuletzt bei sich selbst. Da ist im Publikum kein Halten mehr, und zu den Klängen von Take this Waltz pilgern die Glücklichen, die ihren Platz nicht auf den Rängen, sondern im Innenraum haben, in Scharen zur Bühne, laufen ihrem Priester zu wie einst die ersten Jünger bei der Bergpredigt.

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Dass das zweite Set und damit das Konzert offiziell eigentlich beendet ist, will weder das Publikum noch Cohen selbst einsehen. Es folgt Zugabe Nummer eins. Wer über ein fast fünf Jahrzehnte umfassendes Hitrepertoire wie Leonard Cohen verfügt, kann es sich leisten, Publikumslieblinge wie So long, Mariann erst jetzt zu bringen. Unter uns: Ich hätte lieber noch etwas aus Old Ideas gehört, und auch die Solo-Nummer der Webb-Sisters If It Be Your Will vermisse ich schmerzlich. Ganz unter uns: Bis jetzt hat mir das 2010er-Konzert besser gefallen. Dann aber spielt er als zweite Zugabe zu meiner grenzenlosen Freude mit Going Home aus Old Ideas meinen aktuellen Cohen-Favoriten. Und wie er den spielt! Going home without my sorrow/Going home sometime tomorrow/Going home to where it’s better than before//Going home without my burden/Going home behind the curtain/Going home without the costume that I wore symbolikt er und erschafft damit einen wunderschönen Abschluss dieses Abends.

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Doch was heißt hier Abschluss? Für mich in meiner Going Home-Seligkeit wäre der Uptempo-Rausschmeißer First We Take Manhattan nicht nötig gewesen, aber in der deutschen Hauptstadt fährt man auf den Song ob seiner Zeile Then We Take Berlin total ab. Klar, dass er den hier spielen muss, angestachelt von einem Publikum, das ich im Grunde für recht empfindsam halte, unter dem sich aber auch ein überraschend hoher Anteil von Kirmestechnodeppen zu verbergen scheint, für die es ordentlich rumsen muss. Alles rast. Mir selbst ist die spirituelle Stimmung, die Going Home – ebenso wie Hallelujah – heraufbeschworen hatte, gründlich kaputtgemacht worden und ich komme mir vor wie am Ballermann.

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Glücklicherweise hat Cohen mit den sensibleren unter seinen Anhängern ein Einsehen und spielt noch eine vierte Zugabe, die nichts von der Außer-Rand-und-Band-Atmosphäre ihres Vorgängers hat: Famous Blue Raincoat von Cohens 1971er Songs of Love and Hate haben wohl schon viele in ihrer Jugend gehört, die sich auch jetzt paarweise zum Tanze wiegen, und auch ich bin wieder ganz versöhnt. Umso mehr, als dass jetzt doch noch If It Be Your Will gespielt wird, das ich so sehr habe hören wollen. Wenn man sich etwas so sehr wünscht und dann passiert es – das ist zunächst ganz unwirklich. Aber schön. Und dann spielt der alte Sack, der auch ohne seine Band nur mit der Gitarre in der Hand in der Großraumarena bestehen kann, tatsächlich noch Closing Time von seinem 1992er-Studioalbum The Future, und besser könnte er den Abend nicht ausklingen lassen:

    • Ah we’re drinking and we’re dancing
    • and the band is really happening
    • and the Johnny Walker wisdom running high
    • And my very sweet companion
    • she’s the Angel of Compassion
    • she’s rubbing half the world against her thigh
    • And every drinker every dancer
    • lifts a happy face to thank her
    • the fiddler fiddles something so sublime
    • all the women tear their blouses off
    • and the men they dance on the polka-dots
    • and it’s partner found, it’s partner lost
    • and it’s hell to pay when the fiddler stops
    it’s closing time!

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Aber von wegen Sperrstunde, denn Cohen scheint nicht nur über schier unerschöpfliche Energievorräte zu verfügen – er wird mit jeder Zugabe munterer und präsenter, als hätte er sich erst jetzt so richtig warmgesungen. Es ist so richtig Stimmung in der Bude. Heilig ist die Atmosphäre jetzt zwar nicht mehr, aber das macht überhaupt nichts, denn Cohen wird immer besser. Go, Lenny, go! Und das tut er, er springt und hüpft und singt und scherzt – gehen lassen wollen wir den nicht mehr! Passenderweise beginnt Zugabe Nummer sieben mit der Zeile I tried to leave you. Das nennt man dann wohl dramaturgischen Humor, und das Publikum liebt es, auch wenn die Gitarre hier ganz schön Gary Moore-t. Jeder soliert noch einmal, auf dass wir uns aber- (und hoffentlich nicht letzt-)malig an dem grandiosen Line-up erfreuen können. Cohen ist in Hochform, dennoch kommt man nicht umhin zu denken: Der arme Mann! Lasst ihn doch endlich nach Hause gehen! Und das tut er, nachdem er uns mit dem Drifters-Millionenseller Save the last Dance for Me aus dem Jahr 1960 bittet, den letzten Tanz den Abends für ihn zu reservieren. Keiner, der sich dem verweigert. Auf den Rängen tanzt gar ein altes Paar, das vermutlich schon vor mehr als fünfzig Jahren zu dieser Nummer in inniger Umarmung versank. Und wo andere Künstler schon längst mit Kamillentee und Halswickel im luxuriösen Hotelbett lägen, gibt Cohen noch einmal alles. Es ist unwahrscheinlich, dass er noch einmal wiederkommen wird.

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18. Mai 2013

Schön, dass es so etwas gibt!

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , , — VSz | Klangverführer @ 16:28

Treue Klangblog-Leser werden es kaum glauben, und auch ich würde mich damit schwertun, hätte ich nicht mit eigenen Ohren gehört, dass dieser empathische Ausruf, den ich mir nach meiner ersten Überraschung gleich mal für die Überschrift ausgeliehen habe, keinem Geringeren als Mr. Böse Zunge himself, sprich: Bassplayerman, entfahren ist.

Schuld daran war mal wieder der Bossa Nova, der gestern Nacht in Form von Louise Gold und dem Quarz Orchestra das üblicherweise harten Cow-a-billys vorbehaltene Bassy sanft überrollte, und das, obgleich der Abend irritierend genug begann, mit einem Barkeeper, der sich Sorgen um die Leber seiner Gäste machte, einem hirnerweichenden Siebziger-Jahre-Softporno-Marathon – sollte sich der Beginn des Konzertes doch um ungeplante anderthalb Stunden verschieben – auf der Clubwand, bei dem man autounfallgleich einfach nicht weggucken konnte, und einer, als es (kurz bevor man uns mit einer sicherlich exquisiten Auswahl aus der „Mexicana“-Reihe der hauseigenen Cinemathek beglücken wollte) gegen Mitternacht dann endlich losging, meinerseits völlig unerwarteten Bourlesque-Künstlerin als „Vorprogramm“, die sich letztlich jedoch nicht nur als ganz niedlich erweisen sollte, sondern auch ein tolles Beispiel dafür war, dass normal- bzw. nach heutigen Maßstäben leicht übergewichtige Frauen ebenfalls ein gerüttelt Maß an Sinnlichkeit versprühen können.

Da tut die unterkühlte Erotik von Louise Gold als Kontrast jedenfalls dringend Not – und gut. Denn dann endlich spielt man sich, trotz „kleiner“ Besetzung im Sextett, für die sich Hans Quarz im Vorfeld bestimmt dreimal – und obendrein völlig überflüssigerweise, denn seiner Posaune allein gelingt es, einen ganzen Bläsersatz zu kompensieren – entschuldigt hatte, bravourös durch einige der schönsten Stücke von Debut, lässt aber auch Altes und Brandneues hören. Völlig egal, ob Bossa Nova …

… Swing …

… oder der Umgebung angepasster Rockabilly – in diesem Falle: das Elvis-Cover That’s Alright, Mama mit Ukulelen-Begleitung und Retro-Gitarrensolo – …

… da stehen sechs Leute, die wissen, was sie tun. Ob nun Thibault Falk an den Tasten brilliert, Florian Segelke den Django Reinhardt gibt, Gold die spröde Diva mimt oder Quarz seine Musikerherde schäferhundgleich zusammenhält – das freut nichzt nur den Kritiker, sondern auch die feierwütige Meute, die wild tanzt. Bass und Schlagzeug sind in dem extrem dichten Bandsound stellenweise kaum als eigenständiger Beitrag auszumachen – und bereiten dem Ganzen doch den Boden. Das Erstaunlichste aber ist die Stimme von Louise Gold, denn live offenbart sich, dass ihr spezieller Klang nicht der Retro-Studiotechnik geschuldet ist. Dieser leicht angezerrte, klassisch-jazzige Sound, der eigentlich nur entsteht, wenn man in ein Bändchenmikrofon singt – der kommt bei Gold einfach so aus der Kehle, auch wenn sie ein strunznormales Shure SM58 vor dem Mund hat.

Damit meistert sie nicht nur souverän die Stücke, die eigentlich für die Tentett-Besetzung gedacht sind, wie beispielsweise Footloose Fancy-Free oder meine persönlichen Lieblinge Boys Are Heroes und – den hier hier leider ob eines übereifrigen Tänzers leicht verwackelten – Tillerman and Comrade

… sondern auch die große Ballade Hush! Hush! Sweet Baby, mit der ich mich anfänglich noch schwertat, die es aber mittlerweile ebenfalls in den Kreis meiner persönlichen Favoriten geschafft hat und deren Darbietung mich heute Nacht einmal mehr an die Opern-Version von Gershwins Summertime erinnert. Los wird man die Stücke ohnehin nicht mehr, denn wie schon bei der Platte tritt auch nach dem Konzert der Goldquarz-Effekt ein, dass man die Stücke noch die ganze Nacht über immer und immer wieder im Kopfrekorder abspielt.

Findet man dann zu Hause noch einen friedlich schlummernden, seinem Namen alle Ehre machenden Lina Liebhund vor, der sich nicht innenarchitektonisch betätigt, ja, nicht einmal das kleinste bisschen randaliert hat, während man ihn allein gelassen hat, dann kann man sich Bassplayerman nur aus vollem Herzen anschließen: Schön, dass es sowas gibt!

10. April 2013

A Little Magic in a Noisy World …

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 20:34

… ist an Tagen wie diesen genau das, was man braucht. Zu nämlichem Zweck kann man jetzt den gleichnamigen Sampler aus dem Hause Actmusic – neben dem Nachfolger More Magic in a Noisy World definitiv mein liebster Sampler in Sachen Worldjazz! – hören, und wer den nicht kennt, muss ihn sich auf der Stelle besorgen, jetzt noch, bevor er weiter liest. Man kann aber auch in ein Konzert des Gitarristen David Sick gehen, der es ebenfalls vortrefflich versteht, die Welt mit seinem stillen (und manchmal gar nicht so stillen) Zauber für einen kurzen Moment zum Innehalten anzuhalten. Wie glücklich kann man sich schätzen, wenn an Tagen wie diesen Aussicht auf einen Abend wie diesen besteht!

Der Tag jedenfalls startete, wie Tage wie diese es nun einmal zu tun pflegen, unter denkbar schlechten Vorzeichen im Bermuda-Dreieck von Migräne, übler Nachrede und unguten Neuigkeiten. Und auch die nähere Umgebung des Konzertes, zu dem mich Sick – treuen Klangblog-Lesern sicherlich als männlicher Teil des Duos Mara & David ein Begriff – spontan geladen hatte, lässt ob ihrer Trostlosigkeit und Uninspiriertheit zunächst eher Erinnerungen an Dantes Warnung am Höllentore erwachen: Lasciate ogni speranza voi ch’entrate: Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren.


Bonsoir tristesse. Schallplatten gibt es hier jedenfalls nicht mehr

Umso inspirierender dann das eigentliche Konzert. Nicht nur, dass man für einen unmittelbaren Kontakt des Künstlers mit seinem Publikum auch die beengten Sitzverhältnisse und den nicht wirklich optimalen Sound im Hinterzimmer des Prenzl’berger Gitarrenbauers Wolf & Lehmann gern in Kauf nimmt – vor allem David Sicks Interpretationen und Kompositionen sind es, die den kleinsten Raum zum Strahlen bringen und, bleiben wir beim Stichwort, dazu angetan sind, die Menschen zu insprieren. Ob Sick nun beim klassischen Teil des Konzerts, der aufgrund des akustischen Settings als der dieser Umgebung angemessenere erscheint und unter anderem mit einer wunderbaren Version von Roland Dyens‘ Tango en skai aufwartet, die Zuhörer auf kollektive Gedankenreise zu Wendepunkten in der persönlichen Biographie verführt, oder im seine Eigenkompositionen präsentierenden (ich will nicht sagen: Rock/Pop/Jazz-, denn was spielt Sick da eigentlich? Funkbluesindiefolkfingerstyle in oepn tuning?)Teil gar zum Hervorholen des Skizzenblockes anreget – seine Töne bringen zum Singen und wecken eine längst verschütt gegangen geglaubte Kreativität in jedem Einzelnen.

Dass David Sicks Gitarrespiel, und fragen Sie mich jetzt nicht, wie er es macht, denn ich kann es mittels musikwissenschaflich-ästhetisch-analytischer Kriterien nicht erklären, an inneren Orten berührt, zu denen nicht allzu viel Musik in der Lage ist vorzudringen, weiß ich seit seinem Debütalbum Industrial Blues, mit dem ich eine zeitlang sehr intensiv gelebt habe. Und natürlich habe ich mich mehr als gefreut, Stücke wie Cat Song (das von seinem Komponisten, der seine alten Stücke auf der Bühne ohnehin gern mal situativ umtauft, aber vielleicht ist das auch nur die natürliche Entwicklung, die so ein Stück im Laufe der Jahre nun einmal nimmt, nunmehr als Cat Obsession angekündigt wird), Ballad und natürlich auch den Magic Fire Dance, einmal live zu hören, denn obgleich ich David Sick mit Mara & David oft gesehen habe und obwohl ich seinen Industrial Blues so gut zu kennen und verstehen glaube, habe ich – zu meiner Schande – noch nie ein Solokonzert von ihm besucht. Vielleicht ist das alles aber auch viel banaler und ich bin wie die meisten Menschen auch und freue mich einfach, wenn ich etwas höre, das ich schon kenne.

Lügen straft diese These, dass mich zwei neue Stücke elektrisiert haben. Zum einen eines, das Das Leben einer Mikrobe oder so ähnlich heißt – zum anderen eines mit einem ähnlich bilderreichen (Arbeits-)Titel, nämlich Guter Bulle, böser Bulle. Und das habe ich Ihnen als kleines Souvenir von diesem magischen Abend mitgebracht, natürlich in der Hoffnung, dass Sie es für ebenso bezaubernd halten wie ich, dass Sie es kaum erwarten können, bis David Sicks neues Soloalbum erscheint und dass Sie bis dahin die einschlägigen Plattenläden stürmen, um seine aktuelle CD käuflich zu erwerben. Sollte Ihnen Ihr persönlicher Plattendealer ein ähnliches Bild bieten wie der weiter oben im Text gezeigte – ordern Sie es doch einfach direkt beim Künstler, das ist ohnehin viel cooler. Bis dahin viel Freude an Guter Bulle, böser Bulle, das Sie in dieser – nämlich erst zwei Tage alten, noch nicht ganz fertigen – Form wahrscheinlich nie wieder hören können:


Kurz, nur ganz kurz habe ich darüber nachgedacht, das anfängliche Tuning wegzuschneiden. Es wäre schade drum gewesen.

14. Februar 2013

What a diff’rence a day makes: Lisa Bassenge nimmt ihre Hörer mit auf Wolke 8

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 21:47

Statt dem vielbesungenen Tag müsste es allerdings heißen, was für einen Unterschied zwei Wochen doch machen können! Vor vierzehn Tagen stellte ich mir noch die klassische Frage: Was will mir der Künstler damit sagen? Die Rede ist vom Auftritt meiner Berliner Lieblingssängerin Lisa Bassenge, die in Mark Scheibes Berlin Revue eine Kostprobe aus ihrem neuen Album Wolke 8 gab und mich recht ratlos zurückließ. Diese Ratlosigkeit hat sich jetzt zum Guten aufgelöst, nachdem ich das neue Material von Lisa samt Band bei einem dreißig-minütigen Promo-Konzert im Kulturkaufhaus Dussmann noch einmal hören durfte, weshalb dieser Artikel auch unter der Überschrift „Welch einen Unterschied eine halbe Stunde doch machen kann!“ veröffentlicht werden könnte.

Ob nun eine halbe Stunde, ein Tag oder auch vierzehn davon – der Unterschied ist groß, denn, soviel sie hier schon einmal vorweggenommen, diese Zeitspanne hat mich zur bedingungslosen Apologetin des neuen Lisa Bassenge-Albums gemacht. Wolke 8, so verriet die Sängerin im dem Konzert vorgeschalteten Interview mit Radio-Eins-Moderatorin Bettina Rust, ist im Gegensatz zur letzten Platte Nur fort ein Album über das Ankommen. Irgendwann ist es nun einmal soweit, dass man bestimmte Ziele im Leben erreicht und sich von gewissen Illusionen verabschiedet hat, denn schließlich „muss man sich ja irgendwann mal festlegen“. Dass das nicht immer ohne Trennungsschmerzen vonstatten geht, davon erzählen die elf Stücke auf Wolke 8, darunter acht Original-Kompositionen, bei denen Schriftsteller-Shooting-Star Thomas Melle (Raumfoderung, Sickster) textend zur Seite stand, sowie drei Coverversionen: ein Selbst-Cover aus Nylon-Zeiten, ein Cover von Foyer des Arts – dem Duo von Max Goldt – sowie eine Interpretation des Vagabundenliedes, das Bassenge ihre Tochter immer im Kindergarten hat singen hören und seitdem unbedingt selbst aufnehmen wollte.

Unter den Neukompositionen findet sich nicht zuletzt der Apfelbaumblues, der autobiographische Kindheitserinnerungen der Künstlerin verarbeitet. Aufgewachsen im beschaulichen Zehlendorf in einem Haus mit Garten und (Apfel-)Bäumen, entstand bei der jungen Lisa der Eindruck, das Leben sei ein Sommergarten, wo man unter Bäumen sitzt und Kuchen isst – „bis ich gemerkt habe, dass das ganze Apfelbaumidyll so in Kreuzberg nicht lebbar ist“, wie sie selbstironisch hinzufügt. Ohnehin lebt Wolke 8 von einer gehörigen Portion Selbstironie, für die man vermutlich wirklich erst ein gewisses Lebensalter erreichen muss, in dem man bestimmte Dinge – und vor allem sich selbst – nicht mehr so wichtig nimmt. Das sei aber Verhandlungsgegenstand der in der kommenden Ausgabe von Victoriah’s Music erscheinenden Rezension, ebenso die Frage, ob sich ein Sechsachtler „Blues“ nennen darf (er darf, aber auch dazu an anderer Stelle mehr).

Hier sei erst einmal die Bühne eröffnet für die von Bassist Paul Kleber – den treue Victoriah’s Music-Leser nicht nur vom Lisa Bassenge Trio, von Micatone und Nylon kennen, sondern auch als Gast auf solch schönen Alben wie etwa Storytelling Pianoplaying Fräulein von Alev Lenz – trefflich arrangierten Stücke, allen voran die aktuelle Single Lass die Schweinehunde heulen:

Was mir in der Scheibe-Show noch arg electropoppig unterkühlt erschien, kommt in dieser Besetzung dermaßen mitreißend rüber, dass es sich hinter dem Hammond-lastigen Puder von Catharina Boutari, mit dem ich das Stück noch am ehesten vergleichen mag, nicht verstecken muss, obwohl mich Letzteres schon beim allerersten Hören geflasht hat, während es bei den Schweinehunden etwas länger dauerte, bis es „Klick“ gemacht hat – das dafür aber umso nachhaltiger. Auch der vor zwei Wochen noch bemängelte Umstand, dass ich die Bassenge lieber als Jazz- denn als Popsängerin höre, wird hier hinfällig, denn es ist genau ihre dem Jazz entlehnte Artikulation und Phrasierung, die selbst das abgehackteste Stakkato-Deutsch butterweich klingen lässt.

Ganz besondere persönliche Freude hat mir allerdings die Ballade Das hier wird für immer sein gemacht. Wird hier thematisch die Wolke sieben verlassen, um auf Woke acht abzuheben, habe ich bei diesem Stück vor allem ein Klang-Déjà-vu, denn da ist sie wieder! Die Silbe „ei“ im Refrain, die genauso klingt wie das „ei“ in „Es ist vorbei“ auf Lisa Bassenges Interpretation von Rio Reisers Junimond. Kennen Sie nicht? Sollten Sie aber! Sie finden sie auf der schönen Scheibe Won’t Be Home Tonight.

Bei Van Gogh, diesem fiesen kleinen „Wär ich dies/wärst du das“-
Rundumschlag, den man gehört haben muss, geht es laut Angaben der Sängerin „eigentlich nur darum, jemanden so richtig fertig zu machen“ – und das macht hier auch noch großen Spaß. Zudem hat es ein bisschen vom Micaton’schen Gundog-Shuffle, was es zum noch größeren Mitzappler, -zucker und -klatscher werden lässt. Cooles Ding, das als Kontrapunkt die ganz große Ballade braucht. Die gibt es mit Nach dem Glück, das meiner Meinung nach das Schlüsselstück des Albums ist, heißt es hier doch: „Nach dem Glück und nach dem Traum/Bleibt immer noch ein wenig Raum/Um die Reste noch zu retten/Ohne auf das Glück zu wetten/Nach dem Traum und nach dem Glück/Kommt das Leben erst zurück/Um die Reste neu zu binden/Vor dem ganz großen Verschwinden“. Sich der Realität nach Verlust der (jugendlichen) Illusionen solcherart zu stellen, das ist fürwahr ein Ankommen – nämlich im Leben an sich, was nicht ohne eine gewisse nachsichtige Liebe zum Leben geht. Wie soll das am Tag der Liebe auch anders sein!

Natürlich benötigt auch die große Ballade ihrerseits wieder einen Kontrapunkt – an dieser Stelle herzlichen Dank für die Dramaturgie des Sets! -, der sich dann auch schnell in Dernier Cri findet. Konnte ich damit bei Mark Scheibe noch so gar nichts anfangen, muss ich jetzt feststellen: Lisa Bassenge hatte im Berlin Revue Orchester einfach die falsche Band. Jetzt hat sie die richtige, und das Stück, verzeihen Sie den Ausdruck, haut einfach nur rein. Sorry Herr Scheibe, aber so muss das sein! Als Zugabe bekommen wir noch den Apfelbaumblues zu hören, doch was über den Abend hinaus im Ohr bleibt, ist der Shouter: „Denier Cri, denier cri/So verliebt war ich noch nie!“. Ich auch nicht. Frohen Valentinstag.

4. Februar 2013

Ach, Glück!

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: — VSz | Klangverführer @ 11:54

„Der heutige Beitrag soll mit einem Geständnis beginnen: Dass ich mich der Musik verschrieben habe, war so nicht geplant. In frühkindlichen Zeiten äußerte ich nämlich, beeindruckt durch eine extrem coole Besucherin meiner Eltern, den Wunsch, ebenso wie sie Modedesignerin zu werden. Meine Eltern, eine Fotografin und ein Graphiker, fanden das super. Dann würde ich ja gar nicht mal so aus der Art schlagen! Fortan war also mein zukünftiges Tätigkeitsfeld klar, und die Vorarbeiten begannen: Meine gesamte Kindheit und Jugend hindurch verbrachte ich in den verschiedensten Zeichenkursen, von Aktzeichnen über Holz- und Linolschnitt bis hin zu solch abgefahrenen Sachen wie Lithographie. Während meines Abiturs war dann auch schon die zukünftige Hochschule für mich gefunden, der Lette-Verein in Berlin. Am Tag meiner Aufnahmeprüfung allerdings – ging ich nicht hin, sondern stattdessen Musik studieren. Was daraus folgte, ist bekannt. Weniger bekannt ist, dass ich es zwar in letzter Zeit eher mit den HiFi-Leuten hielt und das anzog, was im Kleiderschrank ganz oben lag, nichtsdestotrotz aber einen heimlichen Hang zu Fashion & Style habe. Und den konnte ich gestern Abend ausleben.“

Soweit der Entwurf eines Textes, von mir angelegt am 13. Januar. Folgen sollte die schillernde Beschreibung einer für den Folgeabend geplanten rauschenden Nacht, die für mich ein edles Drei-Gänge-Diner, elegante Cocktails, amüsante Gesellschaft und eben auch eine exklusive Modenschau im Rahmen der Berlin Fashion Week bereit hätte halten sollen. Allein, es kam anders. „Plötzlich und unerwartet“, heißt es ja immer so schön. Unerwartet kam es zwar kaum, plötzlich indessen schon, denn wenn man über drei Jahre wartet, stellt sich des Wartens Ende umso abrupter ein, hatte man sich in seinem Warten doch schließlich so schön eingerichtet. Da gerät das eigene Leben schon einmal empfindlich aus dem Gleichgewicht. Was kann einen nach drei Wochen Rückzug ins Private dann besser locken als zwei Stunden pures Glück? Da will ich hin, dachte ich mir, das will ich auch!

Das Glück ist mir schon am Einlass hold. Eigentlich hatte ich nur eine Karte für den Rang erworben, da ich mir nicht wirklich sicher war, ob ich mich am Veranstaltungsabend in einem Zustand befinden werde, der ein abendliches Ausgehen zulässt. Er ließ, doch der Rang ist gesperrt. Und so sitze ich nun gespannt auf einem der mir zugewiesenen besseren Plätze im hübschen kleinen Kabarett-Theater Distel an der Friedrichstraße und harre gespannt der „äußerst schönen Musik“ und der „Unterhaltung von Wert“, die das Plakat verspricht. Beides ist dringend nötig, denn völlig in den gewohnten Bahnen läuft mein Leben indessen noch nicht wieder. Heute manifestiert sich mein Durchdenwindsein darin, dass ich die Hälfte meiner Arbeitsausrüstung, in diesem Falle: Foto- und Videokamera, zu Hause vergessen habe. Also zurück zur klassischen Art der Berichterstattung, die sich der Klangverführer nicht nur auf die Fahne, sondern sogar ins Logo geschrieben hat: Musik in Worte fassen. Ein ähnlich schönes Motto hat auch der Gastgeber des Abends: Musik ist Liebe. Aber lassen Sie uns erst noch einmal auf das Stichwort „schönes kleines Theater“ zurückkommen, das immerhin geschätzte einhundertzwanzig Leute – darunter etwa zehn der Musiker, die wir im Laufe des Abends noch als Gäste auf der Bühen sehen werden – vom allwöchentlichen Lieblingsritual der Deutschen, dem Sonntagstatort, weglocken konnte. Konsequenterweise begrüßt Mark Scheibe die Gäste seiner Berlin Revue dann auch als „elitäre Minderheit“, die den Weg zu ihm gefunden hat, und eröffnet mit perlenden Pianoarpeggien sein Lied über eine unerwiderte Liebe – die schöne Eisverkäuferin Annabella Totale.

Klamaukig wird es mit dem – stilecht in Rückenlage auf dem Flügel vorgetragenen – die Ernsthaftigkeit selbsternannter Performance-Poeten aufs Korn nehmenden Zweizeiler „Ach, könnt‘ ich doch nur fliegen/dann müsst‘ ich hier nicht liegen“, und dann entert auch schon das dreizehn Mann starke Berlin Revue Orchester die Bühne, das aus einem fünf-köpfigen-Bläsersatz (drei Saxophone, eine Trompete und eine Posaune), einem klassischen Streichquartett (zwei Violinen, eine Bratsche, ein Cello), einer Rhythmusgruppe (Schlagzeug und Bass) sowie einem Gitarristen und einer Harfenistin besteht. Wer will die nur alle bezahlen, schießt es mir spontan durch den Kopf, doch schnell weichen die wirtschaftlichen Bedenken der Freude am Vortrag. „Billy Jean“ auf „James Dean“ muss man auch erst einmal reimen! Zwar gefällt mir persönlich die Stimme von Scheibe wenig, doch seine Lieder, in diesem Falle die Autoscooterbahn, sind einfach lustig und versprechen einen kurzweiligen Abend. Zumindest könnte er das werden, würde die Live-Technik den Ton hinkriegen. Im Moment habe ich das Gefühl, dass die Trompete durchaus einen Dämpfer vertragen könnte – und das Solosaxophon auch. Die tun in den Ohren weh.

Doch schon der erste Gast des Abends macht beide Probleme, das der Scheibe’schen Stimme und das der überlauten Bläser, obsolet, denn der Bremer Singer/Songwriter Alexander von Rothkirch spielt nach eigener Aussage zwar „acousticfunkrock´n´roll“, schmeichelt seinen Reggae-lastigen Woke up this morning aber mit Akustikgitarre und sanftem Timbre so sanft in unsere Gehörgänge, dass zwei der drei Saxophonisten lieber Klarinette respektive Querflöte tirilieren lassen, während die Violinen zuckern, was sonst nur die Vöglein singen. Dem versprochenen Glück kommt diese Klangidylle jedenfalls schon sehr nah! Auch die zweite Rothkirch’sche Komposition des Abends, deren Titel Alright schon an sich Beruhigung verheißt, hat etwas vertraut Besänftigendes an sich, das sicherlich nicht zuletzt dem Umstand geschuldet ist, dass es ein bisschen an Kinderfernsehen à la „Sandmann, lieber Sandmann“ erinnert. Und auch die Trompete wartet hier endlich mit dem vermissten Dämpfer auf. Ja, so kann er weitergehen, der Abend.

Was er mit dem grandiosen Kreuzfahrtrevuestück Die Nachtigall auch tut, das einen in herrlichst-oberflächlicher Klangdekadenz schwelgen lässt, bis seine wirklich großartig böse Koda die Lachmuskeln erschüttert. Langsam, aber sicher, mutiere ich zum Scheibe-Fan. Auch der nächste Gast erfreut Ohr wie Seele, erweist sich Lili Sommerfeld doch als nichts Geringeres als die Kreuzberger Antwort auf Alicia Keys, wie sie sich da mit I’ve Changed die Seele aus dem Leib souljazzgospelt. Und auch, wenn die Bläser wieder das Lautstärkeproblem vom Anfang des Abends befallen hat – das Sommerfeld’sche Organ kann sich mit Leichtigkeit gegen die Blechwand durchsetzen. Das kann man von den vier Backgroundsängerinnen, die beim nächsten Stück zur Verstärkung anrücken, leider nicht behaupten. Erwartet man hier einen volumenreichen Chor wie den der Soulistics bei MisSiss, wird man arg enttäuscht. Merke: Wer eine derart stimmgewaltige Frontfrau wie Lili Sommerfeld hat, muss mit Backgroundsängerinnen aufwarten, die ihr wenigstens halbwegs das Wasser reichen können. Das dies hier nicht der Fall ist, ist umso bedauerlicher, als dass die Close-Harmony-Vokalsätze ähnlich schön wie bei En Vogue und Konsorten erklungen wären, hätte man sie nur hören können! Sommerfeld selbst läuft bei ihrer zweiten Nummer zur Aretha-Franklin-nahen Hochform auf, während ihr erstes Lied noch hier und da Anklänge an die bluesigen Erfolge von Marla Glen hatte.

Dann ist es aber auch schon Zeit für den Auftritt von Elias Gottstein und Carl Louis Zielke, besser bekannt als Duo „Guaia Guaia“, die in Stücken wie „Im Häuschen am Ostkreuz“ nicht nur moralmahnend (und dabei aber selbst Benz-fahrend und Brioni-tragend) über Obdachlosigkeit singen, sondern das Thema durch ihr Leben als Straßenmusiker im wahrsten Sinne des Wortes auch aus eigener Erfahrung kennen, was sie sympathisch und authentisch macht. Während das Häuschen aber noch lyrisch und freundeskreisig daherkommt, ist die … hm … lassen Sie mich sagen: bewegungsreiche Performance von Komm und tanz mit mir eine wilde Mischung aus Crunk, Dschingis Khans Horden und Cosmonautix, bei der sich Bratsche und zweite Violine ängstlich an ihren Notenpulten festklammern, und man weiß nicht genau, ob sie die Pulte nur vor dem Fallen bewahren wollen oder ob nicht viel eher die Pulte sie vor der Ohnmacht schützen sollen. Zum ersten Mal an diesem Abend bin ich ratlos. In der Pause auf der Damentoilette fragt die eine die andere: „Sagen Sie, waren die auf Drogen?“, wobei die andere erwidert: „Nee, ich glaube, auf Drogen geht noch anders“. Es ist Halbzeit bei Mark Scheibe und seiner Berlin Revue.

Das bedeutet, dass sich der Showmaster zu seinem berühmt-berüchtigten „Spontan Composing“ zurückgezogen hat, um aus im Publikum gesammelten Wörtern und Musikstilen während der Pause ein Lied zu kreieren, in diesem Falle eine Bossa mit Besenschlagzeug und Butterbass, kurz: „klingendem roten Licht“, wie die Anweisung des Maestros an sein Orchester lautet. Ich kann nicht umhin zuzugeben, dass – meine persönliche Stimmpräferenz hin- wie her – der Mann musikalisch genial ist. Ob das nun ausschließlich an Scheibe selbst liegt oder noch befeuert wird vom in der Pause genossenen Zweigelt: Erstmals an diesem Abend bin ich restlos begeistert. Diese Begeisterung legt sich auch nicht, als Michael Krebs mit Ich hatte keine Chance seine fabelhafte Satire über uns Arme in der falschen Zeit Geborenen zum Besten gibt, die nicht einmal RTL II hatten, nicht von der Supernanny erzogen, von Peter Zwegert von den Schulden befreit oder von Bohnen & Co. als Superstar entdeckt worden sind. Tragisch war so eine Jugend damals, wo es nur die Sendung mit der Maus gab! Und mit einem Mal ist auch der laute Bläsersatz einfach nur stimmig. Wie schon bei Rothkirch ist auch bei Krebs Jamaika eine gern gehörte Inspiration, was seinen Integrationssong mit mal locker schwingender, mal verschmitzt funkiger, aber immer punktgenauer Unterstützung der einzigen Frau unter dern drei Saxophonisten ungeahnt grooven lässt. Geile Zeile: „Atommüll endlagern im Kölner Dom/Mach mit – Integration!“

Und der Abend wird noch besser, nämlich mit der Solo-Scheibe, sorry, dem Scheibe-Solo Jazz gut finden, einer längst überfälligen Abrechnung mit allen Besserhörern, die sich auch als bessere Menschen wähnen. Verstehen Sie das nicht falsch, es geht hier nicht gegen die echten Jazzheads, die diese Musik nun einmal mit Leib und Seele lieben, sondern gegen die, die sie aus Lifestylegründen hören (müssen) und bei denen sie dieselbe Funktion einnimmt wie das „richtige“ Auto und der „richtige“ Innenarchitekt, bessergesagt: das „richtige“ Einkaufen (nämlich das einzig wahre, exklusive Olivenöl von einem obskuren kleinen Hof irgendwo in der Pampa) und das „richtige“ Bewusstsein (nämlich durch Ablehnung aller Massenunterhaltung offen zur Schau zu tragen, dass man nicht typisch deutsch ist, sondern kultiviert und weltgewandt und was-weiß-ich-was-noch-alles). Würde man diese demonstrativen Jazzhörer allerdings ganz allein und unbeobachtet lassen, man könnte wetten, dass sie die volkstümliche Terzseligkeit jedem FreeJazz-Geschwurbel vorzögen, das sie ja doch nicht verstehen, denn schließlich ist Jazz nie wirklich in ihren Herzen und Seelen angekommen, aber das nur als persönliche Nebenbemerkung von einer, die sich freut, dass hier ein Kriegsschauplatz eröffnet wurde, den sie ebenfalls beackert. Ganz groß auch , dessen eiskalte Synthpop-Stroboskopatmosphäre nur eines der vielen Achtziger-Klischees ist, die hier gekonnt verhackstückt werden. Und auf der Stelle werde ich zum glühenden Scheibe-Anhänger.

Dann kommt der Grund, weshalb ich – neben dem Glücksversprechen – eigentlich hier bin: Lisa Bassenge, deren aktuelles Album Wolke 8 für die nächste Ausgabe von Victoriah’s Music auf dem Stapel der zu rezensierenden CDs wartet. Schließlich bin ich seit dem Nylon-Album Die Liebe kommt (2004) ein großer Fan der Bassenge, und erst kürzlich habe ich die Micatone-12″ Gundog käuflich erworben, während in der Zwischenzeit weder die älteren Platten des Lisa Bassenge Trios – und hier vor allem das Kylie-Minogue-Cover Can’t Get You Out Of My Head von A Sigh, A Song (2002) noch Bassenges Live-Soloalbum Won’t Be Home Tonight von meiner persönlichen Playlist wegdenkbar waren. Guten Gewissens kann ich behaupten, dass die Stimme von Lisa Bassenge in den letzten zehn Jahren den Soundtrack meines Lebens geprägt hat. Ach, Lisa!

Was sie aber heute Abend zum Besten gibt, das electropoppt erst einmal so medioker vor sich hin. Der Megaphonshouter Dernier Cri (So verliebt war ich noch nie) reitet auf der neuen Neuen Deutschen Welle à la Puder, doch während ich dort durch die organische Wärme der Stücke, die Hammond, die nie wieder aus dem Kopf gehenden Melodien sofort hingerissen war, bin ich das hier – nicht. Bassenges zweites Stück ist zwar musikalisch wieder jazziger, der Text aber auch hier Hauptstadtbetont rotzig. Da geht es um auf Applaus pfeifen, die Nase bluten und die Erde beben zu lassen. Dagegen spricht aauch erstmal gar nichts. Schade an solch textlastigen Uptemponummern indessen ist, dass man nicht hört, wie wunderbar die Bassenge eigentlich singen kann. Es kommt mir vor, als stünde da jemand auf der Bühne, der sein Image als sinnlich säuselnde Sirene gewaltsam demontieren will. Und zum zweiten Mal an diesem Abend bin ich ratlos – und hoffe, dies ist kein Omen für Wolke 8. Vielleicht lerne ich die Stücke der Platte ja beim kleinen Promotionskonzert am Valentinstag schätzen – zumindest können dort meine Erwartungen nicht mehr gebrochen werden, denn das ist soeben schon geschehen. Ach, Lisa.

Dann ist es auch schon wieder Zeit für die nächste Solo-Scheibe, die mir den letzten Rest meiner Irritation mit einem eindrucksvollen Sexismus austreibt, das durch solch herrliche Reime wie „Es gibt wieder Propaganda/es ist wieder ein Tyrann da“ und einem tollen Flötensolo besticht. Der im Abgesang Berlin Revue gar nicht so verschämt versteckten Aufforderung, „die Botschaft in die Welt zu streuen“, sei hiermit Folge geleistet. Wenn Mark Scheibe mit seiner zwei Stunden Glück verheißenden Musikshow bei Ihnen in der Nähe gastiert – gehen Sie hin! Als Zugabe bekommen Sie dann auch noch ein glücksrauschintensivierendes What a diff’rence a day makes-Remake.


Muss für einen visuellen Eindruck eben das Fotohandy ran …

28. Oktober 2012

Noch amul! Jüdischer Tango und kein Ende

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 15:09

Da denkt man ja, man wäre mit dem Thema durch. Hat dazu alles gelesen, gehört, erforscht und beschrieben – und glaubt, sogar die Nichtexistenz des Phänomens bewiesen zu haben. Und dann, nach ungefähr sieben Jahren, kommen die Anfragen: Erst von der Wiener Tangozeitschrift el tango – revista Viena, dann von Sarah Ross vom Institut für Musikwissenschaft der Uni Bern, die das Ganze aus der Perspektive von „Übernahme und Anpassung, […] Grenzziehung und -verschiebung“ beleuchtet und dabei freundlich zitiert, und schließlich will es das Online-Magazin aviva-berlin.de genau wissen – jüdischer oder vielmehr: jiddisch-sprachiger Tango liegt in der Luft. Und dann nimmt auch noch Karsten Troyke mit Noch Amul – Tango Oyf Yiddish, Vol. 2 seine zweite CD mit jiddischen Tangos auf und lädt zum Record Release-Konzert in die Berliner Wabe. Da muss ich hin. Es scheint, als würde mir der jüdische Tango doch zu so einer Art Lebensthema werden, ob ich nun will oder nicht.

Ich glaube, es ist mittlerweile mein viertes – doch bestimmt nicht letztes! – Troyke-Konzert; allerdings das erste, das ganz im Zeichen des Tango oyf Yiddish – Tangos auf Jiddisch steht. Besonders freue ich mich heute Abend auch über Trio Scho-Geiger Gennadij Desatnik, der schon beim Auftakt-Instrumental, wo Troyke den Konzertmeister gibt, begeistert, obgleich sein Geigenton zunächst seltsam angezerrt klingt. Dazu aber später noch mehr, denn jetzt kommt auch schon der erste jiddische Tango des Abends: das von Chaim Tauber und Alexander Olshanetsky irgendwann in den 1930er-Jahren geschriebene Ikh Hob Dich Tsufil Lib, das mir erstmals im Rahmen meiner Recherchen für Juden im Tango = jüdischer Tango? Über die (Un-)Möglichkeit eines explizit jüdischen Beitrages zum Werden und Währen des ‚tango argentino‘ in der Version von Brise Parisienne über den Weg gelaufen ist – und schon ist alles wieder da. Wie gut, dass bei Troyke die herzzerbrechende Tragik des Stückes mit einem humoristischen Unterton konterkariert wird!

Nicht nur Ikh Hob Dich Tsufil Lib, auch Neshumele Di Mayns gibt es auf Troykes neuer CD zu hören. Live greift Gast-Klarinettist Jan Hermerschmidt hier zu meinem Lieblingsinstrument, der Bassklarinette – da kann ja schon gar nichts mehr schiefgehen! Ein Karsten Troyke-Konzert wäre aber kein Karsten Troyke-Konzert, wenn das Publikum nicht auch mitarbeiten, in diesem Falle: den „Libe“ und „host lib“-Chor geben, müsste. Damit kriegt der Berliner Chansonnier, der heute Abend mehr denn je auch Entertainer ist, selbst die letzten Skeptiker.

Nach dem Mitzi Spielmann-Song Ach, nenn mich Liebe kommt dann mit Glik nicht nur die Nummer, die Troykes neue CD eröffnet, sondern auch die bislang musikalisch interessanteste. Schon allein wegen dieses von Alexander Olshanetsky (ja, der wieder: manche können es eben!) und Bella Meisell geschriebenen Klassikers des Jiddischen Theaters, der erstmals im Stück Der Letster Tantz am Prospect-Theater in der Bronx aufgeführt wurde, sollte man Noch Amul – Tango Oyf Yiddish, Vol. 2 unbedingt im Schrank zu stehen haben – und ab und zu auch herausholen und spielen. Zumal Tangotexte auf Jiddisch die großen Tango-Sujets, den Moment des letzten Tanzes und die Trauer ob eines unwiederbringlichen Verlustes, immer auch mit einem untergründigen Augenzwinkern wiederzugeben wissen: Glik, du bist gekumen tsu mir, heißt es hier, ober a bisl tsushpet.

In jeder Band gibt es ja jemanden, der gewissermaßen multifunktionell einsetzbar ist. Hier ist es Trio Scho-Geiger Gennadij Desatnik, der sich bei der Milonga Shayn Vi Di Levune mit Troyke einen terzlastigen Zwiegesang liefert und auch schon mal zur Gitarre greift. Das Einzige, was für einen Tango-Abend ein bisschen schade ist, ist die Abwesenheit eines Bandoneons. Aber da das Trio Scho nun einmal mit einem Akkordeonisten besetzt ist, passt das schon, man will ja nicht päpstlicher als der Pabst … und so fort. Einem ganz vorzüglichen Akkordeonisten, übrigens, und das Gleiche gilt auch für den Bassisten. Das Trio Scho kann man sich durchaus auch mal solo anhören, falls „solo“ im Falle eines Trios das richtige Wort ist, aber Sie wissen schon, was ich meine, und ich meine: Bei nächster Gelegenheit nix wie hin!

Mit Habibi bzw. Chavivi steht nun ein Tango-Marsch aus den 1930er-Jahren auf dem Programm. Ganz ehrlich, das Schönste daran ist der hebräische Text. Ich mag es, wenn Troyke Hebräisch singt; die Sprache steht seiner Stimme gut. Ebenfalls aus den Dreißigerjahren ist die Nummer Kiewer Tramway, die schon für den Titel des gleichnamigen Trio Scho-Albums Pate gestanden hat. Da gibt es Tangos, Horas und Swing aus Odessa zu hören, und auch heute Abend greift Trio Scho-Frontmann Desatnik zu Mikro und Gitarre. Das ist lustig, das ist toll und erinnert an jiddisches Theater, ist vor allem aber ein echter Burner, der die Leute von ihren Stühlen reißt! Und weil es gerade so schön ist, überlässt Troyke Desatnik die Bühne ein weiteres Mal, damit dieser einen echten russischen Rock’n’Roll namens Babuschka Rebekka präsentieren kann:

Das ist mit seinem Walking Bass und seinem großartigen Klarinettensolo erstmal was für die Rockabillys unter Ihnen, aber Achtung, mit dem Auftritt Troykes artet das Ganze in eine wilde Speed-Balkan-Party aus! Zum Runterkommen gibt es zwei Duette mit Claudia Koch von Aufwind, Ven Ich Zol Dich Farlirn, das auch auf der CD zu hören ist, und das alte Volkslied Bay dem Shtetl Shteyt a Shtibl (Mit a Grinem Dach), bei dem mich Kochs Stimme an Laura Wetzler auf Klezmer Hechalot von der CD Kabbalah Music: Songs of the Jewish Mystics erinnert. Troyke und Koch im Duett zu hören, ist sehr berührend – im Grunde aber steht der Abend unter dem Vorzeichen spielerischer Leichtigkeit, weshalb auch eine klassische Show-Einlage nicht fehlen darf: Beim CD-Closer (Oi der Mentsch hot) Groisse Oygn will Troyke den Song beenden und von der Bühne gehen, die Band aber spielt unbeirrt weiter, setzt unermüdlich einen weiteren Refrain dran und „zwingt“ den Entertainer somit, ebenfalls zu bleiben. Das mag routiniert sein, ist aber immer wieder effektiv: Die Leute lieben so etwas. Auch ich finde das charmant; beeindruckter allerdings bin ich hier von Hermerschmidt, dessen Phrasierungen mich hier leicht an jenes von Helmut Eisel erinnern. Mit einem guten Gefühl werden wir nach sage und schreibe zwölf Stücken in die Pause entlassen.

Der zweite Teil des Abends gestaltet sich tänzerischer. Los geht es mit Massl, das nicht nur durch einen absurden spanischen Text, in den irgendwo ein Sputnik vorkommt, besticht, sondern sich mit seinem 6/8-Refrain auch als ausgewachsener Tango Waltz entpuppt – oder, in Troykes Worten: „Das ist zum Schunkeln!“ Sein grandioses kabarettistisches Talent zeigt Troyke auch im „Kabarett-Chanson-Tango-ich-weiß-nicht-irgendwas-dazwischen“-Stück Alts Tsilib Parnusse – seine Imitation des kranken Greises ist zum Schreien komisch! Da sei dem Publikum mit dem folgenden Instrumental ein bisschen Erholung vergönnt. Trio Scho und Hermerschmidt spielen einen arabischen Tanz aus einem Musical aus dem Libanon, bei dem der Geigensound, wie schon im gesamten Teil nach der Pause, so klingt, als hätte man ihn absichtlich dem Klarinettenton angepasst. Das ist eine nette kleine Sinnestäuschung, sieht man doch einen Geiger, hört aber etwas anderes.

Troyke kehrt zurück auf die Bühne, um uns sein Lieblingslied aus dem Shir-ha-Shirin – Du hast mein Herz gefangen und über die Weiden Libanons getrieben – zu singen, welches nicht zuletzt durch das Spiel Desatniks berührend wird, der dankenswerterweise auf „Schleimspuren“ beim Lagenwechsel verzichtet, zu denen die süßliche Melodie leicht verleiten könnte: Endlich, endlich erhebt sich das Instrument mit dem einzig ihm zustehenden Ton über all die anderen. Dass Desatnik auch singen kann, wissen wir zwar inzwischen, freuen uns aber trotzdem auf sein Lied vom alten Schneider. Bei dem Benzion Witler-Klassiker Dos Gesang Fun Mein Hartz traut sich dann auch das erste Tanzpaar aufs Parkett. Schön sind die beiden anzusehen, die können das! Und dann wird auch schon das offizielle Ende des Abends mit der schönen Nonsens-Nummer Rebbe Elimelech eingeleitet:

Als Zugabe eins gibt es den russischen Tango Herz mein, als zweite – „ist aber nicht lustig“ – die Nummer Alts Gayt Avek Mit’n Royech, die den Abend deutlich nachdenklicher enden lässt, als er begonnen hat. Dies hat vielleicht auch mit dem nachklingenden Bild des Tanzpaares zu tun, das die innige, zärtliche, vor allem aber melancholische Stimmung des Liedes in Bewegung umzusetzen wusste. In der Tat: nicht lustig. Aber sehr, sehr schön. Mehr kann man von einem Lebensthema eigentlcih kaum erwarten.

Noch Amul – Tango Oyf Yiddish, Vol. 2 bekommen Sie ab dem 1. November 2012 hier.

14. September 2012

Das war überraschend … gut. Skunk Anansie hautnah in der nhow-Gallery

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 13:40

Es ist ein bisschen so wie bei „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Schon wieder Stralauer Allee. Schon wieder Musik. Das hatte ich doch gerade erst die ganze letzte Woche! Wie es scheint, ist diesem winzigen Stückchen Stralauer Allee zwischen den Hausnummern eins und acht nicht zu entkommen, wenn es um Popmusik in Berlin geht. Mediaspree ist, ob das Gentrifizierungsgegnern und Kapitalismuskritikern nun gefällt oder nicht, aufgegangen. Diesmal sind wir allerdings weder bei Universal Music (Stralauer Allee 1) noch im Spreespeicher (Stralauer Allee 2) noch bei MTV Europe (Stralauer Allee 6/7) noch in der Fernsehwerft am Osthafen (Stralauer Allee 8), sondern in der Hausnummer 3, dem nhow-Hotel, wo vor einem knappen Jahr auch das Klangverführer-Interview mit der Wiener Sängerin MisSiss entstanden ist. Damals gaben uns in der Galerie des Hotels die Arbeiten des Niederländers Peter Bastiaanssen eine ganz spezielle Kulisse. Diesmal geht es weniger künstlerisch, dafür aber umso atmosphärischer zur Sache.

Nun also Skunk Anansie. Die habe ich zuletzt in meinem Abijahr 1996 gehört, als sie mit Hedonism (Just Because You Feel Good) einen großen Hit hatten. Das Lied hatte mich nicht sonderlich beeindruckt; die Nachfolgesingle Brazen (Weep) – und dort die phantastische Gesangleistung von Skunk Anansie-Frontfrau Skin – allerdings umso mehr. Die hat es sogar auf meine private Rock My Soul-Compilation geschafft, die ich neulich erst wieder einmal gehört habe. Skunk Anansie – bessergesagt: dieses eine Lied von ihnen – war in meinem musikalischen Hinterkopf also immer irgendwie präsent, das Interesse an der Band selbst hielt sich bei mir allerdings in Grenzen. Weder habe ich die Auflösung der Band 2001 mitbekommen, noch die unter dem Pseudonym SCAM erfolgte allmähliche Annäherung der Musiker aneinander von 2009 verfolgt. Vielleicht war es die eine Single von vor fünfzehn Jahren, aber es machte irgendwie Klick in meinem Kopf, als mir die Einladung zum Pre-Listening des neuen Albums von Skunk Anansie samt semi-akustischem Live-Gig ins Haus flatterte. Bei meinen potenziellen Begleitern hingegen schien dieser Klick auszubleiben – es war wie verhext, niemand hatte an diesem Abend Lust oder Zeit, mitzukommen.


Diese Frau kann singen: Deborah Anne Dyer alias Skin

Schließlich fand sich Bassplayerman bereit, mich in die Gallery des nhow zu begleiten. Auch er hatte eine aus den Neunzigerjahren stammende Idee der Skunkz im Hinterkopf, die bei ihm aus welchen Gründen auch immer darin bestand, es mit einer zusammengecasteten Band zu tun zu haben. Auch diese Idee sollte sich im Laufe des Abends angesichts des Auftritts der Band sehr schnell relativieren. Zunächst aber wurde das mit rosa Bändchen versehene Publikum – man kann sich hierbei eines gewissen Herden-Feelings kurz nach der Brandmarkung nicht wirklich erweheren – genötigt, sich das am Folgetag erscheinende Album Black Traffic in Gänze anzuhören. Es dauere auch nur 38 Minuten, fügte die Moderatorin des Abends fast entschuldigend hinzu. Für elf Nummern nicht schlecht – das erinnert an rumpelige Punkplatten, wo ein Song auch nicht viel länger als drei Minuten dauern darf. Black Traffic jedenfalls mit seinen nervös treibenden Gitarren und dem omnipräsenten Haudrauf-Schlagzeug ist in erster Linie, unabhängig vom Pegel, mit dem man es hört: laut. Und erstaunlich … ich will nicht sagen schlecht, aber doch seltsam … abgemischt. Die charismatische Stimme von Skin ist viel zu weit hinten und geht im Klangchaos unter. Das kann man jetzt als sympathischen Meine-Band-ist-auch-wichtig-Ansatz begreifen. Das kann man aber auch lassen und sich stattdessen darüber ärgern, denn diese Art zu mixen macht dem Zuhörer schlicht Schwierigkeiten, ja sogar Stress.

Allerdings legt sich das nach den ersten neun Stücken: Die Schlussnummern Sticky Fingers in your Honey und Diving Down gefallen gleich auf Anhieb und lassen mitrocken (Sticky Fingers) bzw. -grooven (Diving), wobei man sich wieder fragen muss, ob hier der Gewöhnungseffekt nicht mitspielt – oder ob gar die Gin Tonics, die an diesem Abend großzügig ausgegeben werden, langsam aber sicher ihre glückselig machende Wirkung entfalten. Live und halb-akustisch hingegen fügt sich alles wie von Zauberhand: Das hier kann man nicht nur aushalten, das hier ist sogar ziemlich gut.

Und Sie, liebe Leser, können das zu Hause nachmachen. Hier die Chords:

Nachdem Sie Ihre Gitarren jetzt wieder weggelegt haben, lehnen Sie sich zurück und genießen Sie zwei weitere Songs:

Bleibt als Frage des Abends eigentlich nur noch: Weshalb macht so eine (gute) Band so eine (allenfalls mediokre) Platte? Wer eine Antwort hat, schreibe mir bitte. Bleibt noch etwas anderes: die obligatorische Zugabe. Natürlich spielen die sympathischen Briten ihren 1996er-Smash Hit Hedonism (Just Because You Feel Good):

Das war in der Tat anders als erwartet. Die Band, die übrigens nicht zusammengecastet ist, sondern vielmehr seit fast zwanzig Jahren in unveränderter Besetzung zusammen spielt, erweckte den Anschein, als hätte sie wirklich Bock zu spielen, dem Publikum gefiel es – und auch in meinem persönlichen Fan-Kosmos hat wieder eine Band mehr den Shift von ist-ja-ganz-nett zu gefällt-mir-sehr-gut geschafft. Es war ein schöner und vor allem überaschender Abend (und das sage ich Ihnen als jemand, der Überraschungen mindestens skeptisch, wenn nicht gar mit Abscheu beäugt), und ich hoffe, Ihnen davon einen kleinen Eindruck vermittelt haben zu können. Auf die Platte aber können Sie, ganz im Vertrauen, getrost verzichten.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Cathrin Schmiegel im Rolling Stone – ein treffender Konzertbericht, nachzulesen hier. Eine exklusive Fotostrecke von Alexander Mechow finden Sie hier. Die Ausleuchter lbrty&vstnss, die den Abend in magischen Glanz hüllten, haben die Fotos und eines der Klangblog-Videos in ihre Seite eingebunden, nachzusehen hier.


Ohne Botschaft geht bei Skin nichts: Save the Sea

9. September 2012

My Berlin Music Week: zwischen leeren Stühlen, authentischer Imitation und der endgültigen Entmystifizierung des Songwritings

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , , , — VSz | Klangverführer @ 18:33

Nachdem man letztes Jahr mit der in die Berlin Music Week eingebetteten Popkomm alles anders machen wollte als vorletztes, wo man mit nämlichem Ziel antrat, um daran grandios zu scheitern, hat man dieses Jahr die Popkomm kurzerhand gestrichen. Zumindest den Messeteil. Länderorientierte Showcases sowie die Conference genannten Podiumsdiskussionen, in denen über die Zukunft der Musikindustrie meditiert wird, finden auch dieses Jahr statt, wenngleich man dem Kind einen anderen Namen gegeben hat: Word on Sound nennt sich das Sammelsurium aus Impulsreferaten und Workshops, untertitelt mit Die neue Plattform für Professionals. Das Ganze gibt es, schon allein – aber nicht nur – aus geographischer Sicht industrienah, im Spreespeicher in der Stralauer Allee.

Uninteressant sind die in die Segmente Arts and Polity, Werkstatt, Most Wanted: Music, World Nightlife Fund, Green Berlin Music Week, Master Class, digi-digi con, Denkfabrik und Umg€ld unterteilten Veranstaltungen indessen nicht, denn mit Themen wie „Kapitalismus, Kreativität und die Krise der Musikindustrie“, „Was wurde aus den Utopien der frühen elektronischen Clubkultur?“ oder „Studien zu Herrschaftssturkturen“ verharrt man wenigstens nicht wie sonst im Bejammern der aktuellen Entwicklung, sondern bringt einen Hauch Kapitalismusikritik in die Diskussion ein, die hoffentlich mehr zu bieten hat als die wohlfeile Klage über die Gentrifizierung der Subkulturen.


Ein schöner Ort, dieser Spreespeicher. Kein Wunder, dient er sonst doch als virtueller Indoor-Golfplatz für die Reichen und Schönen.

Freilich schwingt die Tanz-am-Abgrund-Stimmung auch dieses Jahr mit, von Kollege Jens Balzer für die Berliner Zeitung kongenial mit Genieße es, so lange du noch kannst übertitelt und von mir nur ganz leicht aus dem Zusammenhang gerissen. Praktische Antworten auf die Krise werden indessen gewohnt konventionell gegeben, auch wenn man trefflich daran zweifeln kann, ob Streaming das Heilsversprechen der Musikindustrie der Zukunft ist. Ich bin nach wie vor fest davon überzeugt, dass Menschen ihre Musik auch besitzen wollen – und wenn sie schon auf physische Tonträger verzichten, dann wenigstens als Datei auf ihren Festplatten. Sämtliche virtuelle Speicher, Clouds und was nicht alles noch kranken an dem selben Problem: Mensch vertraut ihnen nicht, getreu der Urangst: Was, wenn morgen das Internet abgeschaltet wird?


Hat mittlerweile dreijährige Tradition: das Speise(karten-)foto der Berlin Music Week auf Klangverführer.de

Ich werfe bei einem ersten Rundgang erst einmal einen Blick in The New TV: The Evolving Landscape of Online-Videos und Stuff, you will love to watch. Neue Geschichten, neue Formate, neue Partizipationen. Gut: Man hat verstanden, denen über die Schultern zu schauen, die nach dem Tod des klassischen Musikfernsehens Musikvideos kreieren, welche sich wie ein Lauffeuer in der YouTube-Landschaft verbreiten, beispielsweise den genialen Gregory Brothers mit ihrer Autotune the News-Reihe. Was man noch verstehen will: Was machen die, was herkömmliche Musikvideo-Produzenten nicht machen – und vor allem: Wie machen die das? Leider sind die Reihen in der Zuhörerschaft recht spärlich besetzt.


Wenig los im Fachpublikum …


… sowie draußen …


… und auch drinnen.

Vielleicht muss die Musikindustrie zuallererst einmal verstehen, dass sie, wenn sie als Industrie auftritt, machen kann, was sie will: Das Vertrauen ist ohnehin weg. Da scheint mir das Konzept Let’s Build Our Own Industry des For-Artists-By-Artists-Künstlerkollektivs A Headful Of Bees schon zukunftsweisender. Kreiert wird hier auf D.I.T. (Do It Together)-Basis, der monetäre Aspekt soll auf Freiwilligkeit beruhen, denn schließlich operieren Cafés und Konzertveranstalter mit dem „Jeder zahlt am Schluss, soviel es ihm Wert war“-Konzept ja auch recht erfolgreich, wie A Headful of Bees-Mitglied Eric Eckhart im Interview einräumt. Dazu aber später noch mehr, denn erst einmal steht die offizielle Eröffnungsveranstaltung der Berlin Music Week an – „15 Jahre Radio Eins“ im Tempodrom.


Ein einsamer BOSE hält tapfer die Stellung

Der Abend verspricht, lang zu werden, denn fünf Künstler treten hier auf, vom Hamburger Singer/Songwriter Olli Schulz und der grandiosen Gemma Ray über die Gangsta-Swing-Oriental-Balkan-Surf-Punker BudZillus bis hin zum Schmusesoulsingersongwriter Jonathan Jeremiah und den TripHop-Rockern Archive aus London – zum Teil begleitet vom Filmorchester Babelsberg, das auch schon Künstlern wie The BossHoss oder Peter Fox streichender-, trompetender- und paukenderweise die nötige Portion Schmelz – und manchmal auch Pathos – verliehen hat.

Den Auftakt macht Olli Schulz, der ganze vier Songs spielen durfte – und das ohne Orchesterbegleitung, worüber er sich wortreich beschwert. Außerdem sei die Garderobe zu klein, und an Sclaf schon lange nicht mehr zu denken, ist doch unter seiner Wohnung ein Bubble Tea-Laden eingezogen, der bis nachts um eins des Künstlers zarte Ohren belästigenden Kirmestechno spielt. Auch die Kollegen der Welt bekommen ihr Fett weg, haben sie sich doch erdreistet, Schulz via Überschrift zum „Klamauk-Barden“ zu machen. Ohnehin scheint latentes Angepisstsein bei dem Songwriter zur Masche zu gehören – trotzdessn oder gerade deshalb lieben ihn die Frauen, die sich angesichts der Schlechtigkeit der Welt ein Schwesternhäubchen aufsetzen und Schulz vor allem Unbill abschirmen können. Wie schon beim Interviewtag, wo dem notorisch übellaunigen Sänger ein mit „We Love You“ beschrifteter Bierdeckel zugetragen wird, ruft hier eine Frau nach seiner Beschwerdelitanei zu: „Ich hab‘ dich lieb“. Und egal, wie Schulz sich auch ereifern mag und wie sehr man auch nie weiß, was davon er ernst meint und was nur Show ist, liebhaben muss man einen Mann, der so schöne Lieder schreibt wie Schrecklich schöne Welt auf jeden Fall!

Schrecklich schöne Songs spielt auch die britische, in Berlin lebende Fifties- bzw. Sixties-Retropop-Sängerin Gemma Ray, bei der erstmalig an diesem Abend das Filmorchester aufgefahren wird.

Besonders gefällt mir Flood and a Fire von ihrem aktuellen Album Island Fire, das ich mir in der Pause dann auch dringend auf Vinyl kaufen muss. Leider habe ich kein Video davon machen können, aber dafür ein weiteres, das um das Thema Feuer kreist: Fire House.

Die Berliner von BudZillus, wegen denen ich eigentlich hier bin, spielen sich in furiosem Tempo durch ihr neues Album Auf Gedeih und Verderb, aber, ich kann mir nicht helfen, auf der Platte scheint mir vieles bedeutend besser gemixt. Gerade die Vocals haben im Tempodrom’schen Raumklang schwer zu kämpfen, und was Thomas Prestin vor sich hinklarinettiert, ist, bei allem Respekt: vorhersehbar. Am Sax hingegen gefällt er mir ausnehmend gut – und das „Tier“ am Schlagzeug verdient einfach nur Bewunderung und Respekt, denn getreu ihrem Motto „Wir spiel’n weiter“ spielt er einfach immer weiter, und das bei dem Speed – ob er jeden Abend ein halbes Kalb verspeist? Hier jedenfalls It’s Up To You:

Auch wenn ich mich heute Abend nicht des Gefühls erwehren kann – das ich beim Hören des grandiosen Albums Auf Gedeih und Verderb übrigens nicht habe -, hier die authentische Imitation einer Balkan-Kapelle zu sehen – die Leute lieben es, und erstmals an diesem Abend werden Zugabe-Rufe laut, denen man ob des straffen Zeitplans aber leider nicht nachkommen kann. Wobei, was heißt leider: Im Grunde ist das einer der großen Vorteile von Radio-Konzerten, ob live ausgestrahlt oder für spätere Sendungen mitgeschnitten: Der Zeitplan wird eingehalten, ewiges Warten auf den Hauptact gibt es nicht, man kommt früh genug ins Bett.

Davon bin ich heute Abend aber noch weit entfernt, denn jetzt kommt erst einmal Jonathan Jeremiah, dessen Existenz mir bislang völlig entgangen war, der sich aber nach anfänglich zauderndem Singer-Songwriter-Allerlei als gestandener, am Motown-Retro-Sound orientierter Soulrocker mit Eiern erweisen soll. Bei Heart of Stone sind gar die Nutbush City Limits nicht weit – das groovt!

Weshalb man allerdings Archive zum Hauptact des Abends gemacht hat, entzieht sich meinem Verständnis komplett. Egal, wie oft ich mir das anhöre – ich finde es grässlich, und dabei bin ich TripHop-Fan der ersten Stunde! Wer das geil findet, schreibe mir bitte, weshalb. Vielleicht steckt ja eine verborgene Schönheit in diesen Songs – die wäre dann allerdings sehr gut verborgen:

Kollateralschaden des Abends ist – neben einem komplett verlorenen nächsten Tag inklusive der verpassten Nordic by Nature-Nacht im Postbahnhof mit Acts wie I Got You On Tape (DK), Sandra Kolstad (NO) oder LCMDF (FIN) – ein verlorenes Notizbuch. Ein schwarzes, kariertes Moleskine mit Logoprägung der VZ-Netzwerke auf dem Einband und einem eingeklemmten Druckbleistift. Ich freue mich, wenn ich es zurückbekomme – sogar so sehr, dass ich dem Finder glatt fünf CDs dafür geben würde. Neben dem Entwurf einer Konzertkritik der Radio Eins-Nacht enthielt es ein flammendes Plädoyer über die Freuden bedingungslosen Fantums, ausgelöst durch den Kauf der frisch signierten Platte von Gemma Ray, denn Fansein gilt weder in Musikwissenschaftler- noch Musikkritikerkreisen als sonderlich cool – dabei ist das doch die Basis für Musikliebe und einen der Musik angemessenen Umgang mit ihr, der dadurch nicht weniger professionell wird. Nur durch die Lupe kühler Überheblichkeit und damit zwingend verknüpfter Distanz kann man einem so emotionalen Sujet nicht gerecht werden, und ich bin gottfroh, dass ich Professoren hatte, die nicht müde wurden mir zu versichern, dass sich auch Wissenschaftler den Luxus persönlichen Geschmacks leisten dürfen. Nun, jetzt muss es eben ohne dieses Plädoyer gehen …

Ein Kollateralschaden der angenehmeren Art, nennen wir ihn daher ruhig Kollateralnutzen, war, dass mein persönliches Verkaterungserlebnis am übernächsten Tag den Anstoß für einen Song gab, der im Rahmen eines vierstündigen Workshops – zwei für das Songwriting, eine fürs Ausprobieren des Arrangements und eine fürs Recording – entstanden ist und den ich Ihnen an dieser Stelle nicht vorenthalten will. Es war eine hochgradig inspirierende Erfahrung, bei der a2n-Werkstatt in den Räumlichkeiten der Noisy Music World in der Warschauer Straße unter Anleitung des Künstlerkollektivs A headful af bees mit einer handvoll Musiker und Musikinteressierter in einer Art Hippie-Session einen tragfähigen Song zu entwickeln. Ziel dabei war auch, den Prozess des Songschreibens zu entmystifizieren; denn während der Songschreiber sonst emotional tief bewegt im stillen Kämmerchen sich plagt, sollte hier gezeigt werden, dass man mit ein paar Musikinstrumenten (und Leuten, die möglichst viele davon spielen können), Stimmen, Stiften und Papier im Kollektiv in wenigen Stunden zu einem durchaus brauchbaren Ergebnis kommen kann.


Ganz ohne Weltschmerz und stilles Kämmerlein: Songwriting im Kollektiv

Herausgekommen ist der Titel Five More Hours, dessen Grundidee die Zustandsbeschreibung am morgen nach einer durchfeierten Nacht ist: Oh mein Gott, wann werde ich es endlich lernen, nicht mehr so zu übertreiben? Noch zwei Stunden, und ich werde in der Lage sein, meinen Kopf wieder zu bewegen. Noch fünf Stunden, und ich schaffe es, eine Aspirin zu nehmen. Und so fort. Und dann die Rückerinnerung, warum sie all das getan hat – und definitiv wieder tun wird, denn sie war die Königin der Nacht! Und auch, wenn wir angehalten waren, allzu deutliche musikalische Klischees zu vermeiden, konnten wir uns nicht helfen, dieses Bild mit einem kleinen Moll-nach-Dur-Shift zu illustrieren. Aber hören Sie selbst:

Natürlich hänge ich persönlich an dem Song. Aber ich finde ihn auch aus der Distanz zweier Tage immer noch gut. Und bin erstaunt, wie schnell man gemeinsam zu einem brauchbaren Liedchen kommt. Aber auch sonst lässt sich die Workshop-Reihe für Musiker sehen, denn anstatt in theoretischem Gejammer zu erstarren, zeigt man bei der all2gethernow (a2n)-Werkstatt, wie man es selbst macht: Um Überlebensstrategien für junge Künstler geht es, von wie publiziere ich meine eigene Musik über wie lizensiere ich sie für Filme und Fernsehen bis zu einem „Zirkeltrainig“ in Sachen Crowdfunding.


So funktioniert Songwriting heute: Zusammen einsperren, enge Deadline setzen –
und es klappt!

Viele, viele Clubkonzerte weiter ist am Sonntag mit dem ADD (Auf den Dächern)-Festival der nun dringend notwendige Schlusspunkt der Berlin Music Week erreicht. Hier treten im 20-Minuten-Takt Künstler für jeden Geschmack und Intellekt auf, von Phillip Poisel und Cro über Max Herre und Two Door Cinema Club bis zu M.I.A. und Ghostpoet auf. Wer also das Berlin Festival verpasst hat, bekommt hier die Chance, deren Auftritte in Miniaturformat nachzuholen – natürlich wieder in der Stralauer Allee am Osthafen mit phantastischer Aussicht.


Der Mann mit der Maske lugt in die Menge: Cro auf den Dächern.

Die Veranstalter der Konzerte, ob im kleinen Club oder als großes Festival, können im Gegensatz zum Kongress ein positives Fazit ziehen: Während sich nur 2.000 Fachbesucher für die Berlin Music Week fanden, hat es ungefähr 60.000 Menschen in die Clubs und Konzertsäle getrieben. In weiser Voraussicht wird die Berlin Music Week auch nächstes Jahr ohne den Messeteil – die Popkomm – stattfinden. Wirklich gefehlt hat sie nicht, denn schließlich war sie schon im letzten Jahr so klein gehalten, dass man ihr Verschwinden nur mit Mühe bemerken konnte.

Klangverführer wird auch nächstes Jahr wieder berichten. Diesjahr bleibt nur noch das traditionelle Gewinnspiel, wenngleich es im Gegensatz zu letztem Mal keine Popkomm-Taschen zu gewinnen gibt – dafür aber ein paar Fender-Gitarrenplektren, die auf einen neuen Besitzer warten. Also, ihr Gitarristen da draußen, die ihr keine Anhänger des Fingerstyle seid – schreibt eine Haben-wollen-Mail an kontakt@klangverfuehrer.de. Wer zuerst kommt – und so weiter.

12. Juli 2012

Leipzig my love!

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , , , — VSz | Klangverführer @ 19:39

Als ich vor gut zwei Jahren zur (Pop Up nach Leipzig gefahren bin und dabei auch auf den Spuren meiner Eltern wandelte, die sich dort als hoffnungsvolle junge Kunststudenten kennen und lieben lernten, was bedeutet, dass es mich ohne Leipzig gar nicht gäbe, war ich so geflasht von der Stadt, dass ich mir geschworen habe: Irgendwann ziehe ich dahin. Mein aktueller Leipzig-Besuch hat das damalige Gefühl nochmals bestätigt: Leipzig ist ein wunderbarer Ort zum leben und – freiberuflich – arbeiten! Irgendwann ziehe ich dahin.


Ja, das Notenschlüsselgrafitto in der Hardenbergstraße gibt es immer noch. Neu ist Kopfhörerhundnachfolgehund Lina …


… was sie allerdings nicht davon abhält, gleich mit den Thomanern zu singen!

Darüber hinaus ist Leipzig ein wunderbarer Ort, um Kopfhörerhundnachfolgehund willkommwn zu heißen und behutsam an sein künftiges Großstadtleben zu gewöhnen. Gestern noch im Tierheim, heute schon, nein, nicht auf unserer Showbühne, aber mittendrin im Städtetrip! Während Berlin immer aggressiver wird, ist Leipzig herrlich entspannt, die Menschen sind nett, das Bier billig … Herz, was willst du mehr? Zum Beispiel einen relaxten Abend unter Freunden, die ganz nebenbei auch noch gute Musik machen, denn das ist der eigentliche Grund unseres Aufenthaltes hier: Endlich einmal den Ambient Folk des Alma Church Choirs von Lieblingsgitarrist Andreas Laudwein, der mit Cat Ten Years ein kleines Lieblingsalbum gemacht hat, live zu sehen respektive hören. Und da das in Berlin nie geklappt hat – Prophet und Berg und so.

Auch das übrige Line-up des Abends, zu dem Maler und Musiker Peter Piek im Rahmen seines diesjährigen Atelier-Sommerfestes geladen hat, war ein gutes Argument für die Reise, aber was sag ich da eins, viele gute Argumente waren es, viele! Nicht nur, dass sich der mir von Kitty Solaris via Facebook wärmstens empfohlene Lasse Matthiessen als Überraschungsgast angekündigt hat, auch der geniale Gitarrenzerstörer Ian Fisher ist ebenso mit von der Partie wie die mit Laudwein tourende Lina Paul; und dann wären da noch Jona Byron, Squalloscope und das experimentelle Weird-Folk-Electo-Duo SignA, die ich alle erst an diesem Abend kennenlerne – ganz zu schweigen vom Gastgeber selbst, der mit seinen großzügig zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten nicht nur für eine ebenso relaxte wie inspirierende Atmosphäre gesorgt haben, sondern sich im weiteren Verlauf des Abends auch als wahrer Mulitinstrumentalist erweisen soll.


Gleich geht’s lo-hos! Gleich geht’s lo-hos!


PPZK = Peter Pieks Zentrum für Kultur = Galerie. Sammlung Zeitgenössicher Kunst. Tonstudio. Kommunikationsplattform


Mama’s got a brandnew dog! Lauschen, lümmeln, liebsein – Lina macht ’nen tollen Job. Und überzeugt damit selbst passionierte Katzenfreunde

Nicht zuletzt ist dieser Abend der erste „Arbeitstag“ von Kopfhörerhundnachfolgehund Lina, nom de guerre fortan: Lina Liebhund, denn Kopfhörerhundnachfolgehund, das müssen Sie zugeben, ist ja kein Zustand!, die das Ganze total gechillt aussitzt, genauer: ausliegt, dezentes Schnarchen inklusive, wie man hier hören kann:

Von Fell-Linas Geatme abgesehen – denn die Dame im roten Rock aus dem Video heißt auch Lina! – portisheadet das Stück Laudwein-typisch vor sich hin, es geht wohlig depressiv und wunderschön zur Sache, Lina Paul an der Melodica ist ein würdiger Ronny-Seiler-Ersatz, und ich liebe liebe liebe es!

Nicht minder schön und überraschend ruhig: Laudwein und Ian Fisher – die Simon&Garfunkel-Nummer hat diese Paarung auch drauf! Wobei, was heißt hier nicht minder, ihr Harmoniegesang auf der Alma-Church-Nummer „Not This Kind Of Man“ ist einfach zum Niederknien schön! Auch, wenn ich mich wiederhole und Sie damit eventuell langweile: Ich liebe es, und selbst das Steuermarkengeklimper des mitten im Song zappelig gewordenen Liebhundes tut dem keinen Abbruch. Es geht doch nichts über eine authentische Live-Atmo!

Aber keine Angst, Fisher – dessen kommendes Album gerade von Laudwein gemixt wird – soll im Verlauf des Abends noch gewohnt durchdringend werden, sodass ich Lina Liebhund, die im Gegensatz zu Kopfhörerhund nicht taub ist, zum großen Amüsement des Publikums die Ohren zuhalten musste! Aber auch das meisterte sie mit Bravour; mein Fehler allerdings war zu glauben, ich könne das Hundetier als Stativ nutzen – jetzt haben die Videos leichten Seegang. Okay, stellenweise auch starken, wie beispielsweise bei diesem sehr bethgibbonsesken Lina-Paul-Song, da ist mehr Rock als Kopf zu sehen, sorry dafür! Der Soundspur tut dies glücklicherweise nicht allzu weh:

Haben Sie diesen unglaublichen Stefano Schiavo Campo an der Gitarre gehört? Und sind Sie ebenso begeistert wie ich? Noch mehr zu sehen und zu hören, genauer: Solo-Videos von Ian Fisher, Squalloscope und Gastgeber Peter Piek, der, gemessen an seiner Sprechstimme, eine völlig erstaunliche Gesangsstimme hat, finden Sie im Klangverführer-Videokanal auf YouTube. Die Künstler, die ich nicht gefilmt habe, können Sie hier und hier und hier sehen und hören. Ach ja: Videos gucken entbindet Sie natürlich nicht von der Pflicht, die Künstler zu unterstützen und deren CDs zu kaufen. St. Google wird Sie schon zum richtigen Ort führen. In diesem Sinne: Eine schöne Urlaubszeit!


SignA

P.S.: Da ich ja nun leider wieder zurück in Berlin bin, habe ich für die kurzentschlossenen Hauptstädter unter Ihnen einen Tipp: SignA spielen morgen um 20:30 Uhr in den Neuköllner Gelegenheiten, Weserstraße 50. Wenn ich es schaffe, komme ich auch und hole hier versäumtes Filmen nach. Und wenn Sie wollen, können Sie bei dieser Gelegenheit Kopfhörerhundnachfolgehund, pardon, Lina Liebhund, live treffen.

Nachtrag vom 13. Juli: Leider schaffen wir es nicht zur Show. Aber Sie gehen ja ohnehin nicht wegen Lina Liebhund, sondern wegen der Band hin. Und das sollten Sie trotz des Regens tatsächlich tun – es lohnt sich, versprochen!

25. März 2012

Stimmen, wie füreinander geschaffen: The Stewardesses heben ab – und nehmen uns mit

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 16:48

Nachdem das Wort “krank” ganz oben in der Suchbegriffsstatistik vom Klangblog rangiert – dicht gefolgt von “lesbisch”: erstaunlich, wonach die Leute in einem Musikblog so suchen! Sollte es eines Tages mit dem Musikjournalismus nicht mehr funktionieren, mache ich eine Krankenstation für Lesben auf -, möchte ich einmal mehr einen Treffer für das Suchergebnis liefern, denn: ich bin krank. Rotz, Halsschmerz, Nase zu – was auch immer Sie sich an Schnodder vorstellen können, hier ist er. Meine besten Freunde heißen zurzeit Gelomyrtol, Sinupret und Aspirin Complex. Damit bin ich nicht allein: Der überraschende erste Frühlingstag vor einer Woche hat ganze Belegschaften dahingerafft. Juchuh, zwanzig Grad, jubelte man tagsüber, und zog aus, was auszuziehen ging. Oh Mist, auf zwei Grad runtergekühlt, dachte man abends, als Schal und Jacke weit entfernt zu Hause lagen, man selbst aber fröstelnd im Biergarten saß. “Wenn Sie erst einmal das Gefühl haben zu frieren, ist es schon zu spät”, erklärte mein Apotheker am nächsten Morgen. Jaja, nachträglich schlaumeiern ist jetzt unglaublich hilfreich! Jedenfalls: Ich gehöre eigentlich ins Bett. Und nicht in den Konzertsaal. Aber: Wann spielen schon mal 5, in Worten: fünf, begnadete Musikerinnen auf einmal an einem Ort, darunter so anbetungswürdige wie Illute, Katriana und Catharina Boutari? Der findige Leser hat es erkannt: Das passiert, wenn das Label Pussy Empire Geburtstag hat und seine Künstlerinnen als The Stewardesses auf Tour schickt. Da muss man hin – und wenn es vorerst das Letzte ist, was man macht!


@ Work: The Stewardesses mit lauschendem Klangverführer. Foto: Jo_Berlin

In der wunderbaren Neuköllner Musenstube sind dann aber nur vier der Damen im Pan Am-Look gelandet, darunter allerdings meine drei Lieblingsstewardessen – und eine Chantal de Freitas, die zur Überraschung des Abends werden sollte. Davon aber später mehr. Eröffnet wird die Show von Catharina Boutaris Version des Tokio-Hotel-Hits Durch den Monsun, und live beweist Boutari einmal mehr, wie gut das Yael-Naim-Prinzip (Man nehme den unmöglichsten Song, den man sich vorstellen kann, und mache dann etwas ganz Wundervolles daraus) funktionieren kann: Der Song, muss ich feststellen, ist eigentlich ganz schön. Nur wussten Tokio Hotel das damals nicht. Chantal de Freitas singt im Refrain die zweite Stimme, und wie schon bei der L-Filmnacht zeigt sich auch jetzt, dass die Stimmen Boutaris und de Freitas’ wie füreinander geschaffen sind. Schön!


Sexy: Chef-Stewardess Catharina Boutari

Gast-Stewardess Illute hat ihren ersten Auftritt als Backgroundsängerin bei Chantals Mousse-T.-Cover Is It Cos I’m Cool, und sofort fühle ich mich ganz zu Hause in dem Klang. Ich liebe diese Stimme, die so anders ist als die der Kolleginnen und sich dennoch harmonisch in den Satzgesang der drei einfügt, der Katrianas Juli-Cover Geile Zeit begleitet. Aber die Stewardesses unterhalten das Publikum nicht nur mit den Akustik-Cover-Songs von ihrem Jubiläumsalbum Pussy Empire hebt ab, sondern auch mit ausgewählten Stücken aus ihren Soloprojekten. Ich freue mich auf Catharina Boutaris Alter Ego Puder mit ihren Großstadtkonkurbinen und meinem All-Time-Favorite Puder, wobei ich mich nicht entscheiden kann, ob mir Click Clack mit seinem “Farben, wo sind die Farben”-Refrain hier und heute nicht sogar noch besser gefällt – beide Disco-Nummern sind purer Glitter auf Speed!

Perfect von Chantal de Freitas mochte ich damals nicht besonders, aber entweder habe ich mich mittlerweile an den Song gewöhnt wie an einen guten Nachbarn, der vom Bekannten langsam zum Freund wird – oder de Freitas ist heute Abend in Hochform. Wie sich noch herausstellen soll, ist Letzteres der Fall; und nicht zuletzt gefällt mir das Thema des Liedes ausnehmend gut: alles soll heutzutage möglichst perfekt erscheinen, willkommen Botox, hallo plastische Chirurgie, und was das mit der Seele macht, interessiert keinen Menschen. Auch hier vereinen sich de Freitas’ Mezzo und Boutaris heller Sopran zu einer vollendeten Symbiose, und das, um beim Thema zu bleiben, ist etwas, das die Bezeichnung “perfekt” dann wirklich verdient hat. Nicht zuletzt gelingt es Chantal de Freitas, mir den Song Jetzt erst recht des Bravo-Geschöpfes LaFee näher zu bringen, für den ich bislang in etwa so viel übrig hatte wie für Durch den Monsun. Langsam verstehe ich, weshalb diese Lieder solche Hits sein konnten, denn entkernt man sie bis zum Kleinstmöglichen und lässt sie von einer lebensklugen Frau interpretieren, kann man tatsächlich so etwas wie Schönheit in ihnen finden. Tokio Hotel und LaFee fehlte es schlicht an Lebenserfahrung für die eigenen Songs. Wer schon ein bisschen gelebt hat im Leben, der kann auch banalen Teenagertexten Würde verleihen. In dieser Rolle gefällt mir Chantal de Freitas ganz wunderbar. Bislang habe ich sie eher als singende Schauspielerin denn als Musikerin wahrgenommen – das hat sich nun grundlegend geändert, und das Genre “gehauchte Ballade” steht ihr ganz vorzüglich.


Souverän & elegant: Chantal de Freitas

Das Lied, auf das ich mich freue, seitdem ich die Setlist gesehen habe – Dünner Tag von Illute -, kommt so ganz ohne jegliche elektronische Verstärkung indessen seltsam lo-fi daher. Ich gebe zu, es in der Album-Version mehr zu mögen – und dennoch zeigt Illute, dass man nicht mehr als Stimme, Ukulele, ein bisschen Fingerschnippen und eine Katriana an der Melodica braucht, um die ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums zu erhalten. Ohnehin ist das Publikum der musizierenden Illustratorin wie immer mehr als geneigt – als sie in ihrem Hund-am-Strand-Cover Jungen Mädchen “Alle Jungen, alle Mädchen, zieht eure T-Shirts aus” fordert, beginnt die erste Reihe tatsächlich, einen Spontanstrip hinzulegen. Spätestens bei ihrer Version von Major Tom, die ich erstmals beim Fabulous Female Folk-Festival hören durfte, sind ihr alle verfallen. Damals war Illute der Lichtblick eines ansonsten trüben Abends – heute endlich hat sie ebenbürtige Mitstreiterinnen.

Katrianas Mensch aber ist das Lied, das über den Abend hinaus tagelang in meinem Kopf hängenbleibt. Im Grönemeyerschen Original verhasst, ist es bei ihr einfach nur wunderschön und, was dem Original nicht gelingt, berührend. Sehr süß ist Chantal de Freitas bei Teenage Love, einem ihrer eigenen Songs, mit dem sie wieder den über dreißigjährigen Frauen kollektiv aus der Seele zu sprechen scheint. Einer der Höhepunkte des Abends aber ist ihre Version des Rammstein-Hits Amerika. Schon auf der Platte großartig, toppt die Live-Version alles, haben die Stewardesses doch eine Andrews-Sisters-artige Close-Harmony-Nummer daraus gemacht. Ganz groß!


Nicht nur eine tolle Sängerin: Katriana

Das gilt auch für Katrianas Ich singe dir ein Lied mit seinem “Ich lieb dich heute Nacht/und wenn du nicht schlafen kannst/dann sing ich dir ein Lied”-Refrain, das in der Stewardesses-Version ebenfalls durch einen mitreißenden ooh-woo-whoo-Chor besticht. Bei Catharina Boutaris ‘türlich, ‘türlich verwandeln sich die Andrews Sisters dann in die Supremes; und genau hier zeigt sich, worin die Stärke der Stewardesses liegt: dass es vier Solo-Künstlerinnen geschafft haben, einen Gruppenklang zu entwickelnn, dessen Harmonien sich nicht hinter den großen Girlgroups der Sixties verstecken müssen.

Der durch Krankheit leider fehlenden fünften Stewardess Birgit Fischer (Ex-Motorsheep) wird gedacht, indem man das von ihr aufgenommene Ich+Ich-Cover Vom selben Stern als Zugabe anstimmt. Geben wir es zu: Ich+Ich haben schon recht pathetische Texte. “Du bist das Pflaster meiner Seele” hieß es in Pflaster, und hier heißt es “Ich nehm’ den Schmerz von dir”. Uff. Hätte man dabei nicht Adel Tawils großartige Stimme im Ohr – solche Texte könnte einem keiner verkaufen! Allein, Catharina Boutari, Chantal de Freitas, Illute und Katriana können es auch. Ganz zauberhaft funkelt der Song mit einem Mal, und ganz zauberhaft ist auch, wie Katriana hier tapfer mit Satinhandschuhen Klavier spielt, während de Freitas bei ihrem Part einmal mehr mit souveränem Leadgesang überzeugt. Die Künstlerinnen sind nicht nur stimmlich zusammengekommen, sondern eine jede hat sich während ihrer Tournee auch in die Lieder der jeweils anderen eingefunden, und mehr kann man sich von einem als einmaliges Projekt zusammengekommenem Musikerkollektiv wohl kaum erwarten.


Gitarre, Klavier, Ukulele, Melodica – Illute spielt sie alle

Wer die Stewardesses in Berlin noch einmal live sehen will, hat schon bald wieder die Möglichkeit dazu: Sie spielen ihr Programm am 5. April 2012 in der Langen Nacht noch einmal. Vorher machen sie aber noch Station in Dortmund, Köln und Hildesheim. Die genauen Tourdaten gibt es hier. Wir sehen uns, wenn es wieder heißt: Pussy Empire gebt ab!

27. Februar 2012

Anspruch und Wirklichkeit – Lyambiko im Live-Check und in Victoriah’s Music

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , , — VSz | Klangverführer @ 15:24

Der Neujahresvorsatz für den Klangblog – neben der Verrentung Kopfhörerhundes, der außer Haus keine offiziellen Termine mehr absolvieren muss, dafür ist er jetzt einfach zu gebrechlich – lautet: weniger Konzerte. Im letzten Jahr hatte ich einfach zu oft das Gefühl von zu viel Musik. Eins im Monat soll es nun werden. Klar, dass das dann ein ganz besonderes sein muss. Im Januar hatten wir Liz Green, im Februar ist es Lyambiko – jene Dame, mit der ich mein erstes Interview für den Klangblog führte. Ich gebe zu: Ich hatte verdammte Angst. Schließlich hatte ich seit meinem allerersten Interview mit siebzehn keine Übung mehr darin, Menschen zu befragen. Und zu diesem allerersten Interview kam ich auch eher wie die Jungfrau zum Kinde. Ich war auf einem Schüleraustausch in Oxford, Mississippi. Dort lebte – oder vielleicht tut er das immer noch – der Schriftsteller John Grisham, der damals gerade mit seinem zweiten Roman „Die Firma“ für Furore sorgte. 1993 muss daqs gewesen sein. Jedenfalls: Die Mitschüler fanden mich alle doof. Und bevor Sie mich jetzt bedauern, kann ich Ihnen versichern, dass das auf herzlicher Gegenseitigkeit beruhte. Aber dann kommt der berühmte Mann, und man schreit nach dem Klassen-Nerd, auch wenn es den Begriff Nerd damals noch nicht gab und ich darüber hinaus nicht weiß, ob er auch für Mädchen zulässig ist. Jedenfalls kriegten es alle mit der Angst und ich war also dran. Das lief auch ziemlich gut und ich weiß nicht, ob ich nicht damals im Hinterkopf beschlossen hatte, Journalistin zu werden.


Rechts vorn im Bild der Autor, ein Buch signierend. Links im Bild: Mein 17-jähriges Ich im roten Pullover und wild gestikulierend. Der rote Pulli und die Gesten sind geblieben. Auch bei John Grisham hat sich nicht viel verändert: Er hat inzwischen gefühlte zwanzig Romane nach ebenjenem Strickmuster veröffentlicht, welches er für seinen Zweitling Die Firma erfand.

Wie dem auch sei. Gute fünfzehn, eher sechzehn Jahre später saß ich dann also Lyambiko gegenüber, und wenn ich mir mein Gestottere auf dem Band anhöre, schäme ich mich bis heute! Was habe ich mich gefürchtet vor der Frau! Aber auch das haben wir irgendwie über die Bühne gebracht, Interviews machen mir keine Angst mehr, und apropos Bühne: Auf einer solchen stand Lyambiko letzten Freitag in der Passionskirche, um ihr aktuelles Album Lyambiko sings Gershwin vorzustellen.

Eine wunderschöne Location für ein Konzert, behaftet allerdings mit dem Manko, dass die Akustik auf der Empore ziemlich schwiemelig ist. Die Ansagen zwischen den Songs sind kaum zu verstehen, und auch der Klang von Instrumenten und Stimme vermischt sich zu einem undurchdringlichen Soundbrei. Die Gegenprobe ist schnell gemacht, unten im Kirchschiff klingt das Ganze bedeutend besser – wobei „besser“ leider nicht „gut“ bedeutet. Ich möchte nicht so weit gehen wie Bassplayerman, der, konfrontiert mit It Ain’t Necessarily So, kurz und bündig feststellt: „Dafür reicht das Stimmchen leider nicht!“, nein, das nicht. Doch tatsächlich ist der Unterschied zwischen Lyambiko auf Platte und Lyambiko auf der Bühne eklatant. Zudem kommt man nicht umhin festzustellen: Liest man das eingangs erwähnte Interview mit dem Live-Erlebnis im Ohr noch einmal, ist die Kluft zwischen formuliertem Anspruch und Wirklichkeit tief. Was wir hier lesen, hören wir an dem Abend definitiv nicht. Lyambiko ist für uns keine Jazz-, sondern eine Popsängerin, die uns solch wunderbaren Songs wie Give It Up oder Inside Outside geschenkt hat – meine beiden ganz persönlichen All-time-Lyambiko-Favorites, die mich jahrelang intensiv begleitet und mir auch durch nicht ganz so schönen Zeiten geholfen haben. Mittlerweile muss ich auch noch Lyambikos Version des Soundgarden-Hits Black Hole Sun dazuzählen. Groß.

Für den Abend in der Passionskirche trifft das nicht zu. Es ist eines der ganz wenigen Konzerte, bei denen ich in der Halbzeit gehe, da die Zeit mit Bassplayerman und einem Bier im Kneipencafé Locus am Marheinekeplatz, wo ich mich übrigens auch mit Maïa Vidal zum Interview getroffen habe, sinnvoller verbracht werden kann. Schade ist das vor allem wegen des Lyambiko-Bassisten Robin Draganic, der als Einziger im Quartett den Eindruck erweckt, wirklich Lust auf das Konzert zu haben und dabei obendrein mehr macht, als er müsste. Allerdings hostet Draganic jeden Mittwoch die legendäre Jam-Session im b-flat, die hier noch einmal ausdrücklich empfohlen sein soll.


Draganic!

Dennoch: Vom Abend bleibt Lyambikos Version von It Ain’t Necessarily So, die mir tagelang im Kopf herumspukt. Die gibt es auch auf dem Album Lyambiko sings Gershwin zu hören, das gänzlich bereinigt von allen Live-Lustlosigkeiten und perfekt produziert eine Ahnung davon gibt, wie das Konzert hätte sein können. Die Besprechung des Albums findet sich wie immer auf fairaudio.de. Besprochen wurden hier neben Lyambiko sings Gershwin die aktuellen Platten Christina Lux, Leonard Cohen, Solveig Slettahjell, Alex Winston, Florian Fleischer, The Stewardesses sowie El Bosso & den Ping Pongs. Viel Spaß!


Alex Winston

30. Januar 2012

Henker, Lumpenhändler und eine Lady, die den Blues singt: Liz Green im Klangverführer-Interview

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Eigentlich sollte dieses Interview samt Konzert schon im Dezember stattfinden. Dann aber zog sich die Künstlerin eine unangenehme Ohrenentzündung zu und der Berliner Promotermin wurde verschoben. Beim nächsten Versuch gestaltete sich das Ganze noch komplizierter, da die Interviewanfrage zwar relativ kurzfristig kam, mit dem genauen Termin aber erst am Vorabend des Ereignisses herausrückte. Das ganze Hin udn Her hat mir aber endlich die Frage beantwortet, die mich schon lange umtreibt: Weshalb es kaum weibliche Musikkritiker gibt: Weil sich Spontanaktionen meist nicht mit der im Vorfeld minuziös abzustimmenden Planung von Kinderbetreuung verbinden lassen. Wer da keine engelsgeduldigen Großeltern oder eine trotz eigener kleiner Familie unendlich flexible Kopfhörerhundetagesmutter hat, kann solche Interviews schlicht nicht führen. Und, ganz ehrlich: Würde ich nicht glauben, dass Liz Green mit
O, Devotion! jetzt schon die Platte des Jahres abgeliefert hätte, die von nichts, was da in 2012 noch kommen mag, getoppt werden kann, dann wäre auch ich ob des ganzen Planungsunsicherheitsdurcheinanders nicht hier. Aber Greens Platte ist nun einmal schlicht umwerfend, und ich bin gespannt auf die Frau, deren Familie auf eine lange Ahnenreihe von Henkern und Lumpenhändlern zurückblickt, wodurch sich, möchte man der Legende Glauben schenken, ihr Hang zum Makaber-Abseitigen erklären könnte.

Die Neo Folk/Blues-Sängerin traf ich unmittelbar vor ihrem Auftritt im Roten Salon am Sonnabend in Berlin.

 

Your current album is called “O, Devotion!”. So of course I first would like to know, what does devotion mean to you?

Oh well … Some people think that it’s religious devotion, but it’s not. Forget that. Devotion is just a word and it means the kind of dedication and love of something … for me. You know, if you devote yourself to something sometimes it can be frustrating. You can get angry. That’s that.

A lot of people would say that „O, Devotion!“ is Singer/Songwriter or Indie Pop, but I personally sense that it is rather a Blues album. How would you describe your style of music?

Well, if it is genre, it’s probably more Blues than anything else. That’s what I was listening to when I started to write music, so that’s the obvious first influence. But I would say that I would always consider myself Pop. Because I want to reach as many people as possible. I want them to hear it, regardless whether they’re into Indie music or Dance music or whatever music they are into. You know, my brother is a really big Drum&Bass fan. And when he heard my music he was like, oh, this sounds really good, it’s really cool. And I was just like, oh, but you like Drum&Bass! And he said, yeah, but this is kinda good! So I call it Pop, because Pop is the one genre that lets other genres kind of fall in together.

I believe two or three of the songs of your album were already recorded some years ago, for example „Midnight Blues“ or „Bad Medicine“, but it’s only now that the album appeared. What took you so long to finish it?

I don’t know. I’ve been telling people that I went to Mexico to find Alpacas and make jumpers. Mainly because I don’t want to answer the question. I don’t know how it happened … You know, the idea was ensuring … It was that kind of everything started happing before I thought it could be a possibility. It was always that my life decided that I was gonna be a musician before I even thought of it. I mean, I do want to be a musician. But it took a little bit of time to write some more songs and kind of let the song become what I want it to be.

Well, I think read in one of your previous interviews that you said it was also such a difference between playing live and then go to the studio with its sterile atmosphere and all the microphones pointing at you …

Yeah, I think when I recorded the first time it was always unexpected. I’ve never done it before. And it was my friend who had a tiny little record label – he then became my manager, a nice progression – and he said, hey, come to my house, we’ll record a song. And I think I was a bit drunken, so I was like, hey, yeah, let’s record a song, and so it was done. When I first heard it I was like, uah, it’s horrible! But he thought it was brilliant. For me, it just didn’t sound like it sounded in my head. And this album … it took me a while to work out what I have to do to make it sound like that. Plus, I thought that I was gonna make an album, and if I only was to make one album I wanted to make something that had a little of … well, a kind of that someone will be able to pick it up in a hundred years from now, listen to it and think that, oh, this still sounds good! You know, that’s what I’ve been listening to lately, to some songs which were made in 1912, and now it’s 2012 and they still sound good.

The brass section plays a major role on your album which seems kind of unusual for non-Dixieland, non-Balkan recordings. Why did you opt for the brass sound?

Well, I played music in Manchester, and if you play music in Manchester you get to meet everybody who plays music there. So the double bass player and the saxophone player on the album – we’re just friends. We started jamming together, and when I was about to go off to the tour in Europe I asked them to come with me …

So you are trying to say that the instrumentation on your album happened by chance? If your friend had been a piano player it would have been different?

Yes, might be. So they will be here tonight, the double bass, the saxophone and the trombone …

… and you will play the mouth trumpet? I heard you are a very talented mouth trumpet player …

Yes, because my trumpet player moved to Malaysia! Like, I didn’t know where he was because I haven’t been dealing with him for a couple of weeks. Two weeks ago, I had dinner with him, and two weeks later I was like, Perry, the album is coming out and I need you on the tour. And he was like, Liz, I moved to Malaysia. And I was, okayyyy … how long is that for? and then he said, I live there. So I had got to learn mouth trumpet!

Well, apart from the uncommon instrumentation it’s first and foremost your voice that catches the listener immediately and awakes long-forgotten layers of the musical memory of humanity … How come you sound like from another time?

Well, I don’t know. It is just what came out. That is what I sing like. I mean I think female singers have become quite … (sings in a breathing voice) ohh-ahhh …. Which is fine cuz some of it is brilliant, but I’m not like that! I’m a bit of … (shouts out loud) …ahhhh! And a lot of people whom I really admire, people like Judy Garland or Billie Holiday or Ella Fitzgerald, they soud like that, too.

Critics compare you to each of them …

Yeah, it’s weird, but I think it could be much much worse!

And I think they are perfectly right! When I heard the first beats of „Hey Joe“ it was really like listening to a long-forgotten Billie Holiday recording. I mean, the sound was more modern, of course, there were no scratches or whatever in it, but still …

Wow, what a great compliment!

So you say it is just the way you sound by nature …

Yeah, because I don’t use a special vocal technique or something … I mean, I was in the school choir when I was eleven, but that’s that. I didn’t really sing much. I used to sing in the house when nobody was in – and you can’t hear yourself. So I do remember all the records I sang along to, above all Ella Fitzgerald records, maybe it’s natural that this brought me this kind of inflections – but that’s the music that I like! So that’s just how my voice comes out and I find … me and my friend George in Britain … when the music really hits us it can be any kind of music sung by anyone, but when it really hits you it hits you right there (points to her heart). And that’s the music I enjoy. I think you probably have to sing from there in order to convey that power.

One of the songs of your album is called “Rag and Bone”. The press release states that you descend from a family that includes executioners as well as rag and bone men. Is this true – and if so, could this be a possible explanation for your fascination with macabre stories?

Well, it’s storytelling really – and rag and bone men are actually really common in Britain. It’s just that the name sounds quite macabre. Actually, a rag and bone man is just like not a shop man. In the old days, they used to ride in horsing cars along the streets. And in Liverpool this is what we found out when doing a family tree. So my ancestors used to ride in horsing cars along the streets in Liverpool and yell out, “Any old iron? Any old clothes?”, and they would put this stuff in the waggon and sell it to other people. So that’s a rag and bone man, quite a normal, honorable profession. Executioners … (laughs)

Oh, I was just asking it because the press release opens with it.

Yeah, I know. I mean, it could be a story …

Apart from the myth around your person, there’s a bunch of strange figures who populate the spiritual cosmos of your album, for example half-man-half-bird Joe and his wife Oko, there’s shadow play, there are masks … Where do these figures and things come from?

My imagination! I think imagination is sometimes much more reliant than music for the moment. Because a lot of music seems to be quite confessional, you know … (sings) … “I did this and then he did that, and then I loved him but now he doesn’t love me, oh oh, the pain” … Which is fine. Because I do like music that is like that, but I can’t tell that kind of story. It’s difficult. So I have to build up stories that have characters to be able to express the different thoughts of human experience or emotion.


The Ballad of Joe and Oko: Liz Green plays the part of half-man-half-bird Joe, Berlin, January 28, 2012

 

Direkt nach dem Interview ging es auch schon mit Supporterin Hannah Miller los, die, wenn sie nicht zwischen Cello und Gitarre mäandernd für Liz Green die Show eröffnet, Sängerin bei den Moulettes ist, denen der Ruf als „uncategorisable quintet“ vorauseilt. Und auch Miller solo ist im positiven Sinne Genre-sprengend; da wird das Cello schon mal zum gezupften Jazz-Bass – googlen Sie mal „Hannah Miller sings the Blues“, denn das kann diese Lady aus Brighton mindestens ebenso gut wie der Main Act des Abends. Eine klare Trennung zwischen Vor- und Hauptprogramm gibt es hier ohnehin nicht, da spielt der Green’sche Saxophonist schon mal ein Duett mit Miller, die ihrerseits bei dem Set von Liz Green das eine oder andere Stück am Cello begleitet. Man ist eben befreundet und unter sich. „Verdammte Hippies“, versucht sich Bassplayerman an der Parodie reaktionären Kommentatorenguts angesichts der flatterärmeligen, Schal tragenden und auf halb-kaputten Instrumenten spielenden Musiker. Ob Hippie oder nicht – ein lustiger Haufen sind die durch viele Zwischenrufe beim Set des jeweils anderen auffallenden Brightoner allemal; und das Wort „offen“ würde dem feucht-fröhlichen Umgang der Clique mit Hochprozentigem nur schwer gerecht. Der Rum jedenfalls könnte eine Erklärung für die live dann doch ziemlich schwiemeligen Bläser-Arrangements sein, die sich auf der Platte so wohltuend im Hintergrund halten. Aber sehen Sie selbst:

19. Dezember 2011

Rendezvous mit dem Duo Scheeselong im Heimathafen

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Fräulein Mitzi liebt die leichte Muse. Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als
so zu sein wie ihr großes Idol Marlene Dietrich. Ihre gestrenge russische Korrepetitorin Frau Rosenroth hingegen liebt „richtige Musik“, und das heißt für sie: Beethoven, Rachmaninow & Co. Dass das eigentlich nicht gut gehen kann, hier schlussendlich aber sogar mehr als gut ausgeht, davon konnte ich mich am Freitag bei der Vor-Premiere des Programms Rendevouz mit Marlene, dem neuesten Streich des Duos Scheeselong, im Neuköllner Heimathafen überzeugen.

Das Duo Scheeselong – das sind die Sängerin Caroline Bungeroth, die hier mit großer Spielfreude (und nicht minder großer Stimme) die sexy Naive vom Lande gibt, und die nicht nur durch ihr virtuoses Spiel, sondern auch durch ihren schönen Rücken entzückende Pianistin Valerie Wildemann, in deren Rolle der klavierspielenden Domina mit dem wunderbaren russischen Akzent man sich sowieso verlieben muss. Und dabei lebt man bei den beiden musizierenden Damen in der ersten Reihe nicht ganz ungefährlich: Da regnet es Konfetti, es wird mit Sekt gespuckt und mit Rasierschaum gespritzt, und wer Bonbons – Werthers Echte und Storck Riesen – will, der muss schon mal auf die Bühne. Im konkreten Falle hat es als wahrgewordenen Alptraum eines jedem Musikwissenschaftlers mich ereilt, denn natürlich kann ich die Habanera (als ein Bestandteil des sich entwickelnden Tango) theroretisch und musikhistorisch rauf und runterbeten, bin aber hoffnungslos überfordert, wenn ich ihre Basslinie spielen soll. Was tut man nicht alles für Bonbons!

Wenigstens bin ich keiner der bedauernswerten Herren, die als Opfer eines Rosenroth’schen Temperamentausbruches herhalten müssen. Denen ist vermutlich Hörern und Sehen vergangen, was allerdings hochgradig bedauerlich wäre, denn Rendezvous mit Marlene ist nicht nur hörens-, sondern auch sehr sehenswert. Es macht einfach Spaß, jemandem zuzuschauen, der sein Metier mit Leichtigkeit bewältigt; und die Damen des Duos sind nicht nur fantastische Musikerinnen in ihrem jeweiligen Fach, sondern verstehen sich auch auf Komposition, Schauspiel und vor allem allerlei schönen Unsinn, der nur dann funktioniert, wenn man ihn beherrscht, und das tun Bungeroth und Wildemann aus dem sprichwörtlichen Effeff. Ihr williges Publikum haben die beiden fest im Griff, und nicht zuletzt sorgt ein ebensolcher in die Requisitenkiste – in diesem Falle: in die jeweilige Handtasche – für immer neue Überraschungen, die bei so manch anderem aufgesetzt bis nervig wirken würden, hier aber einfach nur perfekt sind.


Und das alles nur wegen Emil seine unanständ’ge Lust …

Das Programm wird, ähnlich wie beim Trio Ohrenschmalz, durch eine umrahmende Geschichte zusammengehalten, sodass man von einem bloßen Liederabend nicht mehr sprechen kann. Natürlich stehen nichtsdestotrotz die Lieder von Marlene Dietrich (und ergo die Stücke von Friedrich Hollaender) im Mittelpunkt des Abends, und auch der leider kürzlich verstorbene Georg Kreisler oder Paul Linck schauen einmal um die Ecke. Klar, dass es da auch die Fesche Lola zu hören gibt, Jonny, wenn du Geburtstag hast und Ich hab noch einen Koffer in Berlin, ganz zu schweigen von dem Klassiker Ich weiß nicht zu wem ich gehöre, den ich dieses Jahr bereits als Instrumental-Version von Trio Ohrenschmalz-Geigerin Angelika Feckl und in der Neudeutung durch Jasmin Tabatabai gehört habe. Dennoch – oder gerade deshalb – gelingt es Caroline Bungeroths sehr nahe am Original (falls man in diesem Falle überhaupt von Original sprechen kann) gehaltener Interpretation davon zu überzeugen, dass hier nichts neu gedeutet werden muss: So, wie sie es singt, muss man dieses Lied singen, und nicht anders. Und bei ihrem Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt wird mir sogar erstmals bewusst, wie zärtlich – und wie wenig frivol! – diese Melodie, dieses Lied eigentlich ist.


Oh, Alexander – was für ein Neander!

So viel Marlene zum Trotz ist mein persönliches Lieblingslied des Abends die Bungeroth’sche Eigenkompostion Neulich im Neandertal, deren kongeniale Reimfortsetzung „traf ich Alexander mal“ mir die nächsten Tage nicht aus dem Kopf geht. Ohenhin ist Rendezvous mit Marlene etwas, das man mit nach Hause nimmt und das noch lange vorhält, wie eine gute Mahlzeit. Wer noch auf der Suche nach einem Last-Minute-Weihnachtsgeschenk ist, der schenke Tickets für diese Show!

Die nächste Gelegenheit, das Duo Scheeselong mit Rendezvous mit Marlene zu sehen, gibt es im Rahmen des Kurt-Weill-Festes 2012 am 1. März um 20:00 Uhr im Brauhaus „Zum Alten Dessauer“ in Dessau. Karten gibt es hier.

8. Dezember 2011

Jennifers musikalische Diener

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Ich habe eine Kindheitsfreundin, die genau genommen Schuld daran ist, dass ich mit der Musik angefangen habe. Sie belegte einen Kurs in musikalischer Früherziehung, und ich glaube, meiner Mutter gefiel das. Jedenfalls fand ich mich innerhalb kürzester Zeit, fünf- oder knapp sechsjährig, im selben Kurs und dort im Kreis gehend und „ta-ta-titti-ta, ta-ta-ta-ah“ klatschend, wieder. Meine Freundin wurde dann der Klavierfakultät der Musikschule zugeteilt, ich den Geigern, denn es standen nur drei Instrumente zur Auswahl: Klavier, Geige und Konzertflöte. Klavier spielten alle, und Flöte, also mal ehrlich, wer wollte das schon? Also entschied ich mich für Geige, und wohin das geführt hat, sehen Sie ja selbst.

Meine Freundin habe ich dann aus den Augen verloren, aber nach knapp dreißig Jahren haben wir uns, wo auch sonst, auf Facebook wiedergetroffen und sehr darüber gefreut, dass wir unabhängig voneinander beide ein „Emmchen“ haben, sie ein selbst gemachtes zweibeiniges, ich ein adoptiertes felliges. Natürlich hat das zweibeinige Emmchen auch einen Vater, den Mann meiner Freundin. Und der spielt, wenn er keine Filme macht, in seiner Freizeit Cello. Wieder vorgekramt hatte er es eigentlich nur als Hochzeitsüberraschung für meine Freundin: Gemeinsam mit einem Freund, der zufällig Singer/Songwriter und Gitarrist ist, sollte ihr ein romantisches Ständchen gespielt werden. Und wie das so ist mit „Eigentlich sollte es nur eine einmalige Sache werden“ – man hat es ja gerade erst bei B•S•O gesehen, das sich ursprünglich ja auch nur als Geburtstagsüberraschung gegründet hatte –, wurde auch hier eine regelmäßige, intensive Zusammenarbeit daraus, die dann auch einen Namen bekam. Zum Namen kamen Auftritte, kamen Facebook-, Youtube- und MySpace-Seiten, kamen Fans, kommt eine Platte – und komme ich heute hierher.

„Hier“ ist diesmal ein ganz besonderer Ort: Die von der sympatischen Heike Mössner betriebene, nur einmal die Woche öffnende, halb-private und ebenfalls im Filmumfeld angesiedelte Seimobar, eine Art Wohnzimmer mit angeschlossener Küche, wo es für wenig Geld hausgemachtes Essen plus Nachschlag und -tisch ohne Ende gibt. Da verwundert es wenig, dass manche sogar auch nur wegen des Essens kommen, heute Abend beispielsweise die Heavy Metal Band, die sich vor ihrem Auftritt in einem benachbarten Laden an Rotkohl, Klößen und Krustenbraten gütlich tut. Und tatsächlich hat die Wohnzimmerszene an der langen Tafel unter dem beleuchteten „Million Dollar Hotel“-Wandbild etwas vom Abendmahl.

Während die anderen essen, habe ich die Gelegenheit, für ein Mini-Interview mit den beiden Protagonisten des heutigen Abends, Joseph Bolz, den Singer/Songwriter, und Friedhelm Pörner, der zu der Bolz’schen Musik die Cello-Arrangements schreibt und spielt. Klar, dass ich erst einmal wissen will, wie das Duo denn auf den Namen „Gwen Hyfar“ gekommen ist. Ursprünglich, so erfahre ich, wollte man sich „Zoe“ nennen, doch gibt es leider schon zu viele Bands dieses Namens. Da es aber ein Frauenname sein sollte und man melancholische Träumerinnen aus Schweden wie Mire Kay und Audrey schätzt, kam man auf das nordische „Gwen Hyfar“, das nichts als ein verklausuliertes „Jennifer“ ist, die als „Jenny“ wiederum einen wichtigen Teil im Bolz’schen Textkosmos einnimmt. Und in der Tat taucht sie in mindestens zwei Stücken des Abends auf.

Erst einmal aber rumpeln Gwen Hyfar beim Opener Like Wool, den mir die wohlmeinende Ehefrau vorab schon als Youtube-Link geschickt hat, vor sich hin, die Raumakustik schluckt viel der leiseren Gesangpassagen, das Cello dominiert zu stark. Dann aber hat man sich eingespielt, auf den Raum, aufeinander, worauf auch immer, in jedem Falle fällt hier schon die außergewöhnlich schöne Songstruktur auf, mit ausgeklügeltem Arrangement und fein austarierter Aufnahmetechnik ist das etwas, was ich sehr gern auf CD hören würde. Schon ab dem zweiten Song ist man von der Intensität der Bolz’schen Songstrukturen völlig in Bann gezogen, und zunehmend fällt auf, dass hier ein im positiven Sinne absolut Besessener am Werk ist. Wo hat man den denn bis jetzt versteckt und warum hat man ihn vor uns versteckt? Die Welt braucht solche Lieder, ganz sicher.

Pörner hingegen mag kein Profi-Cellist sein, und obwohl ich mit so etwas sonst sehr streng bin, fällt mir heute Abend dazu nur ein: Das muss er auch nicht, denn hier geht es um etwas völlig anderes. Zudem: Weshalb auch eine Laienmusiker an den Maßstäben für Profis messen? Allein die Songs von Joseph Bolz machen alles um einen herum vergessen, nicht nur ich bin froh, hier zu sein, auch das restliche Publikum ist regelrecht hypnotisiert. Die Klangfarbe seiner Stimme, seine Phrasierung, ja sogar die Art der Songs erinnert mich an jemanden, der mir gerade auf Teufel komm raus nicht einfallen will, der von solchen Songs aber nur träumen kann. Chris Cornell vielleicht?

Wenn es Ihnen einfällt, schreiben Sie mir. Ansonsten bleibt mir nur noch zu sagen: Kaufen Sie das Album, wenn es nächstes Jahr erscheint. Ich werde Sie ganz bestimmt daran erinnern.

21. November 2011

Ich kenn‘ dich doch von Facebook: Nikolai Tomás und Krispin Light im art.gerecht

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Lieder, die man nach einem Konzert noch auf dem Heimweg singt, haben das Zeug zum Ohrwurm/Sommerhit/Klassiker/… (bitte nach eigenem Gutdünken ankreuzen bzw. ergänzen) und sind in jedem Falle angetan einen wissen zu lassen, dass man gerade Zeuge eines ganz besonderen Abends wurde. Das Indien-Lied mit so schönen Textzeilen wie „die Gurus brauchen neue Schüler“ der neuen, noch nicht erschienenen Platte von Nikolai Tomás, ist so eins. Und in der Tat ist ein Großteil des Publikums gekommen, den Poems for Laila-Schöpfer zu sehen, obgleich er mit einer Handvoll neuer Stücke nur das Vorprogramm der Show bestreiten sollte. Sein letztes Solo-Album Alles auf Anfang habe sie in einer schwierigen persönlichen Phase angetroffen, verrät mir eine Dame, und dort prompt seine heilende Wirkung entfaltet. Und ein junger Rechtsreferendar aus einem der bürgerlicheren Bezirke Berlins wurde von seinem Freund mitgeschleppt, der „Tomás unbedingt sehen wollte“. Dafür scheute man dann auch die Autofahrt ins hippe Friedrichshain nicht.

Klar, dass auch ich gespannt war auf diesen Landsmann meines Vaters, dem die Kollegen schon mal attestieren, wie ein „verwegener ungarischer Prinz“ (Tagesspiegel, 14. März 2002) auszusehen und was das Puszta-Paprika-Klischee (Zigeunergeiger! Csárdásfürsten! Lángos und Palatschinken! Ja, es ist nervig, in Deutschland mit seinen geliebten Exotismen Ungar zu sein.) noch alles so hergibt. Und wenn er dann noch lebensrettende Lieder à la Illute macht … Zumindest macht er sehr schöne Lieder, irgendwo zwischen Rätselhaftigkeit („Ich war die Sechs und du die Zwei/ich die Methode, du der Hai“) und Zeitgeist. So beispielsweise beklagt sein Facebook-Lied Ich kenn dich doch von Facebook mit dem schönen „Gefällt mir/gefällt mir nicht“-Refrain den merkwürdigen Umstand, dass man von seinen Facebook-„Freunden“ zwar fast alles weiß, angefangen davon, was sie gerade zu Mittag gegessen haben, aber recht eigentlich kennt man sie gar nicht. Bezeichnenderweise sind Nikolai Tomás und ich – Ironie des Schicksals: Facebook-Freunde. Haben sich hier schon viele schmunzelnd wiedererkannt, war der absolute Brüller des Abends aber Tomás‘ Indien-Song, ein perfekter Rausschmeißer, bei dem das Publikum lachend am Boden lag und der vergessen macht, dass die Lieder des Sängersongschreibers, genauso wie die vom heutigen Main Act Krispin, nicht zuletzt durch poetische Wortneuschöpfungen wie „Wundertütenland“ oder „Regenmantelmann“ bestechen. Ein toller Songs ist auch Baby Berlin – auf die Platte kann man sich definitiv freuen!

Freuen tut sich einzig Kopfhörerhund nicht. Der ist zwar wieder gesundet, aber schon den ganzen Tag über unruhig, um nicht zu sagen: unleidlich. Zu allem Überfluss habe ich ihm die Ohren geputzt, was die schlechte Hundelaune nur noch verstärkt. Während Nikolai Tomás‘ Auftritt will das Getier dann auch nur eins: raus. Kaum aber betreten Roland Krispin und Christoph Thiel die Bühne, die diesmal nicht von Andreas Laudwein und Ronny Seiler an Gitarre und Schlagzeug, sondern als „Krispin Light“ von der ebenfalls über Facebook rekrutierten Cellistin Franziska Kraft begleitet werden, rollt sich Kopfhörerhund wohlig zusammen und schläft. Auch er mag die Krispin-Lieder zwischen Fröhlichkeit und Wahnsinn. An alle verzweifelten Eltern da draußen: Wenn sogar mein renitentes Hundetier bei den Krispin-Liedern einschläft, probieren Sie sie doch mal an Ihren zappeligen Kindern!

In jedem Falle stehen den Songs die neuen luftigen Kleider, wobei Papierherz das wohl coolste Cello-Arrangement hat, obwohl – oder gerade weil – es eben nicht gar so luftig daherkommt, sondern mit einem weittragenden, fast schon den fehlenden Bass ersetzenden Cello. Dass kein Schlagzeug dabei ist, merkt man erst am Schluss des Sets, wo Thiel zum Tamburin greift (oder vielmehr damit füßelt) – hier offenbart sich, dass die Songs in der alten Besetzung mehr Tiefe hatten; und bei der letzten Zugabe Spät – einem wunder-wunderschönen Lied – vermisse ich die portisheadschen Klangflächen Andreas Laudweins schon sehr. Das geniale Cover Paula hingegen ist auch in der Light-Version die wohl schönste Zugabe, und es ist ein Jammer, dass der Song es nicht auf das Album geschafft hat. Mit Ich habe dich gern gibt es auch einen neuen (oder zumindest beim Zimmer-16-Auftritt uneghörten) Song, den habe ich Ihnen direkt einmal mitgebracht. Natürlich darf da auch der mittlerweile wieder zappelige – weil, wie sich zu Hause herausstellte, obwohl gefütterte trotzdem mordshungrige und entsprechend randalierende – Kopfhörerhund nicht fehlen:

Er hört es zwar nicht gern, der Herr Krispin, wenn ich ihn als „Liedermacher“ bezeichne. Doch auch wenn der Begriff mit gewissen Konnotationen aufgeladen ist, tut Roland Krispin im Grunde genommen genau das: einfach schöne Lieder machen, und somit ist – und bleibt – er für mich ein Liedermacher im besten Sinne. Dennoch ist es am Ende des Tages Indien von Krispin-Produzent Nikolai Tomás, das mich auf dem Nachhauseweg, durch die Nacht und auch noch in den nächsten Morgen begleitet. Und nach einem halben Kilo Hähnchenhals und der „Notdose“ Thunfisch war das Hündchen auch wieder friedlich …

10. Oktober 2011

Balkan Beats ohne Beats oder Musikkritik im Dunkeln: Tsching feiern ihren Record Release im Theater unterm Dach

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 11:13

Freitag war wieder einer dieser Abende, an denen die Entscheidung zwischen konkurrierenden Veranstaltungen schwerfällt. Da spielte zum einen Ex-Cultured Pearls Sängerin Astrid North live & unplugged in der St. Elisabeth-Kirche. Dann der Gitarrist Andreas Laudwein, den ich zum ersten Mal bei Krispin gehört habe, mit Lina Paul. Beides hätte ich gern gesehen, hatte aber schon der Record Release Party des Balkan-Tango-Swing-Trios Tsching mein Jawort gegeben, zu der mich Franziska Kraft, die Cellistin des Trios, eingeladen hat. Überhaupt die Celli in letzter Zeit! Auch das muss etwas Atmosphärisches sein, mit all diesen kleinen Bassgeigen im Moment. Nicht nur, dass Krispin in der Herbst/Winter-Saison mit Cello-Unterstützung auftreten werden und ich neulich bei B•S•O die Gelegenheit hatte, gleich zwei jungen Cellisten auf einmal zuzuhören, auch das Trio Tsching wartet mit der eher ungewöhnlichen Besetzung Saxophon, Gitarre und Cello auf.

Das Theater Unter dem Dach jedenfalls, auf dessen Musikbühne Tsching spielen, wird seinem Namen schon mal gerecht: Es befindet sich tatsächlich direkt unterm Dach. Einen Fahrstuhl gibt es nicht. Kopfhörerhund wäre dem Aufstieg nicht gewachsen gewesen; und tragen Sie mal einen 30kg-Stafford drei Altbautreppen hoch! Eben.

Los geht es mit einiger Verspätung, da der – stockdunkle! man stelle sich vor, was das für die spätere Lesbarkeit der Kritikernotizen bedeutet! – Theaterraum ob des Ansturms erst noch mit zusätzlichen Sitzgelegenheiten bestückt werden musste, und dem namensgebenden Stück Tsching, einer Komposition Helmut Mittermaiers, der als Saxophonist des Trios auch live – ebenso wie auf der CD – unglaublich viel Lufthauch in seinem Spiel hat, der auch durch das im zweiten Stück verwendete Tenorsax weht – hier versteht man, weshalb die Holzbläser auf English „woodwinds“ genannt werden. Der Celloton hingegen unterscheidet sich sehr von dem auf dem Album, was zum einen daran liegt, dass es hier von Sax und Gitarre akustisch erdrückt wird – in Zeiten elektronischer Verstärkung komplett unnötig –; zudem wird dann doch so manches Mal nach der richtigen Intonation gesucht. Allerdings bin ich, was Celli angeht, im Moment auch sehr verwöhnt. Gitarrist Ben Aschenbach wiederum spielt einen sehr sympathischen Fingerstyle mit nur gelegentlichem Griff zum Plektron, aber auch bei ihm ist die allgegenwärtige Loop-Station nicht wegzudenken, die mittlerweile auch den Akustikbereich komplett erobert zu haben scheint. Einzig fragt man sich, weshalb Aschenbach in diesem Genre keine Cut-Out spielt, sondern stattdessen angestrengt nach den oberen Bünden langt.

Ausgesprochen gut gefällt mir das dritte Stück des Abends, das wie ein Southern Blues im Cassandra-Wilson-Stil startet, sich aber recht schnell als die Lennon/McCartney-Komposition Come Together entpuppt – schon auf der CD mein absolutes Lieblingsstück, wegen dessen allein sich der Kauf des Albums lohnt! Allerdings spielt Franziska Kraft in Widerspruch zu ihrem Namen auch hier ein sehr zartes, wenn nicht zu zartes Cello.

Beim Mocca Swing verschwindet dann endlich das allzu Luftige, und der Saxophonton kommt stark und klar. Wie schon auf dem Album wird hier ohrenfällig, dass Helmut Mittermaiers Spiel eher für Swing, Dixie, Jazz gemacht ist als für Klezmer und Balkan. Wahrscheinlich ist er auch ein formidabler Freejazzer. Leider spielen Tsching als fünften Titel den Libertango, der nicht nur meine absolute Lieblingskomposition aller Zeitenist, sondern die ich auch einfach schon besser gehört habe – beispielsweise von dem großartigen Tango Nuevo Trio Surreste Tango mit Witek Kornacki an der Klarinette, Guido Jäger am Kontrabass und Angel Garcia Amés an der Gitarre. Zudem hat hier die Cello-Version von Yo-Yo Ma, die auch im Tango Lesson-Soundtrack verwendet wurde, Maßstäbe gesetzt, an denen sich alle Cellisten messen lassen müssen, die sich an diesem wundervollen Stück versuchen. Insofern: Mutig von Tsching.

Der Libertango geht nahtlos über in etwas Balkaneskes, Hora-Artiges, womit man dem Klezmertango-Klischee bzw. dem Mythos vom jüdischen Tango schon wieder gefährlich nahe kommt. Das Stück allerdings entpuppt sich bei genauerem Zuhören als Misirlou, das ursprünglich ein griechischer Rebetiko ist, sich aber sowohl in der arabische Musikwelt als auch in der Klezmer-Szene solcher Beliebtheit erfreut, dass es im allgemeinen für etwas orginär Orientalisches gehalten wird.

Was an der Tsching-Version von Misirlou so schön ist, dass ich sie filmen muss, obwohl sie schon begonnen hat, ist das Zusammenspiel der Drei. So langsam haben sie sich warmgespielt. Auch von der Helmut-Eisel-Komposition Blindroter Chor und Wirtshaustöchter – oder vielmehr: von der Tatsache, dass hier ein Klarinettenstück für Saxophon adaptiert wird und damit erst einmal die Klangerwartungen bricht – bin ich nicht mehr so irritiert wie noch von der Album-Version. Live gerät das Stück zu mehr als der bloßen Imitation des Klarinettenklanges; Mittermaier macht es sich vielmehr so sehr zu eigen, dass ein genuines Saxophonstück entsteht.

Bei mir bist du schön besticht durch sein schönes Cello, doch leider ist selbst die Akustikgitarre lauter. Eine Aussteuerung wie auf dem Album wäre hier wünschenswert, damit Franziska Kraft nicht neben ihren Mitstreitern und besonders neben Mittermaier verblasst. Das Zusammenspiel indessen läuft zur Hochform auf; am Abend der Dichter mit seinem bedrohlich grummelnden Cello und einer perkussiven Gitarre sowie dem folgenden, nahtlos anschließenden Stück findet auch der kritischste Kritiker nichts auszusetzen. Die Stücke von Tsching, und das ist auf der CD schon ahnbar, sind wie gemacht für die Live Show. Ausufernde Soli und Stücklängen zwischen sieben bis zehn Minuten sind bei Tsching keine Seltenheit, funktionieren aber. Einzig die Ausgewogenheit zwischen Saxophonsoli und denen der anderen Instrumente könnte nochmals überdacht werden. Natürlich, das Saxophon ist der Melodieträger bei Tsching. Will man aber zu einem gleichberechtigten Trio-Klang kommen und nicht Gefahr laufen, Gitarre und Cello zu bloßen Sidemen bzw. Sidewomen zu degradieren, müsste diesen live noch etwas mehr Raum eingeräumt werden.

Als Zugabe spielen Tsching Summertime mit einem jazzigen Cello-Solo, welches das Herz erfreut. Sinn für Dramaturgie kann man ihnen ganz bestimmt nicht absprechen; das Stück erweist sich als perfekter Rausschmeißer, denn auch hier gilt: Die Leute mögen, was die Leute kennen. Ich singe das Lied noch den ganzen Nachhauseweg auf dem Rad, und auch am nächsten Morgen klingt mir Summertime noch nach. Ein gutes Zeichen.

Die Albumbesprechung gibt es in der nächsten Ausgabe von Victoriah’s Music, zu haben ist Serenata aber schon jetzt beim Schallplattenhändler Ihres Vertrauens. Am schönsten ist es natürlich immer, Zwischenhändler zu überspringen und das Album direkt im Spätkauf der Künstler zu erwerben.

1. Oktober 2011

Pussy Power am Potsdamer Platz

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 14:22

Gestern Abend hatte ich das Glück, einem kleinen, aber sehr sehr sehr feinen akustischem 5-Song-Set beizuwohnen. Eingeladen hatte mich Puder-Sängerin Catharina Boutari, die mit ihrer Pussy Empire-Labelkollegin Chantal de Freitas die L-Filmnacht am Potsdamer Platz musikalisch eröffnen sollte. Was ich nicht wusste: L stand in diesem Falle für lesbisch, und unversehens fand ich mich inmitten eines ausschließlich weiblichen Publikums wieder, das vor allem gekommen war, um den Film zu sehen – und nicht die beiden Sängerinnen. Dabei war der ungewöhnliche Rahmen de Freitas zu verdanken, die in Alles wird gut, einem deutschen Film aus dem Jahr 1998, die Karrierefrau Kim spielte, deren bisheriges Leben durch die plötzliche Zuneigung einer anderen Frau in Frage gestellt wird. Der Film wurde in der lesbischen Szene Kult – und de Freitas zur Kultfigur.

Das hält aber das mittelalte, miesepetrige Pärchen neben mir nicht davon ab, während des kleinen Überraschungskonzerts mit Kommentaren wie „Naja, die sind ja noch jung“ um sich zu werfen und genervt mit den Augen zu rollen. Als Boutari und de Freitas nach je zwei eigenen Songs – Perfect und Independence bei de Freitas sowie Puder und Großstadtkonkubinen bei Boutari – dann noch Kathy Perrys I Kissed A Girl anstimmen, haben sie verloren: „dieses homophobe Lied“ gehe ja nun einmal gar nicht, ist man sich einig. Während die Werbung anläuft, die den beginnenden Film einläutet, dreht sich die Dame zu meiner Linken mit einem Seufzer der Erleichterung zu mir um: „Wird ja auch Zeit! Finden Sie nicht auch?“ In dem Moment, in dem ich antworte: „Mir egal, ich bin nur wegen der Sängerinnen hier“, habe auch ich verloren. Wenn genervte Blicke töten könnten, dieser Blogbeitrag wäre nicht entstanden.


Das Video hat leider ziemlichen Seegang, da im Kino noch eifriges Kommen und Gehen herrscht – der Song ist trotzdem gut zu hören

Damit lässt sich’s leben – allein für die Künstlerinnen ist es schade, denn die machen sehr schöne Musik und konnten hier nicht zuletzt beweisen, dass ihre üblicherweise sehr elektro-lastigen Songs auch akustisch funktionieren. Das geht schließlich nur, wenn der Song so vielschichtig ist, dass er es zulässt, bis auf sein Grundgerüst entkernt zu werden – nicht unbedingt üblich für eine Musik, die mich am ehesten an den Bubblegumelectropop einer Gwen Stefani oder an Madonnas elektronischste Momente erinnert. Natürlich macht das am meisten Spaß, wenn man die Originale kennt. Puder packt aber auch so – ein unglaublich energetischer, positiver Song, ich mag ihn sehr, wenngleich er unplugged schon sehr an 2Raumwohnung erinnert:

Dem Entkernen werden die beiden auch weiterhin treu bleiben: Anfang nächsten Jahres erscheint ein Pussy Empire-Sampler, auf dem sich die fünf Künstlerinnen des Labels – darunter Katriana, deren Song Kluge Gedanken mit dem herrlichen Refrain „ich bin so beschissen doll verliebt in dich“ definitiv zu meinen persönlichen All-time favorites gehört – bekanntem deutschen Liedgut aus den letzten zehn Jahren angenommen haben, von Rammstein über Grönemeyer bis hin zu Das Bo. Ob man die pussyfizierten Songs dann noch wiedererkennen wird, sei dahingestellt – ziemlich sicher ist, dass die Mädels etwas ganz Zauberhaftes damit machen werden. Ganz neu im Boot bei den Pussy Girls ist auch die wunderbare Illute, die auf dem Sampler auch zu hören sein wird. Bis er erscheint, hier noch eine wunderschöne Ballade:

26. September 2011

Sehen, registrieren, reagieren: B·S·O auf der YOU

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , , — VSz | Klangverführer @ 07:38

What a difference a day makes! Fragte ich mich gerade noch in Erinnerung an die Püppchen-Pleite vom Freitagabend noch, weshalb ich mir diesen Job eigentlich antue, weiß ich es heute wieder ganz genau. Dabei sah es gar nicht so aus, als würde sich dieser Tag musikalisch lohnen. Dafür sorgte die YOU, laut eigenen Angaben „Europas größte Jugendmesse“. Hier soll heute das BerlinerStreichOrchester, kurz: B·S·O, spielen, und da ich die Musik der drei Jungs sehr mag, aber noch nie live gesehen habe … Nun, das sollte erklären, wie ich hier hinein geraten bin.


Wer noch ohne Berufswunsch ist, kann es ja mal mit dem Backen kleinerer Brötchen versuchen

Die seit Jahrzehnten üblichen Verdächtigen der Jugendkultur – ein bisschen DJ-ing hier, ein bisschen Graffiti dort -, angereichert mit modernen Späßchen
à la Kletterwand sorgten für eine Geräuschkulisse, die mir innerhalb von wenigen Minuten schlechte Laune machte. Und dafür habe ich den armen Kopfhörerhund zur Nachbarin abgeschoben? Nicht zuletzt möchte einem ständig jemand etwas andrehen: Nein, ich brauche kein zusammenfaltbares Frisbee. Und danke, auch keinen Schlüselanhänger, kein Gratis-Poster, ebenso wenig wie sämtliche Flyer dieser Welt. Die Zielgruppe von denen bin ich doch nun wirklich nicht!

Andererseits: Das hier hätte mich auch mit fünfzehn nicht wirklich geflasht. Was auch für die heute Fünfzehnjährigen Gültigkeit zu besitzen scheint, denn allzuviel ist nicht los auf der YOU, zumindest nicht an diesem Sonntagmittag. Dazu noch herrscht draußen herrlicher Indian Summer, der den Tag zu einem macht, der definitiv zu schade ist, um ihn in dunklen Messehallen zu verbingen. Nach einem kurzen Rundgang über das Gelände entschließe ich mich dann auch bis Showbeginn zur Flucht nach draußen. Und da sehe ich ein Schild, welches mir Lärmgeplagtem wie eine Fata Mogana dem Verdurstenden in der Wüste erscheint:

Herrliche Stille! Die Halle nämlich, in der das von Geiger Gunnar Wegner gegründete und als Cover-Band einer Cover-Band gestartete B·S·O am Stand von Outreach spielt, wird beschallt von Nachwuchs rekrutierenden Bundeswehrleuten – oder waren es die von der Polizei? jedenfalls Menschen in Uniform, und das sagt eigentlich schon alles -, vor allem aber einer sogenannten DJ School, die nicht nur schlecht, sondern auch laut ist. Mit drei Streichern gegen drei Rapper anzuspielen – mutig. Andererseits: Es geht um drei gute Streicher gegen drei schlechte Rapper. Das hier verspricht spannend zu werden – oder auch ganz schrecklich.

Die Sorge erweist sich als unbegründet – nicht nur hat der Outreach-Tonmann den Sound perfekt im Griff, sondern B·S·O auch sein Repertoire. Wo ich schon gute und weniger gelungene Aufnahmen von ihm gehört habe, hat heute alles gestimmt. Nicht nur, das Poprockmetall im Kammermusikarrangement funktioniert – und B·S·O hat zum Heulen schöne Arangements! -, sondern vor allem, dass das Trio mittlerweile so blind aufeinander eingespielt ist, dass jenseits des bloßen Funktionierens ein echtes Musizieren entsteht. Besondern beeindruckt mich das Zusammenspiel der beiden Cellisten, des erst siebzehnjährigen (!) Jupp Wegner mit seinem Cousin Johannes Fischer. Gerade Ersterer hat sich vom Achter schrubbenden Begleiter zum mindestens ebenbürtigen Triomitglied gemausert, mit einem für sein Alter erstaunlich satten und selbstsicheren Ton.

Um aber noch einmal auf das Zusammenspiel zurückzukommen: Ich habe so viele Konzerte gesehen in letzter Zeit, aber was an intuitivem Verständnis und vor allem an musiklaischer Kommunikation herrscht zwischen diesen beiden, das kriegen manche gestandene Jazzer nach einem zwanzig-jährigen gemeinsamen Auf-der-Bühne-Stehen nicht hin! Ganz erstaunlich, wie unglaublich gut sie zusammen geworden sind, vor allem im direkten Vergleich zu den Aufnahmen vom Frühsommer dieses Jahres. Zwar wäre es grob unseriös oder zumindest doch kitschig, dieses intuitve Verstehen auf Blut-ist-dicker-als-Wasser-Familienbande zu schieben, aber irgendetwas muss es ja sein, das hier anders ist als bei anderen.

Nun bedeutet eine innige Verbindung aber nicht zwingend auch vorsichtig und leise, denn an das gemeinsame Musizieren muss man sich nicht mehr erst herantasten. Hier wird richtig gearbeitet, und auch die Bögen werden nicht geschont, immer wieder löst sich das ein oder andere Haar während des Spiels – ich frage mich, wie oft sie ihre Bögen zum Neubespannen bringen müssen! Ähnliches an Intensität habe ich zuletzt bei Ian Fisher gesehen, der ein Loch in seine Gitarre gespielt hätte, wäre ihm nicht vorher die Seite gerissen.

Wie gut B·S·O inzwischen geworden ist, konnte man ja schon beim Lady Gaga Medley hören. Und jetzt gibt es auch das ältere Repertoire in dieser Qualität. Das freut. Nicht zuletzt machen die drei genau das, was ich am Freitag so schmerzlich vermisst habe: Sie kommunizieren mit dem Publikum. Dafür brauchen sie keine ellenlangen Ansagen, aber sie schauen, sie registrieren, sie reagieren, kurz: sie sind da. Und echt. Wer das Glück hat, bei B·S·O im Publikum zu sitzen, fühlt sich als Zuhörer ernst genommen. Das hatte ich Freitag bei den Vollprofis nicht.

Die um die Publikumsgunst konkurrierende DJ-Schule ist mitsamt ihren schlechten Rappern nur noch als fernes Rauschen zu hören, wenn die drei hier erst einmal loslegen

Von den Songs, die das Trio heute spielt, mag ich It’s My Life am liebsten, und das sage ich als bekennender Hasser von pathetischen Rockballaden im Allgemeinen und Bon Jovi im Besonderen! Das traumschöne B·S·O-Arrangement wird höchstens noch getoppt von ihrer Lemon Tree-Version, die noch mehr vor sich hin-reggaet als das Original. Das kann man sich alles im Soundcloud Stream des Trios anhören, klar. Viel besser aber ist es, B·S·O live zu erleben – zum Beispiel am 20. Oktober im Kesselhaus in der Kulturbrauerei.

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