11. Mai 2021

Close together from afar – jazzahead! digital

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Fünfzehn Jahre jazzahead!, zehn Jahre jazzahead! Festival – dieses Doppeljubiläum sollte eigentlich 2020 begangen werden, aber aus allseitig bekannten Gründen wurde nichts daraus. Diesjahr dann also digital. Hatte man sich schon längst auf der entsprechenden Plattform registriert und auf gemütliche Sofatage mit Live-Stream eingerichtet, hieß es in letzter Minute doch noch: zwanzig Journalisten können pro Produktionstag in Bremen unter Einhaltung eines strengen Hygienekonzepts live dabei sein. Am 22. April – exakt eine Woche vor Festivalbeginn also – rauschte die Einladung durch den Presseverteiler.

Eingedenk der Tatsache, dass ich zu meiner ersten jazzahead! dank genau so einer Spontanaktion gekommen war (und wir alle wissen: wer einmal dabei war, ist ab jenem Moment Teil der Familie und künftig immer dabei, da gibt es keine Ausreden – zum einen, weil man selbst Blut geleckt hat und immer wieder auf der Suche nach einer Wiederholung des allerersten Geflashtseins ist, zum anderen, weil einen die Sippe nicht mehr entkommen lässt), meldete ich mich kurzentschlossen an, nahm einen Urlaubstag im Parallelgewerbe, brachte den eigentlich ununterbringbaren Hund unter – und bin nun also hier: Good morning Bremen, my love!

Wobei es recht eigentlich Abend ist. Aufgrund unvorhersehbarer Terminkollisionen, wie es im Businessdeutsch so schön heißt, was alles und nichts bedeuten kann, in meinem Falle jedoch, dass das Parallelgewerbe mehr als einen Urlaubstag nicht gewähren konnte, fuhr ich erst am Freitagabend in die Hansestadt ein. Dabei war auch diesjahr der Donnerstag, der klassischerweise Eröffnungsreden, diversen Check-ins, ersten (Re-)Meets&Greets und der Showcase-Nacht des jeweiligen Partnerlandes vorbehalten ist, schon Produktionstag. Ich verpasse das Eröffnungskonzert von Markus Stockhausen ebenso wie das dänische Pianosextett Red Kite und drei niederländische Gruppierungen: Sun-Mi Hong Quintet, Guy Salamon Group und Rembrandt Frerichs Trio.

Auch am Freitag hat bereits Heidi Bayers „Virtual Leak“ gestreamt, bevor ich auch nur am Bahnhof bin, hat der Zug aus Hamburg doch Verspätung. Der – wie immer – vorzüglichen Pressebetreuung gelingt es jedoch, mich derart schnell mit Bändchen & Badge zu versorgen, dass ich, 17:50 Uhr am Hauptbahnhof angekommen, zu 17:55 Uhr der Livestream-Produktion des Kölner Quartetts NIAQUE beiwohnen kann. Um den tagesaktuellen Corona-Negativ-Test, ohne den niemand in die Messehallen gelangt, hatte ich mich schon am Vormittag in Berlin gekümmert.

Apropos Halle. Da wir es diesjahr mit einer Messe ohne Messe zu tun haben, wird nur eine Bühne gebraucht. Und weshalb nicht die größte und schönste nehmen, die die Messe Bremen zu bieten hat? Was sonst immer auf die Messehallen 7.1/7.2 und den Schlachthof verteilt ist, findet nun in der ÖVB-Arena statt. Das ist eine Halle für bis zu 14.000 Menschen. Wir sind zu zehnt: drei Journalisten, zwei Leute von der Messe, eine Kamerafrau, zwei Kameramänner, ein Licht- und ein Tontechniker. Plus das Quartett auf der Bühne.

Es ist spooky. Vor allem aber wahnsinnig spannend. Ich fühle mich an das Messejahr 2017 erinnert, wo mir das Presseteam den uneingeschränkten Zugang hinter die Kulissen von Festival und Messe ermöglichte, um meine Abschlussreportage „180 Minuten – Countdown zur Eröffnung der jazzahead!“ nebst Recherchedokumentation für das Deutsche Journalistenkolleg zu schreiben. Nicht weniger geisterhaft ist die Stadt selbst, der ich noch am selben Abend einen Besuch abstatte. Bremen hat, im Gegensatz zu Berlin, eine Ausgangssperre ab 21:00 Uhr verhängt, und damit die Pandemie zwar strenger, aber auch deutlich besser im Griff als die Hauptstadt. Der Marktplatz: verlassen. Wo sonst auch um diese Zeit noch Touristentrauben drängen, um sich vor den Stadtmusikanten ablichten zu lassen oder dem Esel einen Wunsch mitzugeben, herrscht gähnende Leere, und das, obgleich einzelne Klimaschützer auf dem Marktplatz protesthalber dauerkampieren. Ein paar Polizeiwannen, ein paar versprengte Aktivisten – und eine Handvoll jener, die berufsbedingt unterwegs sind. Auch wir jazzahead!-Arbeiter haben eine entsprechende Sondergenehmigung in der Tasche. Ich stehe mitten in der Stadt in der Fußgängerzone auf den Straßenbahngleisen. Kein Mensch, nirgends. Allein für dieses dystopische Erlebnis hat sich die Reise gelohnt.

Auch die Glocke, traditionsreicher Austragungsort des jährlichen jazzahead!-Galakonzertes: zu.

Wiese nicht die eine oder andere einsame Leuchtreklame auf sie hin, stolperte nicht der eine oder andere Musiker spätnächtlich zu den wenigen geöffneten Versorgungsquellen – es gäbe keinen Hinweis auf die Messe.

Obwohl am nächsten Tag der 1. Mai und somit Feiertag ist, stehen sechs Produktionen auf dem Plan. Nach dem tagesaktuellen Test in der Messe, der nach meinem Empfinden ebenfalls bedeutend strenger organisiert ist als in Berlin, erlebe ich – und entdecke für mich neu – das niederländische MAKA Kollektiv um die finnische Sängerin und Trompeterin Kirsi-Marja „Kiki“ Harju im Rahmen des European Jazz Meetings, denn seinen vertrauten Formaten ist das Festival weitestgehend treu geblieben. Es gibt neben dem erwähnten European Jazz Meeting die Canadian Concerts des Partnerlandes, die Overseas Night und die German Jazz Expo. Nicht alle davon werden in den Messehallen produziert. Heute stehen nach dem KAMA Kollektiv noch folgende Acts an: Tilo Weber Quartet „Four Fauns“, The True Harry Nulz, Nau Trio, Neferititi Quartett und Tobias Meinharts „Berlin People“. Ich konzentriere mich auf Weber und Meinhart, muss ich doch, wie so oft, extra die Hauptstadt verlassen, um den Berliner Schlagzeuger, Komponisten und Malletmuse-Labelgründer Weber sowie den Saxophonisten und Teilzeithauptstädter Meinhart zu treffen und sprechen. In Bremen ist endlich Muße dafür.

Tilo Weber hat mit seinem All-Star-Quartett Four Fauns gerade das Zweitwerk Faun Renaissance veröffentlicht, wobei sich der Titel nicht auf die Wiederkunft des Quartetts bezieht, sondern tatsächlich auf die Musik der Renaissance, die Weber hier eigenen Worten zufolge „durch den Wolf gedreht“ hat. Dabei hört man schon vom ersten Ton des Openers, der Gesualdo-Komposition „Se la mia morte brami“, dass es sich um das Album eines Schlagzeugers Handelt, denn auch, wenn Bass, Klarinette und die sich sehr ins Soundgefüge flechtende, überraschend WahWah-lose Trompete Richard Kochs über allerlei Tempiwechsel zart Kontra geben – vor allem klappert’s, rührt’s und scheppert’s hier. Erst mit der darauf folgenden Ockeghem-Komposition „O Rosa Bella“, deren Schlagwerk immer etwas enorm Rührtrommelartiges, Marschbegleitendes aufweist, wird dem Hörer bewusst, dass er es mit – bekannten und weniger bekannten – Reinterpretationen von Melodien der Renaissance zu tun hat, hätte das erste Stück doch durchaus auch als Eigenkomposition Webers durchgehen können. Schön: „Calextone, qui futdame d’Arouse“ mit seinem sekundenbruchteilkurzen Intro von gestrichenem Kontrabass, über dem Kochs – immer noch ungewohnte, weil ungedämpfte – Trompete die Fanfare gibt, bis eine gequälte Klarinette den Eindruck erweckt, hier wäre mindestens ein Synthesizer mit am Start, was aber nicht sein kann, weil die Fauns ein Akustikquartett sind. Und das hat offenkundigen Spaß an der Klangauslotung sowie der mal vollendet harmonisch parallelen, mal kunstvoll gegenläufigen Stimmführung.

Seite A der Platte endet mit dem „Canon Couperin“, von dem man annehmen könnte, dass er ins Repertoire der Alten Musik gehört, derweil er tatsächlich eine Neukomposition Webers ist, der hier das Metronomische von Barock und Renaissance, das hier vor allem vom (Walking?)Bass kommt, betont, das sich wiederum mit etwas Oh-So-Luftigem der Klarinette verbindet, zu der sich in perfekter Zweistimmigkeit die Trompete mal hinzugesellt, mal quietschend ausschert, derweil Weber besensanft begleitet, um bald schon wieder in Klappergeräuschexperimente abzudriften, sich insgesamt aber ungemein zurücknimmt, was das Ätherische der Komposition einmal mehr aufblühen lässt. Auf der digitalen Version gibt es jetzt noch „Mesomedes‘ Hymn to the Muse“, ein Jazz-Jazz-Stück – was das ist, steht hier unter der Rezension von Peter Schwebs Quintet – in Reinform, das es nicht aufs Vinyl geschafft hat.

Dessen Seite B startet mit einer weiteren Weber-Komposition: „Kyrie V“. Und als hätte er das Dystopische der leeren Stadt geahnt, ist sie ihm ein bisschen gespenstisch geraten. Da läuten Totenglocken. Nicht ohne Grund gibt es in jedem Requiem eine Kyrie. Ganz, ganz zart schließt sich eine weitere Eigenkomposition namens „Here Comes Everybody“ an, die eine Tür im Hörer zu öffnen versteht, sodass er sich ab 4:20 gern von der einmal mehr alarmistischen Fanfare zum Appell rufen lässt. „Ma fin est mon commencement“ besticht, um nicht zu sagen: erschreckt mit Störgeräuschigem, Electro-Clashigem, und wieder ist da diese Synthesizer-Anmutung, die zum munteren und dabei irgendwie auch pastoral-beschaulichen (Kreis-)Tanz ruft, der zum wilden Gypsie-Swing gerät, bis wir ganz zum Schluss dann auch die Koch’schen WahWahs sowie allerlei anderes Distortion hören. Mit der sehr getragenen, nahezu zeremoniellen „Kyrie“ aus Palestrinas „Missa Papae Marcelli“ entlässt das Album den Hörer … fast möchte ich schreiben: geheiligt. Doch wirkt sie nicht nur erhebend nach, sondern vor allem auch besänftigend, beruhigend, Ja: Ruhe gebend. Geistesruhe. Seelenruhe. Schön, das.

Ich spreche mit Tilo Weber über das Album, klar, aber auch darüber, dass das Tiefe in der Kunst nicht durch Leiden entsteht, sondern durch Hingabe, sowie über die Situation des Jazz im Lockdown. Natürlich gehört auch die Verortung des Gefühls, in die leere Riesenhalle hineinzuspielen, dazu. Zu diesem befrage ich auch den mittlerweile seit dreizehn Jahren in New York lebenden, seine Sommer aber immer in Berlin verbringenden Saxophonisten Tobias Meinhart. Der hatte 2019 mit einer Handvoll Berliner Musiker das Album „Berlin People“ aufgenommen, die Releasetour und ein paar weitere Konzerte gespielt, bevor er vom Lockdown ereilt wurde. Unter dem Motto „ECM trifft Blue Note“ unterhalten wir uns über die europäische und die amerikanische Jazz-Tradition, über Meinharts musikalische Familiengeschichte und das erhoffte baldige Ende der Pandemie.

Das sehnen alle Musiker in Bremen herbei. Manche fragen ängstlich, ob man ihnen angehört hätte, dass sie so lange nicht mehr aufgetreten wären – aber insgesamt überwiegt die Freude darüber, endlich wieder spielen zu dürfen, wenn auch vor leeren Hallen. Vor den Bildschirmen indessen haben neunhundertzwei Teilnehmer aus fünfzig Nationen sowie neunzig Aussteller aus einundvierzig Ländern an der digitalen Fachmesse teilgenommen, zu der auch die Live-Streams der Showcases gehören. Einige Wochen später wird man sie auch einem Nicht-Fachpublikum zugänglich machen. Wie es war, sich auf einer Messe, die von der persönlichen Begegnung lebt, rein digital zu tummeln, müssen indessen die Menschen vor den Bildschirmen beurteilen. Die Live-Produktion ließ wenig Zeit, mich in die bereit gestellte Plattform einzuloggen. Allerdings steht auch diese den Registrierten noch bis Ende Juli offen, sodass das Weiterspinnen des Jazznetzes auch unabhängig von den tatsächlichen Messetagen möglich ist.

5. Mai 2019

Dorthin, wo Jazz ist. Nachlese zur Jazzahead 2019

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Letzen Sonntag schloss die vierzehnte Jazzahead in Bremen ihre Pforten.
In den Tagen danach fühlten sich die Besucher des weltweit größten Jazz-Branchentreffs körperlich wie emotional ausgelaugt, nicht wenige sind krank. Die Postings von heilender Hühnersuppe und Ingwertee auf den einschlägigen Social-Media-Profilen jedenfalls steigen überproportional an, die wohl meistgestellte Frage in den Chats ist: „Hast du dich schon wieder regeneriert?“

Weshalb also setzt man sich diesen vier Tagen im Ausnahmezustand, der sich anfühlt als vollzöge er sich in einer Parallelwelt jenseits des normalen Zeit-Raum-Kontinuums, jedes Jahr aufs Neue aus, noch dazu freiwillig? Der norwegische Schriftsteller Lars Saabye Christensen, Keynotespeaker der diesjährigen Opening Ceremony, bringt es auf den Punkt: „Jazz is a different place and that is where we have to go.“ Wir müssen es tun. Wir können nicht anders.

Norwegian Lounge

Neben Saabye Christensen bestreiten zwei weitere Künstler des diesjährigen Partnerlandes Norwegen – das schon auf der Berlinale 2019 zum Schwerpunktland auserkoren war – die Eröffnungszeremonie: Sängerin Karin Krog und der sie an Sopran- wie Baritonsaxophon begleitende John Surman. Mit seinem Kurzauftritt gibt das Duo gleichzeitig einen Ausblick auf die traditionell am Donnerstagabend anstehende Konzertnacht des Partnerlandes: Acht sowohl stilistisch wie qualitativ höchst heterogene Acts bestreiten die Norwegian Night, darunter der Jazzsaxophonist und Ziegenhornbläser Karl Seglem, dessen balsamische Klänge in Zeiten überreizten Gemüts zwar mit schönster Regelmäßigkeit durch meine Boxen kriechen, den ich bislang jedoch noch nie live erlebt habe. Zeit für mein erstes Konzert der Jazzahead, das im benachbarten Schlachthof stattfindet, dessen blutige Vergangenheit glücklicherweise nicht mehr zu erahnen ist. Mit siebenköpfigem Ensemble – darunter gleich zwei Hardangerfiedeln, die ob ihres dank einer acht Wirbel fassenden Schnecke mit einem extrem kurzen Hals aufwarten und immer ein bisschen klingen wie die bucklige Verwandtschaft der Bratsche – beschwört Seglem die der norwegischen Folklore inhärenten Naturtöne vor einem aufmerksam lauschenden Schlachthofpublikum herauf.

Wie immer ist die Zeit viel zu kurz, den Klängen angemessen nachzuspüren – bis weit nach Mitternacht geben sich die verschiebenen Formationen die Klinke, pardon: das Mikro in die Hand. Nicht zuletzt sorgte der harmlos als Partner Country Reception benamste Empfang für einen zwar angenehmen, aber auch nicht zwingend für seine wachhaltenden Eigenschaften verrufenen Alkoholpegel. Gut, dass das European Jazz Meeting am Folgetag erst um vierzehn Uhr beginnt, was nicht nur dafür sorgt, dass man ausschlafen, sondern auch den ersten Meet&Greet-Marathon des Tages absolvieren oder sich das umfangreiche, auch als Professional Program bekannte Konferenzprogramm mit Highlights wie „A Wealth of Music Content, But What’s It Worth?“ zu Gemüte führen kann. In meinem Falle schaue ich nicht nur bei der Müsteraner Enklave der Jazzthetik-Redaktion vorbei, die ich ohne Jazzahead wohl nie treffen würde, sondern richte ich mich auch im sogenannten „Press Office“ häuslich ein, wo ich im Halbstundentakt jene Musiker treffe, mit denen ich mich im Vorfeld verabredet habe. Die Pressereferentin sieht sich das Bäumchen-wechsel-dich-Spiel eine Zeitlang an, bevor sie nur halb im Scherz bemerkt: „Sie lassen hier aber auch einfach kommen, oder?“. Aber warum auch nicht, wo das Press Office doch nicht nur Lebensnotwendigkeiten wie schwarzen Kaffee und Laserdrucker bietet, sondern auch einen ruhigen Platz jenseits der wogenden Menschenmassen und – dieses Jahr neu – eine wechselnde, warme, überaus schmackhafte Tagessuppe mit rauen Mengen an Brot und Butter. Nicht zuletzt die eingeladenen Musiker, jung und hungrig, wissen diese Annehmlichkeiten zu schätzen.

Hannah Köpf

Ich treffe Hannah Köpf, die ich in der aktuellen Ausgabe des Jazzthetik Magazins portraitiert habe; außerdem Gadi Stern und Matan Assayag vom israelischen Jazzrocktrio Shalosh, die mir für die kommende Ausgabe Rede und Antwort stehen. Zwischendurch reicht die Zeit für Gespäche unter Kollegen: Es gibt ein Wiedersehen mit Klaus von Seckendorff und ein erstes Kennenlernen mit einem weiteren großen Mann des Jazzjournalismus, Hans Hielscher. Obgleich er wie ich zurzeit eine Kolumne in der Jazzthetik bestückt, sind wir uns bislang noch nie über den Weg gelaufen, stoßen dafür aber gleich auf interessante biografische Gemeinsamkeiten wie etwa die Straße, in der ich jetzt und Hielscher vor langer Zeit wohnte. Endlich lerne ich auch den Hamburger Jazzschreiber Jan Paersch kennen, mit dem ich zwar das Programm des diesjährigen Elbjazz-Festivals betextet, den ich aber ebenfalls noch nie von Angresicht zu Angesicht gesehen habe. Jazzahead machts möglich. Es ist eben nicht nur ein Branchen-, sondern auch so etwas wie ein Familientreffen, und spätestens ab dem zweiten Besuch der Messe gehört man wie selbstverständlich dazu.

Der grüne Pfeil, Symbol der Jazzahead, hier als Deckenmobile in der BoConcept Lounge

Neben dem European Jazz Meeting, das so unterschiedliche Acts wie die Flat Earth Society, das Adam Bałdych Quartet oder MDCIII auffährt, steht am Freitag auch das Galakonzert an, welches jeweils zwei Acts des Partnerlandes auf die Bühne des im Art-Déco-Stil erbauten Konzerthauses Die Glocke bringt. Dieses Jahr ist die Wahl auf das Quintett des Trompeters Mathias Eick gefallen, das mit Håkon Aase einen wunderbaren Geiger an Bord hat, im Allgemeinen aber einen allzu elegischen Klang zelebriert, der die Grenze zur Langeweile mehr als einmal von der falschen Seite touchiert und nur noch vom zweiten Teil des Galakonzerts mit Trail of Souls feat. Solveig Slettahjell und Knut Reiersrud getoppt wird. Man kann sich des Eindrucks nicht gänzlich erwehren, dass hier jene Spielart des nordisch-mystischen Jazz zum Besten gegeben wird, die sich das deutsche Publikum am liebsten vorstellt: Hach, diese Weite! Oh, diese Wälder! Und sieh nur, die niedlichen Trolle!

Es ist verständlich, dass sich das Galakonzert vor allem auch ans lokale Bildungsbürgertum wendet und die – diesmal übrigens nicht vollständig ausverkaufte – Glocke ihre Ränge füllen muss. In Anbetracht der Tatsache, dass ich hier aber auch schon dank Künstlern wie Avishai Cohen 2013 bei meiner allerersten Jazzahead oder 2016 Nik Bärtsch und Hildegard lernt fliegen rauschende Abende erlebt habe, muss die Frage nach einer zukünftigen Perspektive des Galakonzerts jenseits der Komfortzone, sprich: einem mutigeren Booking erlaubt sein.

Ichiro Onoe

Der Samstag dagegen verspricht, spannend zu werden. Ich treffe den als „Japan’s answer to Paul Motian“ geltenden, in Paris lebenden Schlagzeuger Ichiro Onoe, der mit seinem Quartett traditionelle japanische Musik und Modern Jazz verbindet, indem er zwei klassische japanische Instrumente – die aus siebzehn kurzen Bambuspfeifen bestehende Mundorgel Shō und die Doppelrohrblattflöte Hichiriki – durch Tenorsaxophon und Klavier ersetzt; den swinginspirierten israelischen Pianisten Arik Strauss, der mit seinem Umzug nach Deutschland, dem Land seiner Vorväter, einen Lebenskreis geschlossen und darüber das Album „Closing The Circle“ gemacht hat; den Kölner Schlagzeuger Jo Beyer, dessen brandneues, noch labelloses Album „Party“ mit sperrig-schönen Songtiteln wie „Zwischen Bier in Poll und 37 Grad im Schatten“ oder „Halloween ist doof“ aufwartet; und den Berliner Komponisten und Arrangeur Ruben Giannotti, der gerade mit seinem im Spannungsfeld zwischen NeoSoul, Elektronika und retroeskem Bigbandkrimisoundtrack angesiedelten Large-Ensemble-Projekt aus dem Studio gekommen ist. Wie gut, dass das Press-Office – zweite Neuerung in diesem Jahr – statt um 18:00 erst um 19:30 Uhr schließt!

Komponist Ruben Giannotti spielt am Stand von Chess’n’Jazz um Bier

Und dann widme ich mich ganz der Musik, denn schließlich ist doch sie der hauptsächliche Grund, hier zu sein. Wo sonst lässt sich‘s innerhalb von nur dreieinhalb Tagen aus gut einhundert Konzerten auswählen? Auswahl ist das Stichwort der Stunde, denn Konzerte laufen zum einen parallel, zum anderen scheint der menschliche Geist eine begrenzte Kapazität für die Aufnahme von Musik zu haben. Ist diese erreicht, geht gar nichts mehr. Jazzahead heißt eben auch: Too much Jazz in my Head. Erst einmal aber höre ich im Rahmen der German Jazz Expo Simin Tanders Hochmittelalter- und Renaissance-Adaptionen, die kongenial von Jörg Brinkmann, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob er mir nicht noch besser gefallen soll als Tander selbst, am Cello begleitet werden: Eine höchst sinnliche Vokalistin, die fühlt, was sie singt – und dieses Gefühl weiterzugeben weiß. Das komplette Kontrastprogramm liefern Botticelli Baby, die den Schlachthof mit wildem Balkan-Gipsy-Swing-Funkabilly und Punkattitüde aufmischen. Was soll ich sagen, ich mag dieses nordrhein-westfälische Septett, dessen Sänger (und gleichzeitig Kontrabassist) Marlon Bösherz sich nicht zu entscheiden vermag, ob er nun James Brown in Blue oder lakonischer Shouter sein will. Toll!

Dann geht es auch schon weiter mit der berühmt-berüchtigten Clubnacht, deren Auftakt niemand Geringreres als Beady Belle auf dem Domshof macht. Umsonst und draußen – eine weitere Neuerung des um die Messe herumgestrickten Festivalprogramms vor historischer Kulisse. Wieder toll! Ganz zu Ende sehen kann ich den Auftritt der norwegischen NuJazzer allerdings nicht, wartet doch die Jazzahead-Straßenbahn schon, um die Teilnehmer der VIP Partybahn Tour – einer Art geführten Clubnacht – für den Auftritt von Johanna Borchert in der Kulturkirche St. Stephani einzusammeln. Untermalt vom finnischen Elektroniker Mika Forsling entspinnt diese nicht nur allerlei avantgardistisches Geräusch am präparierten Flügel, sondern auch zauberhafte Lyrics zwischen dringlicher Spoken Word-Performance und zerbrechlicher Dubstep-Ballade.

Hier endet für mich die Führung, denn ich muss dringend ein Taxi in den Bremer Norden erwischen, um Susanna Wallumrød im fernab der Messe gelegenen Kränholm zu hören – immerhin hat sie als Susanna & The Brotherhood of Our Lady mit dem vertonten Hieronymos-Bosch-Gemäldezyklus „Garden of Earthly Delights“ jetzt schon eines meiner Lieblingsalben des Jahres gemacht. Wie bei allen meinen bisherigen Fahrten in den Bremer Norden, wo ich etwa letztes Jahr Noam Vazana im KITO ihre sephardischen Lullabys singen hörte, werde ich auch diesmal nicht enttäuscht. Wallumrød spielt in der intimen Location nicht nur die vor Todsünden triefenden Bosch-Stücke, sondern auch ihre ganz persönlichen Interpretationen von auf der Nachtseite der Musik beheimateten Lieblingssongs wie Leonard Cohens „Who By The Fire“ oder Joy Divisions „Love Will Tear Us Apart“. Ein stilles, ein schönes Messehighlight, nicht trotz, sondern gerade auch wegen des weiten Weges, der zum Nachklingenlassen geeigneter nicht sein könnte. Die Overseas Night, die in Konkurrenz zur Clubnacht noch bis 1:40 Uhr läuft, lasse ich leichten Herzens links liegen und falle beseelt in mein Hotelbett. Jazzahead macht eben nicht nur fertig, sondern auch in höchstem Maße glücklich.

Die Bildqualität des folgenden Videos bitte ich zu entschuldigen. Es wäre aber ein Fehler, das Stück deshalb nicht anzuhören:

Der Sonntag, sonst lediglich für Ausstellerfrühstück, hastiges Abbauen und letzte Verabschiedungen reserviert, bietet eine weitere Neuerung: Gleich nach dem Business Lunch im Schlachthof, bei dem es für mich ein Wiedersehen mit dem letztjährigen Geheimtipp Noam Vazana gibt, steht für das Abschiedskonzert Nordic At Noon das fünfzehnköpfige, mit doppelter Rhythmusgruppe und Elektronik besetzte Paar-Nilssen-Love Ensebmle auf dem Programm, dessen ebenso mann- wie lautstarke Freejazzklänge die Besucher nach drei Nächten des Schlafmangels mitten in die Magengrube treffen, nicht jedoch ohne den einen oder anderen Moment voll stiller Schönheit im Auge des Sturms zu bieten. Auf die Verkündung des Partnerlandes beim traditionellen Goodbye Breakfast hingegen warten wir vergeblich: Da die Jazzahead im kommenden Jahr ihr fünfzehnjähriges Bestehen feiert, hat man sich zum Jubiläum etwas Besonderes einfallen lassen, das erst in den nächsten Tagen enthüllt wird.

Fest hingegen steht schon jetzt, dass die Jazzahead 2019 mit 3.408 (2018: 3.282) Fachteilnehmern aus 64 Nationen und rund 18.000 Besuchern (2018: 17.362) erneut gewachsen ist. Dabei gibt es die Jazzahead genauso wenig wie den Jazz. Jeder erlebt seine eigene Messe. Dies war meine. Es gibt noch 3.407 andere.

5. März 2014

Jazzahead! 2014: Dänischer Jazz, wie er ist

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Wenn es einen Grund gibt, den Klangblog kurzzeitig aus seinem Dornröschenschlaf zu wecken, dann ist das fraglos die Jazzahead!, Fachmusikmesse und alljährliches Familientreffen der Branche in Bremen. Da ich dieses Jahr sabbaticalbedingt nicht dabei sein werde, folgte ich kompensatorisch der Einladung der Königlich Dänischen Botschaft ins Felleshus der Nordischen Botschaften Berlin, um mir bei einem Presse-Event einen kleinen Vorgeschmack auf die diesjährige Messe und besonders auf die Jazzszene Dänemarks, das als erstes nordisches Partnerland der Jazzahead! auftritt, abzuholen.

Das Verhältnis von vier Frauen zu fünf Männern ist für Jazzverhältnisse nahezu revolutionär; alldieweil komme ich nicht umhin festzustellen, dass ich der einzige Schreiberling unter den Anwesenden bin. Ansonsten tummeln sich vor allem Booker, Konzertveranstalter und Co. zwischen den Kulturattachés. Eine große Freude ist es, Sybille Kornitschky von der Jazzahead! wiederzutreffen. Nach einem kurzen Grußwort des dänischen Botschafters Per Poulsen-Hansen präsentiert sie uns stolz das kleine Jazzahead-Büchlein, das dieses Jahr die verschiedenen Programmhefte und -flyer ersetzt und alle Informationen kompakt bündelt. In der Tat ist es so schön geworden, dass ich beim Blättern mit jeder aufgeschlagenen Seite aufs Neue bedaure, Ende April nicht in Bremen dabeisein zu können.

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Vor allem auch, da Dänemark als viertes Partnerland auf dieser nunmehr neunten Jazzahead! mit so einigem Hörenswerten aufwartet – aber dazu später mehr. Die Aufteilung in die Nacht des Partnerlandes, die Overseas Night, die German Jazz Expo und das European Jazz Meeting folgt bekannten Mustern – und auch bekannte Gesichter treffen wir wieder, Beispielsweise Bartmes oder Slixs mit Katharina Debus, die wir als Stimme von FrauContraBass kennen, bei der German Jazz Expo, Charnett Moffett bei der Overseas Night, Nils Wogram’s Root 70 & Strings beim European Jazz Meeting, und, oh ja!, da war ja noch die Skoda Clubnight, die diesjahr mit Acts wie Lisa Bassenge oder dem Vazana Trio aufwartet, wobei ich mich über Letzteres ganz besonders freue, da die israelische Sängerin, Pianistin und Posaunistin Noam Vazana bei den Jamsessions der letztjährigen Messe kennen- und schätzen gelernt habe.

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In Bremen geht das als Partnerlandprogramm bezeichnete Kulturfestival allerdings schon früher los, genau genommen am 13. März beim großen Eröffnungsabend mit dem Danish String Quartet, das, folgt man Kornitschky, „so gar kein Jazz ist“. Das Kulturfestival, das sich bis weit in den Mai ausdehnt, gehe eben weit über Jazz hinaus – und auch weit über Musik. Da gibt es Theaterveranstaltungen wie Der perfekte (dänische) Abend, dänische Krimi-Kurzgeschichten, Märchen von H.C. Andersen und mehr. Purer Zufall hingegen sei, dass der diesjährige Preisträger des Jazzahead! Skoda Awards, der Fotograf Jan Persson, auch Däne ist. Dessen Fotografien von Miles Davis & Co. sind von Ende April bis Anfang Juni in den Artdocks zu bewundern. Eine weitere Überraschung ist das Line-up des diesjährigen Galakonzerts, das traditionellerweise in der Glocke stattfindet. Wo mich voriges Jahr Avishai Cohen nahezu weggeblasen hat, gibt sich diesmal das Aarhus Jazz Orchestra mit Gitte Haenning ein Stelldichein, die man hierzulande ja nun auch nicht unbedingt als Jazzsängerin kennt. Was sie aber recht eigentlich ist.

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Neu ist 2014 neben der Einführung eines sogenannten Farewell-Konzerts, dass man auf der Jazzahead! die zunehmende Nachfrage aus den USA wohlwollend zur Kenntnis nimmt und ihr im Rahmen der Overseas-Night entsprechenden Raum gibt. Die bislang sechs Konzerte werden um zwei erweitert. Auf meine besorgte Frage hin gab man aber deutlich zu verstehen, nicht zur internationalen Plattform werden zu wollen und dem Hauptfokus auf Europa treu zu bleiben. Dies beweist schon die Wahl des Partnerlandes, wobei der Europabegriff mit den bisherigen Partnerländern Türkei, Spanien und Israel hier eher politisch denn geografisch und auch sonst im weitesten möglichen Sinne gefasst wird. Vom diesjährigen Partnerland Dänemark berichtet Lars Winther, Sekretariatsleiter von JazzDenmark, der auch den Jazzbegriff im weitesten Sinne verstanden wissen möchte. Schließlich sei es schwierig, die Frage, was zeitgenössischer dänischer Jazz sei, zu beantworten. Historisch sei Dänemark zwar immer oder immer wieder Heimat verschiedener Jazzgrößen gewesen, doch schreite die neue Generation, wenn auch nicht völlig losgelöst von diesen Traditionen, so doch traditionsbefreiter voran.

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Natürlich fänden sich nach wie vor durch die musikalische Historie bedingte skandinavische und amerikanische Einflüsse, und, so Winther weiter, „it’s always hard to describe Danish or Nordish Jazz“, denn allzuschnell rutscht man beim Versuch der Beschreibung in den – durchaus verkaufsfördernden – Klischeekosmos rund um Begriffe wie Distanziertheit, Düsternis, Kühle, Fragilität oder Melancholie ab. So finden sich unter den acht dänischen Formationen mit dem Trio des Pianisten Søren Bebbe auch genau jene Soundlandschaften, die man sich landläufig unter „nordischem“ Jazz vorstellt. Aber da sind eben auch noch groovebetonte Projekte wie die Band Phronesis um den Bassisten Jasper Høiby oder das 26-köpfige Mammut-Orchester Blood Sweat Drum + Bass, dassein Publikum mit der Gewalt von vierzehn Bläsern von den Stühlen reißt. Das sich mit Haut und Seele dem Blues verschrieben habende Snorre Kirk Quintet. Die ebenfalls fünfköpfigen Girls in Airports, die auf der Suche nach Inspiration auch schon mal durch die Klangkulturen Afrikas und Asiens marodieren.

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Und natürlich Ibrahim Electric, die mit E-Gitarre, Hammondorgel und Schlagzeug das weite Feld zwischen Psychedelic Soul, Afrobeat und Punk beackern – eben „the whole range of Danish Jazz“, den man hier so versucht zu repräsentieren, wie er ist. Und nicht, wie andere ihn haben wollen. Zu Ibrahim Electric, die mit einem Kurzauftritt zeigen, wofür wir hier so mühsam nach Worten ringen, fällt Winther dann noch ein: „In the old days, Jazz was something you could dance to. Ibrahim Electric play something you can even stage-dive to!“ So toll – und vor allem laut – das alles auch ist: Zu meinem Bedauern fehlen hier Künstler wie Kira, die meiner Meinung nach durchaus das Galakonzert hätte bestreiten können, oder Lasse Matthiessen, den ich mir auf der Clubnacht gut hätte vorstellen können, was Fragen nach der Repräsentabilität solcher Länderschauen ebenso aufwirft wie jene nach persönlichem Geschmack.

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Dafür haben die dänischen Jazzexporteuren gezeigt, dass sie Traditionen respektieren. Anstatt der üblichen CD, die einen Querschnitt der aktuellen Jazzszene birgt, setzt man hier auf 180-Gramm-Vinyl in handnummerierter, limitierter Auflage. Mit Nummer 5 von 300 werde ich mich trösten, während Sie für mich bitte die Messe besuchen. Weitere Informationen gibt es unter www.jazzahead.de

5. September 2013

Berlin Music Week – auf der Suche nach der verlorenen Nestwärme oder: Wer Dinge bewegt, ist woanders

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: — VSz | Klangverführer @ 16:12

Das also ist die Berlin Music Week, wobei „Week“ mit einem Zeitfenster vom 4. bis 8. September wohl deutlich zu hoch gegriffen scheint. Berlin und Music dagegen passt, auch wenn ich so ziemlich sicher bin, dass es hier nicht darum geht, die vitale Musikszene der Hauptstadt abzubilden. Aber der Reihe nach.

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Die gute Nachricht: Es ist nicht ganz so schlimm, wie das letztjährige Desaster und die konfuse Vorstellung des diesjährigen Konzepts befürchten ließen. Die Berlin Music Week ist auf dem richtigen Weg. Der indessen ist, und das ist die schlechte Nachricht, noch weit. Sehr weit.

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Ja, das hier ist wirklich alles, womit die BMW an Ausstellern aufwartet

Ob es wirklich eine gute Idee ist, den Schwerpunkt auf die unter der Überschrift Word! zusammengefassten Fachvorträge/Podiumsdiskussionen sowie individuell zu vereinbarende Matchmaking-Sessions zu legen, sei dahingestellt. Darunter leidet der eigentliche Markt (immerhin Kernstück einer jeden Messe), der sich dann auch einigermaßen übersichtlich präsentiert, irgendwo im ersten Stock des Postbahnhofes. Wenn man ihn denn findet.

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Machen in Vinyl: disc partner

Da gibt es zum einen die üblichen Verdächtigen wie Vinyl- und Package-Produzenten. Die machen zweifelsfrei einen guten Job. Wer sich allerdings auf der Messe gerade nach einem Hersteller für seine nächste Verpackung umguckt … Ich weiß nicht. Mehr Sinn macht da schon der recht neue Ansatz einzelner Künstler, die als Marketingsmensch in eigener Sache einen Stand betreiben, wie etwa die argentinische Pianistin Cecilia Pillado, die ihr neues Album My Piazolla an den Mann bzw. die Frau bringen möchte – allerdings mit Flyern, ohne CDs. Das ist nicht nur für potenzielle Booker schwierig, sondern vor allem auch für einsam durch die Gänge streifende Musikkritiker. Andere Labels haben wenigstens Listening-Stationen aufgebaut.

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Cecilia Pillado

Konsequent verfolgt das Konzept der Verweigerung auch ein Berliner Label- und Verlagsbetreiber, der wie immer, wenn ich ihn treffe, mit zuverlässig schlechter Laune, Maulfaulheit und Desinteresse, als zwänge ihn jemand zum Hiersein, glänzt und lieber telefoniert, anstatt mit einem potenziellen Multiplikator seiner Produkte zu reden bzw. nach wenigen Augenblicken das Gespräch durch demonstratives Abwenden als beendet ansieht. Das ist umso bedauernswerter, als dass seine Produkte wirklich mit Herzblut gemacht und einfach schön sind. Doch leider können die nicht – und damit auch nicht für sich – sprechen. Schade, dann eben nicht.

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Im Vergleich zum letzten Jahr überraschend gut besucht hingegen sind die Panels. Klar geht es auch wieder um Clouds und Streaming und E-Ticketing, aber auch verdammt spannende Themen, die nicht unbedingt alltäglich sind, haben ihren Weg auf den Konferenzplan gefunden. Auch derjenige, der selbstreferenziell im eigenen Saft schmoren möchte, wird da fündig. Ich beispielsweise mit „Daft Punk, Jai Paul and the Death of Music Journalism“.

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Muss damit arbeiten, was er hat: Pressecounter

Irritierend wiederum ist die Pressearbeit, denn es gibt keine Pressemappen. Zumindest der Mensch am Pressebetreuungscounter hatte keine und von deren Existenz auch nicht gehört. Ganz schlecht organisiert ist die Verpflegung: Im Garten eine halbe Stunde für eine Folienkartoffel – die einzige Alternative für Vegetarier am Grill – anstehen? Kalte Getränke nicht im Garten, nur versteckt im ersten Stock? Da lobt man sich den feuerroten Mini-Catering-Bus, der vor der Messe Station gemacht hat – leider aber die Auflage bekam, keine kalten Getränke auszugeben. Gewollt hätte die wahnsinnig nette Busbetreiberin schon, gedurft hat sie nicht. Lediglich Kaffee und Kuchen gibt es hier. Angesichts des Verpflegungsnotstandes verwundert es wohl kaum, dass das wirkliche Matchmaking dann auch außerhalb des Postbahnhofsgeländes stattfindet. Eines meiner nettesten Meet&Greet-Gespräche hatte ich weitab vom Schuss am Hackeschen Markt geführt – und nicht wenige Kollegen folgen diesem Beispiel.

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Lebensretter Koffein! Aber bei knapp dreißig Grad hätte man sich auch Kaltgetränke gewünscht

Fazit: Zwar habe ich den Eindruck, dass man sich diesjahr nicht mehr so sehr selbst bedauert wie noch die Jahre zuvor, dennoch scheint die Berlin Music Week auch 2013 vor allem die Schwarzmaler der Branche anzuziehen, die ein bisschen Seelentrost bei ihresgleichen – ergo: die verlorene Nestwärme – suchen. Oder, wie einer meiner Meet&Greet-Kontakte so fein formulierte: „Die Berlin Music Week ist ein Hort für jene, die jammern. Wer wirklich etwas auf die Beine stellt, den findet man dort nicht.“

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Berlin, da geht noch was!

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Und hier noch ein paar Impressionen:

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20. Mai 2013

Und noch einmal Jazzahead!

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 13:22

Teaser

Aller guten Dinge sind drei, weiß der Volksmund. Tja, lieber Leser, da müssen Sie jetzt durch. Nachdem Sie schon eifrig Nachlese bezüglich der ersten beiden Tage sowie Tag drei der Jazzahead! im Klangblog betrieben haben, ist gestern auch der offizielle Messebericht für fairaudio.de online gegangen. Das heißt, etwas mehr Zahlen, Daten, Fakten, etwas weniger Meinung – und viele wunderschöne Fotos, wie zum Beispiel das hier von Tobias Preisig.

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Den vollständigen Bericht unter dem Motto „Bye bye, Berlin – hallo Bremen!“ finden Sie hier. Viel Freude damit – und noch einen schönen Pfingstmontag!

6. Mai 2013

Unterwegs im Dienst der Klangverführung. Tag 3 der Jazzahead! 2013

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 20:30

Dachte ich nach dem Avishai-Cohen-Konzert am 2. Abend der Jazzahead! noch, ich sei randvoll mit Musik und keines einzigen Tons mehr aufnahmefähig, wusste ich noch nicht, was am Dritttag auf mich zukommt, der allein aus logistischer Sicht eine Herausforderung werden sollte. Vorab soviel: Bremer Taxifahrern scheint nicht an ihrem Verdienst gelegen zu sein. Einmal war die Strecke zu lang („Haben Sie etwa den zug verpasst? Der fährt da doch auch!“), ein anderes Mal zu kurz („Wollen Sie da wirklich hin? Das kann man doch laufen!“). Wer allerdings bepackt mit seinem 10-Kilo-Technikrucksack und wirrem Blick auf die Uhr durch die Gegend rennt, stellt diese Fragen gar nicht erst. Schlussendlich haben mich auch alle gefahren und waren sehr nett – wie überhaupt die meisten Bremer.

Dazu später mehr. Erst einmal steht ein spätes Frühstück im Hotel an, wo ich ein Pärchen treffe, das die Augen noch voller Glanz vom gestrigen Cohen-Konzert hat. Bin ich also nicht die einzige, in der die Kraft des Mitbegründers von Chick Coreas Origin-Ensemble noch nachhallen. Mitunter, wenn man sich in seiner Begeisterung zu verlieren droht, tut so ein kleiner Reality-Check ja ganz gut. Aus diesem Grunde kann ich auch jetzt noch aus vollem herzen ausrufen: Kaufen Sie die CDs von Avishai Cohen, und wenn er auch nur im entfernten Umkreis Ihres Aufenthaltsortes spielt, lassen Sie alles stehen und liegen und gehen Sie hin. Hunde, Kinder und Ehemänner können sich auch einen Abend lang mal selbst versorgen.


Und weiter geht’s!

Tag drei steht ganz im Zeichen des European Jazz Meeting. Und wie es schon beim Tell Aviver Gitarristen Yotam der Fall war, hat mir die offizielle Jazzahead!-Compilation solchen Appetit auf das finnische Kokko Quartet gemacht, dass ich extra meinen Terminplan umgeschmissen habe, um sie live zu hören. Und bin erst einmal überrascht. Eigentlich sollte es ja kaum noch eine Erwähnung wert sein, aber das Kokko Quartet ist zu fünfzig Prozent weiblich. Dass das im Jazz noch lange nicht der Normalfall ist, machen – positiv gemeinte – Bemerkungen wie „Die klaingen aber gar nicht wie Frauen“ deutlich. Und tatsächlich, Platten, die in letzter Zeit vor meinem Ohr eine ähnliche Klanglandschaft haben vorbeiziehen lassen – ich denke da an das Peter Schwebs Quintet oder an Triosence -, sind ausschließlich männlich besetzt. Jazz ist eben doch immer noch eine Spielwiese für die großen Jungs – Frauen kommen hier, wenn überhaupt, größtenteils als Sängerinnen vor. Unsere nordischen Zeitgenossen sind auch hier mal wieder einen Schritt weiter.

Apropos nordisch: Zwar werden Anhänger des Nordic Jazz ihre helle Freude am Kokko Quintet haben, doch kennt dessen Spielfreude keine geografischen Grenzen: Arabische und indische Einflüsse werden von Kaisa Siirala am Saxophon und der nordindischen Bansuri, Johanna Pitkänen am Klavier und Keyboard, Timo Tuppurainen am Bass und Risto Takala am Schlagzeug ebenso selbstverständlich verarbeitet wie der ein oder andere kubanische Rhythmus. Gepaart mit einer herrlichen Unterkühltheit und viel Luft, viel Raum, ja, ich mag sagen: viel Atem, ergibt das eine berückende Melange, wie bei Yasmin, in das ich mich schon auf der Jazzahead!-Compilation verliebt habe:

Zum Nachklingen lassen ist wenig Zeit, denn heute feiert das von Singer/Songwriterin Jana Herzen gegründete, in Harlem ansässige Jazz-/World-Label Motéma Music seinen zehnten Geburtstag. Da lassen es sich natürlich auch die Motéma-Künstler nicht nehmen, mit einem Ständchen zu gratulieren. Mich interessiert hier besonders der Bassist Charnett Moffett – nicht nur, weil er schon als Teenager bei Wynton Marsalis und Branford Marsalis spielte, sondern vielmehr, weil er eine Solo-Platte herausgebracht hat, auf der Bass pur und sonst nichts zu hören ist. Kann das wirklich funktionieren und interessiert das jenseits von Bassisten und anderen Spezialisten ein größeres Publikum? Jana Herzen bemüht bei der Vorstellung ihres Künstlers das schöne Wortspiel „Solo bass works“. Jetzt ist es an Ihnen, sich zu überzeugen! Ob er nun mit Fragile Sting covert …

… (was Sinn macht, denn Sting ist schließlich, auch wenn ihn heute nur noch die wenigsten als solchen wahrnehmen, von Haus aus Bassist – und zwar ein ziemlich guter!), ein eigenes, dem Jazz-Bassisten Paul Chambers gewidmetes Stück zum besten gibt …

… oder ein Thelonius-Monk-Medley hören lässt:

Ja, das war wirklich Round Midnight (außerdem: Well, You Needn’t und Rhythm-A-Ning)! Zu hören gibt es all das auch auf Charnett Moffetts aktuellem Album The Bridge – darüber lesen können werden Sie bald auch noch in Victoriah’s Music auf fairaudio.de. Ich hatte Sie ja gewarnt. Mein Besuch bei der diesjährigen Jazzahead! ist zu einer Art Bassisten-Special geworden. Sollten Sie meine Liebe zum tiefergelegten Frequenzbereich – völlig unverständlicherweise – jedoch nicht teilen, begleiten Sie mich einfach weiter zum nächsten Termin.

Der ist garantiert Bass-frei und findet etwas außerhalb statt – Sie ahnen es, die Taxifahrt, über die der Fahrer sich gewundert hat. Die vierzig Euro sind es aber wert, denn im wunderbar atmosphärischen KITO spielt jetzt die kanadische Folksängerin Chloé Charles, deren intelligente Prosa, irgendwo zwischen Beatnik und Nachtmahr, und deren zwischen Zärtlichkeit und Gewalttätigkeit changierenden Ausdruck ich ebenfalls auf der Jazzahead!-Compilation für mich entdeckte, im Rahmen der Clubnight ein Akustikset. Charles hätte ich zwar auch am Vorabend im Rahmen der Overseas Night im Schlachthof hören können, allein: Avishai Cohen hat es verhindert.

Das KITO im Alten Packhaus Vegesack ist etwa siebzehn Kilometer vom Messegeschehen im nordöstlichen Bremen beheimatet, und irgendwann muss ich einmal ganz ohne Termindruck wiederkommen, denn hier kann man einen völlig unprätentiösen, ungezwungenen Abend verbringen. Man hat sich mit den Jahren ein Stammpublikum für die Jazz-, Blues-, Folk-, Chanson- oder Klassikabende erspielt – den warmen Holzgeruch und das anheimelnde Gefühl unter zwischen knarrenden Bodendielen und knarzenden Deckenbalken gibt es umsonst dazu. „It’s cosy in here“, eröffnet dann auch Charles den Abend; und was könnte besser zu ihrem schlauen Hippie-Sound aus Harmoniegesang und Geigen-/Bratschenbegleitung passen als das! Lernen Sie Chloé Charles von ihrer sanften Seite mit dem charmanten Dreiminüter Find Her Way kennen:

… um sie dann durch einen Alptraum aus mysteriös durcheinanderwirbelnden Tarotkarten zu begeleiten:

Zu hören gibt es die beiden Stücke, wenngleich etwas elektronischer, auf Charles‘ zauberhaftem Album Break The Balance. Garantiert nicht zu hören gibt es dort ihr Carole-King-Cover So Far Away, das ich Ihnen als besonderen Leckerbissen mitgebracht habe:

Für die Rückfahrt überlege ich mir das mit dem Taxi aber noch einmal gut und mache es, wie der Kutscher empholen hat: Ich setze auf die NordWestBahn, die einmal die Stunde fährt. Ein netter Bremer, mein Sitznachbar im Publikum von Chloé Charles, bringt mich auf den richtigen Weg. Überhaupt die Bremer! Die sind eben keine Berliner, was da heißt: Sie sind richtig nett. Während ich zum Beispiel im Ratskeller geduldig auf den Kellner warte, weil ich es gewohnt bin, von diesem erst einmal fünfundvierzig Minuten lang ignoriert zu werden, zitiert ihn meine Bremer Tischnachbarin energisch für mich herbei. Und jetzt werde ich sogar zur Bahn gebracht, wo man sich in Berlin einen Spaß daraus macht, Ortsfremde voller Absicht ind ie falsche Richtung zu schicken – wenn man sie nicht einfach übersieht, oder was auch immer man an Unschönigkeiten mehr in seinem persönlichen Repertoire hat. Ganz anders die Bremer, denen an dieser Stelle ein herzlicher Dank gebührt!

Jetzt muss ich aber zur Bahn rennen, wo ich drei Euro (okay, das ist ein Unterschied) in den Fahrkartenautomaten werfe und in etwa zwanzig Minuten wieder am Hauptbahnhof bin. Von da geht es im Galoppschritt weiter zum Schlachthof, denn hier endet das European Jazz Meeting und überhaupt die ganze Jazzahead! 2013 mit dem Showcase von Tobias Preisig, der sich wieder einmal auf die Suche nach dem soeben noch hörbaren Ton macht und sein Publikum einmal mehr auf seine Klanggrenzgänge, die ich nicht anders als „Spaziergänge auf dem Seelengrund“ zu bezeichnen weiß, mitnimmt.

Hallelujah indessen spielt er heute Abend nicht. Stattdessen gibt es heute zunächst das nicht weniger berauschende Infinite Inhalte und Infinite Exhale aus seinem lebensverändernden Debütalbum In Transit zu hören:

Die Trilogie wird eigentlich von Transforming vervollständigt, das Sie sich
bitte auf Platte anhören, bevor Sie weiterlesen, denn an seiner statt habe
ich Ihnen das brandneue Splendid mitgebracht, das den Abend in einen rauschenden verwandeln und die Jazzahead! 2013 würdig abschließen soll.

Ob es daran liegt, dass es meine erste Jazzahead! und damit alles neu und aufregend war, ob daran, dass Bremen eine kleinere Stadt ist als Berlin und der Transit zwischen Messe und Showcases hier besser funktioniert, oder vielleicht auch daran, dass Jazz ein freundlicheres und in gewisser Weise auch menschlicheres Genre zu sein scheint als Pop – auf der Jazzahead! 2013 hat all das geklappt, wovon die nunmehr zur Berlin Music Week verstümmelte Popkomm nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Wenn man Musikmessen macht, dann so.

27. April 2013

Die Bremer Jazzmusikanten. Tag 1 und 2 der Jazzahead! 2013

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 14:39

„Alles ist Jazz“. Das wissen die Leser Lili Grüns spätestens seit der Neuauflage ihres ursprünglich Herz über Bord betitelten Berlin-Roamns von 1933, der mich dann auch stilecht bei meiner Expedition auf die Jazzahead! nach Bremen begleitet.


Auch beim Bremer Bahnhofsbuchhandel ist man auf die in die Stadt einfallende Jazz-Meute eingestellt

Musste dieser mittlerweile „wichtigste und größte Treffpunkt der Branche“ (Pressemitteilung) die ersten verflixten sieben Jahre noch ohne Klangverführer auskommen, ist er – sprich: bin ich – bei der achten Jazzahead! live vor Ort, um sich bzw. mich zu überzeugen, dass Bremen nicht nur mit seinen vier Stadtmusikanten, sondern tatsächlich auch einem beeindruckenden Line-up an gern gehörten Jazzmusikern – ich sage hier nur: Tobias Preisig, Olivia Trummer Trio, Zodiak Trio und Helge Lien Trio, nur, um ein paar zu nennen – und sechshundert Ausstellern aus aller Welt aufwarten kann. Nicht zuletzt lockt auch das diesjährige Partnerland Israel, zu dessen Künstlern ich seit jeher eine enge Beziehung pflege, von meiner allerersten Besprechung für fairaudio (Yael Naim), über Shabbat Night Fever und Ofrin bis hin zu den jungen Wilden à la Joe Fleisch oder Gad von den Dirty Honkers.

Da bleibt es natürlich nicht aus, dass ich mich auch beim einstimmenden Hören des offiziellen Jazzahead-Samplers in eine Komposition eines Mannes aus Israel verliebt habe: Bye Y’all des Tel Aviver Gitarristen Yotam Silberstein, mit der die Compilation beginnt. Das Stück indessen eröffnet nicht nur den Sampler, sondern auch das erste von vier Themenbündeln der Messe, die Israeli Night, in deren Zuge verteilt zwischen Halle 2 in der Messe und Kulturzentrum Schlachthof auch noch das Omer Klein Trio, Malox, Daniel Zamir, Ilana Eliya, LayerZ und das Ensemble Yaman zu hören sein werden.

Während des Showcases von Yotam passiert dann aber erst einmal noch etwas anderes: Ich verliebe mich in den Bassisten Gilad Abro. Der ist so unglaublich geil, dass ich ihn Ihnen nicht vorenthalten will – meine ganz persönliche Entdeckung an Tag 1 der Jazzahead! 2013. Hier erstmal etwas funky Swingendes …

… und dann noch die Ballade Nocturno.

Ich meine, ein Kontrabasssolo bei einer Ballade, das dermaßen unkitschig gerät, wer hat so etwas denn schon einmal gehört? Nicht zuletzt ist auch Schlagzeuger Amir Brevler, der vormals bei Avishai Cohen – von dem später noch die Rede sein soll – gespielt hat, sehr sehr geil. Kurz: Eine Rhythmusgruppe, die man (oder zumindest ich) gern klauen möchte! Und offensichtlich bin ich nicht die Einzige, die so denkt, denn Abro und Bresler spielen nicht nur bei Yotam, sondern auch bei Klarinettist Daniel Zamir. Abro allein fungiert zudem als Vokalist bei LayerZ. Böse Zungen könnten jetzt behaupten, die israelische Jazz-Szene sei eben überschaubar. Es könnte aber auch für die herausragende Qualität der genannten Musiker sprechen, dass ein jeder möchte, dass sie bei ihm spielen. Und Qualität ist hier definitiv vorhanden.


Sieht zu allem Überfluss auch noch gut aus: Mr. Gilad Abro

Yotams Stücke jedenfalls singe ich noch den ganzen Abend vor mich hin,
auch beim folgenden Rundgang über die beinahe noch schlafende – gilt der Donnerstag doch gemeinhin als „the quiet day“ – Messe. Doch auch heute schon trifft man alte Bekannte und solche, die es noch werden wollen, beispielsweise die netten Leute von Jazzthetik, die Musik nicht wie der Klangverführer in Worte fassen, sondern schlicht „lesen“ (lassen) wollen.

Natürlich ist der eine nette Jazzthetik-Mensch gleichzeitig Bassist, und ich heimse die erste (von vielen) CDs der Messe ein. Dies hier wird, da müssen sie jetzt ganz stark sein, eine Art Bassisten-Special werden. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass die vibrierenden Tieftöner tatsächlich die Jazzahead! dominieren, oder dass nur ich aufgrund einer leicht abseitigen Vorliebe meinen Fokus darauf gelegt habe. Dazu aber später mehr, der Gelegenheit wird hierzu noch reichlich sein, glauben Sie mir! Erst einmal aber treffen wir am österreichischen Stand, der, ebenso wie bei der letzten – nicht im Sinne von vorjährigen, sondern von: letzten ihrer Art – Popkomm unter dem Motto „Austria sounds great“ firmiert, ein nettes Pappschaf.

Einen Tag später wird übrigens ebenso nettes Pappgras hinzukommen. Und noch einen Tag später stelle ich fest, dass das Pappschaf als CD-Regal dient. So weit sind wir aber noch nicht. Heute kann sich dafür, wer mag, ins Wohnzimmer von Berthold Records einladen lassen …

… wo es nicht nur Omas Mobiliar inklusive Kommode und Stehlampe, sondern auch jede Menge ziemlich gute Musik gibt. Oder man bewundert die Trompete vom Jazzcastle Wolfsburg …

… und holt sich dabei einen Vorgeschmack darauf, was einen hier vom 14.
bis zum 16. Juni erwartet, denn das Line-up kann sich sehen und vor allem hören lassen: von der bezaubernden Viktoria Tolstoy über Jazzanova bis hin zu Nils Wogram oder Michael Wollny sind sie alle dem Ruf der Autostadt gefolgt. Alternativ kann man den sympathischen Standbetreibern versprechen (und das Verspechen später natürlich auch halten), ihre Facebook-Seite zu liken, dann bekommt man als Dank ein Miniaturpiano, das sich beim näheren Hinsehen als Brotdose entpuppt.

Wem dieses nähere Hinsehen nicht mehr zielsicher gelingt – denn natürlich gibt es auch an allen Ständen diverse Alkoholika -, der kann in der Chill-Out-Zone vor einer Südseetapete im Liegestuhl eine Pause einlegen …

… oder sich von den netten Catering-Damen orientalische Spezialitäten kredenzen lassen.

Die Alkoholika indessen sind auch hier nicht weit, wie man sieht. Es wird Zeit für einen spätabendlichen Ausflug in die Bremer Altstadt – und wie froh bin ich, in dieser milden Frühlingsnacht dem Eselchen der Stadtmusikanten an die Hufe gefasst und damit immerwährendes Glück auf mich gezogen zu haben …

… denn schon der nächste Tag macht ernst mit der angedrohten Wetterprognose: Die Temperaturen fallen um mindestens zehn Grad, es stürmt und dauerregnet. Nicht gerade ideales Hufanfasswetter! (Ich komme allerdings trotzdem noch einmal zu dem Getier zurück, um stellvertretend für Lina Liebhund auch dem Stadtmusikantenhund an die Pfoten zu fassen.) Erst einmal aber beginnt Tag 2 mit einer unangenehmen Überraschung, die allerdings technischer und nicht meteorologischer Natur ist: Der Internetzugang auf dem Hotelzimmer erlaubt einen maximalen Datentransfer von 250 MB – da Jazzer für gewöhnlich nun aber etwas länger spielen als Popper & Co., hat so ein HD-Video schon mal gute vier- bis fünfhundert MB. Frustriert begebe ich mich ins Spa; und auch, wenn es so ein beheizter Außenpool in seiner Klimabilanz vermutlich locker mit hundert Heizpilzen aufnehmen kann und ich mich die geschätzten nächsten drei Jahre ausschließlich per Fahrrad fortbewegen und vegan ernähren muss, um das irgendwie wieder gutzumachen – es ist genau das, was ich jetzt brauche. Und unter den fachkundigen Händen der hauseigenen Masseurin fällt dann auch der letzte Groll über die verdammte Technik von mir ab. Okay, ich höre ja schon auf, Sie neidisch zu machen und lade Sie stattdessen ein, mich zu Themenbündel zwei auf die German Jazz Expo zu begleiten.

Hier treffen wir, wie eingangs schon angekündigt, auf eine alte Bekannte. Olivia Trummer gibt sich charmant wie eh und je, ob sie nun solo Gershwin-Klassiker wie They Can’t Take That Away From Me oder mit ihrem Trio Eigenkompositionen spielt, von denen ich Ihnen – um künftige Komplikationen zu vermeiden, ab nun nicht mehr in HD-Qualität, sondern ganz normal, sehen Sie mir das nach – eine mitgebracht habe:

Bleibt nur die Frage: Wie kann man mit diesen Absätzen – immerhin geschätzte zwölf Zentimeter – überhaupt Klavier spielen?, die die Sängerin dann auch selbstironisch stellt. Wie, weiß man zwar auch danach nicht, aber dass – das weiß man jetzt. Dass die Laune mittlerweile wieder auf dem Höhepunkt ist, liegt aber nicht nur an dem sympatischen Flirt Trummers mit ihrem Publikum – auch das Presseoffice auf der Jazzahead! ist technisch auf dem höchsten Stand. Nett und kompetent betreut lade ich hier meine Videos in wenigen Minuten hoch. Wer braucht schon den schwächelnden Internetzugang des Hotels?


Mit diesen Schuhen kann man sicherlich auch Tresore knacken

Jetzt aber schnell weiter, denn heute Abend steht das Galakonzert der Jazzahead! auf dem Programm: Der Tel Aviver Bassist Avishai Cohen spielt in der Glocke. Über dieses als „eines der Highlights der Partnerlandprogramms“ angekündigte Konzert wurde im Vorfeld schon so viel gesagt und gemunkelt – vor allem aber über Cohen selbst. Hoffentlich musst du Arme kein Interview mit ihm machen, wurde ich gewarnt, gilt der Künstler doch als maulfaul und schwierig. Wenn das Publikum in seiner Begeisterung noch eine Zugabe will, so die Lästerer weiter, könne es vorkommen, dass Cohen schon ohne ein Wort im Taxi sitze und zurück ins Hotel fahre. Auch die strengen Film- und Fotorestriktionen für die Presse, eine absolute Ausnahme auf der in dieser Hinsicht sonst sehr liberalen Jazzahead!, bestätigen das bislang heraufbeschworene Diven-Bild des Ausnahme-Bassisten.

Als ich ihn dann aber spielen höre, habe ich plötzlich verstanden. Avishai Cohen legt sein ganzes Leben, sein Sein, sein Selbst in sein Spiel, verausgabt sich bei einem Konzert bis zur Selbstaufgabe. Alles, was er zu sagen hat, tut er durch die Musik. Und wenn in seinen Augen ein Konzert beendet ist, weil er alles gesagt hat, dann ist es eben beendet. Warum sollte er dem dann noch was hinzufügen oder gar blöde Fragen beantworten?

Cohen muss man zuhören, und mehr muss man nicht wissen. Das Besondere an der Musik Avishai Cohens ist dann auch gar nicht mal, dass sie außergewöhnlich kreativ oder experimentell oder sonstwie abgefahren ist, denn bis auf einen völlig umgestrickten Cole-Porter-Song war sein Programm eher konventionell. Das Besondere liegt in dieser überirdischen Virtuosität, die beim letzten regulären Stück des Konzerts, Seven Seas, vollends zum Tragen kam, und in der langen Zeit, die er manchmal braucht, einer Stimmung, ob nun seiner eigenen oder der seiner Musiker hinterherzufühlen, bis er einen Ton anschlägt. Aber wenn, dann hat man das Gefühl, als offenbare sich ein Heiligtum. „Es spricht“, raunt man ehrfürchtig, und das ist auch alles, was man hierzu sagen sollte, denn angesichts eines Avishai-Cohen-Konzerts, das einer Heiligen Messe gleichkommt, sollte man einfach die Klappe halten und zuhören – nicht zuletzt auch den unglaublichen Musikern Cohens, dem Pianisten Nitai Hershkovits und dem blutjungen Ofri Nehemya, Sohn des Schlagzeugers Naor Nehemya.

Hiernach ist bei aller Liebe der Besuch der Jazz@Israel Jam Session mit Omer Klein (Piano), Haggai Cohen-Milo (Bass), Yotam Silberstein (Gitarre), Aviv Cohen (Schlagzeug) und Jonathan Albalak (Gitarre, Synthesizer) im Park Hotel nicht mehr drin – meine Aufnahmekapazität in Sachen Musik ist für heute restlos erschöpft. Ich falle völlig erlebnisberauscht, und das meint hier: musikgesättigt, in mein Bett.

Über Tag 3 berichte ich in den kommenden Tagen – schauen Sie einfach wieder mal vorbei! Mit dabei: Musik vom Kokko Quartett, Charles Moffett, Chloe Charles und Tobias Preisig.

21. März 2013

Quo vadis, Berlin Music Week?

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 07:47

Das also war der Kick-off zur Berlin Music Week 2013. Nachdem die wartende Journaille im Gothic-mäßig ausgeleuchteten Rio Grande mit angenehm quäkendem DrumandbassStep und ebenso angenehm drehenden Getränken eingelullt wurde, kam es tatsächlich zur Präsentation eines aus einer Folie bestehenden „Konzepts“, welches als rudimentär zu bezeichnen ein Euphemismus wäre. Unausgegoren trifft es da schon eher. Man arbeite erst seit dieser Woche daran, lautete die gleich präventiv vorweggeschickte Entschuldigung. Mag ja sein, aber dannn drängt sich zwingend die Frage auf: Weshalb schon zu solch einem sensiblen Zeitpunkt Publikum einladen, wo der Informationswert praktisch Null ist? Das wird wohl auf ewig das Geheimnis der Kulturprojekte Berlin bleiben. Stattdessen hätten diese sich doch selbst in den Saisonauftakt feiern können, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, um uns erst in, sagen wir, zwei oder drei Monaten mit an Bord zu holen. So aber ließen sich lediglich die vier, ich zitiere, „defaktischen Säulen“ des WORD! genannten Kongressteils der im Spetember dräuenden Berlin Music Week bewundern, die plakative Bezeichnungen à la „Think“, „Meet“, „Work“ und „Do“ (oder so ähnlich) trugen. „Go“, „Try“, „Repeat“ und “Fail” wären besser geeignet gewesen. Es sei ein “offener Prozess”, mit dem man uns den so gut wie gar nicht vorhandenen Status Quo verkauft, der dadurch aber etwas von einem WG-Küchentisch-Schwurgericht bekommt.

Dazu passt auch, dass die konkreten Ideen nicht von den Organisatoren bzw. Veranstaltern selbst, sondern von außen kommen werden. Jeder kann sich bewerben, wenn in Kürze entsprechende Formulare im Netz kursieren. Passend dazu schafft man die hohe Kongress-Gebühr ab – damit aber auch jene Hürde, die einer Art Filterfunktion gleichkam. Nun kann jeder für lau Aussteller werden. Von einer Fachmesse, einem Fachkongress erwarte ich mir jedoch durchaus einem gewissen Anspruch, einen professionellen Mehrwert – und den bekomme ich nicht, wenn die Berlin Music Week nun auch dem Nachbarschaftschor ein Forum bietet. Nichts gegen den Nachbarschaftschor – doch ist Professionalität nun einmal nicht zuletzt eine Frage des Geldes. Es mag ein ehrenwerter Gedanke sein, die monetäre Barriere für kleine Labels & Co. zu beseitigen – gleichzeitig öffnet man aber all jenen semi-professionellen oder gar hobbymäßig Muskik(be-)treibenden Tor und Tür, die die Berlin Music Week zu einer Art Karneval der Kulturen machen werden. Umsonst und draußen. Nur weil kein Geld da ist, Dinge unentgeltlich zur Verfügung zu stellen – diese Milchmädchenrechnung wird nicht aufgehen, lautet doch ein weiser kaufmännischer Grundsatz nicht ohne Grund: Was nichts kostet, ist auch nichts wert. Da fahre ich doch lieber Ende April zur Jazzahead! nach Bremen – einer Fachmesse mit branchenüblich hohen Stand- und Teilnehmergebühren, dafür entsprechend professionell aufgestellten Ausstellern, interessierten Fachbesuchern und qualitativ hervorrangenden Showcases.


Zappenduster ist gar kein Ausdruck

9. September 2012

My Berlin Music Week: zwischen leeren Stühlen, authentischer Imitation und der endgültigen Entmystifizierung des Songwritings

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , , , — VSz | Klangverführer @ 18:33

Nachdem man letztes Jahr mit der in die Berlin Music Week eingebetteten Popkomm alles anders machen wollte als vorletztes, wo man mit nämlichem Ziel antrat, um daran grandios zu scheitern, hat man dieses Jahr die Popkomm kurzerhand gestrichen. Zumindest den Messeteil. Länderorientierte Showcases sowie die Conference genannten Podiumsdiskussionen, in denen über die Zukunft der Musikindustrie meditiert wird, finden auch dieses Jahr statt, wenngleich man dem Kind einen anderen Namen gegeben hat: Word on Sound nennt sich das Sammelsurium aus Impulsreferaten und Workshops, untertitelt mit Die neue Plattform für Professionals. Das Ganze gibt es, schon allein – aber nicht nur – aus geographischer Sicht industrienah, im Spreespeicher in der Stralauer Allee.

Uninteressant sind die in die Segmente Arts and Polity, Werkstatt, Most Wanted: Music, World Nightlife Fund, Green Berlin Music Week, Master Class, digi-digi con, Denkfabrik und Umg€ld unterteilten Veranstaltungen indessen nicht, denn mit Themen wie „Kapitalismus, Kreativität und die Krise der Musikindustrie“, „Was wurde aus den Utopien der frühen elektronischen Clubkultur?“ oder „Studien zu Herrschaftssturkturen“ verharrt man wenigstens nicht wie sonst im Bejammern der aktuellen Entwicklung, sondern bringt einen Hauch Kapitalismusikritik in die Diskussion ein, die hoffentlich mehr zu bieten hat als die wohlfeile Klage über die Gentrifizierung der Subkulturen.


Ein schöner Ort, dieser Spreespeicher. Kein Wunder, dient er sonst doch als virtueller Indoor-Golfplatz für die Reichen und Schönen.

Freilich schwingt die Tanz-am-Abgrund-Stimmung auch dieses Jahr mit, von Kollege Jens Balzer für die Berliner Zeitung kongenial mit Genieße es, so lange du noch kannst übertitelt und von mir nur ganz leicht aus dem Zusammenhang gerissen. Praktische Antworten auf die Krise werden indessen gewohnt konventionell gegeben, auch wenn man trefflich daran zweifeln kann, ob Streaming das Heilsversprechen der Musikindustrie der Zukunft ist. Ich bin nach wie vor fest davon überzeugt, dass Menschen ihre Musik auch besitzen wollen – und wenn sie schon auf physische Tonträger verzichten, dann wenigstens als Datei auf ihren Festplatten. Sämtliche virtuelle Speicher, Clouds und was nicht alles noch kranken an dem selben Problem: Mensch vertraut ihnen nicht, getreu der Urangst: Was, wenn morgen das Internet abgeschaltet wird?


Hat mittlerweile dreijährige Tradition: das Speise(karten-)foto der Berlin Music Week auf Klangverführer.de

Ich werfe bei einem ersten Rundgang erst einmal einen Blick in The New TV: The Evolving Landscape of Online-Videos und Stuff, you will love to watch. Neue Geschichten, neue Formate, neue Partizipationen. Gut: Man hat verstanden, denen über die Schultern zu schauen, die nach dem Tod des klassischen Musikfernsehens Musikvideos kreieren, welche sich wie ein Lauffeuer in der YouTube-Landschaft verbreiten, beispielsweise den genialen Gregory Brothers mit ihrer Autotune the News-Reihe. Was man noch verstehen will: Was machen die, was herkömmliche Musikvideo-Produzenten nicht machen – und vor allem: Wie machen die das? Leider sind die Reihen in der Zuhörerschaft recht spärlich besetzt.


Wenig los im Fachpublikum …


… sowie draußen …


… und auch drinnen.

Vielleicht muss die Musikindustrie zuallererst einmal verstehen, dass sie, wenn sie als Industrie auftritt, machen kann, was sie will: Das Vertrauen ist ohnehin weg. Da scheint mir das Konzept Let’s Build Our Own Industry des For-Artists-By-Artists-Künstlerkollektivs A Headful Of Bees schon zukunftsweisender. Kreiert wird hier auf D.I.T. (Do It Together)-Basis, der monetäre Aspekt soll auf Freiwilligkeit beruhen, denn schließlich operieren Cafés und Konzertveranstalter mit dem „Jeder zahlt am Schluss, soviel es ihm Wert war“-Konzept ja auch recht erfolgreich, wie A Headful of Bees-Mitglied Eric Eckhart im Interview einräumt. Dazu aber später noch mehr, denn erst einmal steht die offizielle Eröffnungsveranstaltung der Berlin Music Week an – „15 Jahre Radio Eins“ im Tempodrom.


Ein einsamer BOSE hält tapfer die Stellung

Der Abend verspricht, lang zu werden, denn fünf Künstler treten hier auf, vom Hamburger Singer/Songwriter Olli Schulz und der grandiosen Gemma Ray über die Gangsta-Swing-Oriental-Balkan-Surf-Punker BudZillus bis hin zum Schmusesoulsingersongwriter Jonathan Jeremiah und den TripHop-Rockern Archive aus London – zum Teil begleitet vom Filmorchester Babelsberg, das auch schon Künstlern wie The BossHoss oder Peter Fox streichender-, trompetender- und paukenderweise die nötige Portion Schmelz – und manchmal auch Pathos – verliehen hat.

Den Auftakt macht Olli Schulz, der ganze vier Songs spielen durfte – und das ohne Orchesterbegleitung, worüber er sich wortreich beschwert. Außerdem sei die Garderobe zu klein, und an Sclaf schon lange nicht mehr zu denken, ist doch unter seiner Wohnung ein Bubble Tea-Laden eingezogen, der bis nachts um eins des Künstlers zarte Ohren belästigenden Kirmestechno spielt. Auch die Kollegen der Welt bekommen ihr Fett weg, haben sie sich doch erdreistet, Schulz via Überschrift zum „Klamauk-Barden“ zu machen. Ohnehin scheint latentes Angepisstsein bei dem Songwriter zur Masche zu gehören – trotzdessn oder gerade deshalb lieben ihn die Frauen, die sich angesichts der Schlechtigkeit der Welt ein Schwesternhäubchen aufsetzen und Schulz vor allem Unbill abschirmen können. Wie schon beim Interviewtag, wo dem notorisch übellaunigen Sänger ein mit „We Love You“ beschrifteter Bierdeckel zugetragen wird, ruft hier eine Frau nach seiner Beschwerdelitanei zu: „Ich hab‘ dich lieb“. Und egal, wie Schulz sich auch ereifern mag und wie sehr man auch nie weiß, was davon er ernst meint und was nur Show ist, liebhaben muss man einen Mann, der so schöne Lieder schreibt wie Schrecklich schöne Welt auf jeden Fall!

Schrecklich schöne Songs spielt auch die britische, in Berlin lebende Fifties- bzw. Sixties-Retropop-Sängerin Gemma Ray, bei der erstmalig an diesem Abend das Filmorchester aufgefahren wird.

Besonders gefällt mir Flood and a Fire von ihrem aktuellen Album Island Fire, das ich mir in der Pause dann auch dringend auf Vinyl kaufen muss. Leider habe ich kein Video davon machen können, aber dafür ein weiteres, das um das Thema Feuer kreist: Fire House.

Die Berliner von BudZillus, wegen denen ich eigentlich hier bin, spielen sich in furiosem Tempo durch ihr neues Album Auf Gedeih und Verderb, aber, ich kann mir nicht helfen, auf der Platte scheint mir vieles bedeutend besser gemixt. Gerade die Vocals haben im Tempodrom’schen Raumklang schwer zu kämpfen, und was Thomas Prestin vor sich hinklarinettiert, ist, bei allem Respekt: vorhersehbar. Am Sax hingegen gefällt er mir ausnehmend gut – und das „Tier“ am Schlagzeug verdient einfach nur Bewunderung und Respekt, denn getreu ihrem Motto „Wir spiel’n weiter“ spielt er einfach immer weiter, und das bei dem Speed – ob er jeden Abend ein halbes Kalb verspeist? Hier jedenfalls It’s Up To You:

Auch wenn ich mich heute Abend nicht des Gefühls erwehren kann – das ich beim Hören des grandiosen Albums Auf Gedeih und Verderb übrigens nicht habe -, hier die authentische Imitation einer Balkan-Kapelle zu sehen – die Leute lieben es, und erstmals an diesem Abend werden Zugabe-Rufe laut, denen man ob des straffen Zeitplans aber leider nicht nachkommen kann. Wobei, was heißt leider: Im Grunde ist das einer der großen Vorteile von Radio-Konzerten, ob live ausgestrahlt oder für spätere Sendungen mitgeschnitten: Der Zeitplan wird eingehalten, ewiges Warten auf den Hauptact gibt es nicht, man kommt früh genug ins Bett.

Davon bin ich heute Abend aber noch weit entfernt, denn jetzt kommt erst einmal Jonathan Jeremiah, dessen Existenz mir bislang völlig entgangen war, der sich aber nach anfänglich zauderndem Singer-Songwriter-Allerlei als gestandener, am Motown-Retro-Sound orientierter Soulrocker mit Eiern erweisen soll. Bei Heart of Stone sind gar die Nutbush City Limits nicht weit – das groovt!

Weshalb man allerdings Archive zum Hauptact des Abends gemacht hat, entzieht sich meinem Verständnis komplett. Egal, wie oft ich mir das anhöre – ich finde es grässlich, und dabei bin ich TripHop-Fan der ersten Stunde! Wer das geil findet, schreibe mir bitte, weshalb. Vielleicht steckt ja eine verborgene Schönheit in diesen Songs – die wäre dann allerdings sehr gut verborgen:

Kollateralschaden des Abends ist – neben einem komplett verlorenen nächsten Tag inklusive der verpassten Nordic by Nature-Nacht im Postbahnhof mit Acts wie I Got You On Tape (DK), Sandra Kolstad (NO) oder LCMDF (FIN) – ein verlorenes Notizbuch. Ein schwarzes, kariertes Moleskine mit Logoprägung der VZ-Netzwerke auf dem Einband und einem eingeklemmten Druckbleistift. Ich freue mich, wenn ich es zurückbekomme – sogar so sehr, dass ich dem Finder glatt fünf CDs dafür geben würde. Neben dem Entwurf einer Konzertkritik der Radio Eins-Nacht enthielt es ein flammendes Plädoyer über die Freuden bedingungslosen Fantums, ausgelöst durch den Kauf der frisch signierten Platte von Gemma Ray, denn Fansein gilt weder in Musikwissenschaftler- noch Musikkritikerkreisen als sonderlich cool – dabei ist das doch die Basis für Musikliebe und einen der Musik angemessenen Umgang mit ihr, der dadurch nicht weniger professionell wird. Nur durch die Lupe kühler Überheblichkeit und damit zwingend verknüpfter Distanz kann man einem so emotionalen Sujet nicht gerecht werden, und ich bin gottfroh, dass ich Professoren hatte, die nicht müde wurden mir zu versichern, dass sich auch Wissenschaftler den Luxus persönlichen Geschmacks leisten dürfen. Nun, jetzt muss es eben ohne dieses Plädoyer gehen …

Ein Kollateralschaden der angenehmeren Art, nennen wir ihn daher ruhig Kollateralnutzen, war, dass mein persönliches Verkaterungserlebnis am übernächsten Tag den Anstoß für einen Song gab, der im Rahmen eines vierstündigen Workshops – zwei für das Songwriting, eine fürs Ausprobieren des Arrangements und eine fürs Recording – entstanden ist und den ich Ihnen an dieser Stelle nicht vorenthalten will. Es war eine hochgradig inspirierende Erfahrung, bei der a2n-Werkstatt in den Räumlichkeiten der Noisy Music World in der Warschauer Straße unter Anleitung des Künstlerkollektivs A headful af bees mit einer handvoll Musiker und Musikinteressierter in einer Art Hippie-Session einen tragfähigen Song zu entwickeln. Ziel dabei war auch, den Prozess des Songschreibens zu entmystifizieren; denn während der Songschreiber sonst emotional tief bewegt im stillen Kämmerchen sich plagt, sollte hier gezeigt werden, dass man mit ein paar Musikinstrumenten (und Leuten, die möglichst viele davon spielen können), Stimmen, Stiften und Papier im Kollektiv in wenigen Stunden zu einem durchaus brauchbaren Ergebnis kommen kann.


Ganz ohne Weltschmerz und stilles Kämmerlein: Songwriting im Kollektiv

Herausgekommen ist der Titel Five More Hours, dessen Grundidee die Zustandsbeschreibung am morgen nach einer durchfeierten Nacht ist: Oh mein Gott, wann werde ich es endlich lernen, nicht mehr so zu übertreiben? Noch zwei Stunden, und ich werde in der Lage sein, meinen Kopf wieder zu bewegen. Noch fünf Stunden, und ich schaffe es, eine Aspirin zu nehmen. Und so fort. Und dann die Rückerinnerung, warum sie all das getan hat – und definitiv wieder tun wird, denn sie war die Königin der Nacht! Und auch, wenn wir angehalten waren, allzu deutliche musikalische Klischees zu vermeiden, konnten wir uns nicht helfen, dieses Bild mit einem kleinen Moll-nach-Dur-Shift zu illustrieren. Aber hören Sie selbst:

Natürlich hänge ich persönlich an dem Song. Aber ich finde ihn auch aus der Distanz zweier Tage immer noch gut. Und bin erstaunt, wie schnell man gemeinsam zu einem brauchbaren Liedchen kommt. Aber auch sonst lässt sich die Workshop-Reihe für Musiker sehen, denn anstatt in theoretischem Gejammer zu erstarren, zeigt man bei der all2gethernow (a2n)-Werkstatt, wie man es selbst macht: Um Überlebensstrategien für junge Künstler geht es, von wie publiziere ich meine eigene Musik über wie lizensiere ich sie für Filme und Fernsehen bis zu einem „Zirkeltrainig“ in Sachen Crowdfunding.


So funktioniert Songwriting heute: Zusammen einsperren, enge Deadline setzen –
und es klappt!

Viele, viele Clubkonzerte weiter ist am Sonntag mit dem ADD (Auf den Dächern)-Festival der nun dringend notwendige Schlusspunkt der Berlin Music Week erreicht. Hier treten im 20-Minuten-Takt Künstler für jeden Geschmack und Intellekt auf, von Phillip Poisel und Cro über Max Herre und Two Door Cinema Club bis zu M.I.A. und Ghostpoet auf. Wer also das Berlin Festival verpasst hat, bekommt hier die Chance, deren Auftritte in Miniaturformat nachzuholen – natürlich wieder in der Stralauer Allee am Osthafen mit phantastischer Aussicht.


Der Mann mit der Maske lugt in die Menge: Cro auf den Dächern.

Die Veranstalter der Konzerte, ob im kleinen Club oder als großes Festival, können im Gegensatz zum Kongress ein positives Fazit ziehen: Während sich nur 2.000 Fachbesucher für die Berlin Music Week fanden, hat es ungefähr 60.000 Menschen in die Clubs und Konzertsäle getrieben. In weiser Voraussicht wird die Berlin Music Week auch nächstes Jahr ohne den Messeteil – die Popkomm – stattfinden. Wirklich gefehlt hat sie nicht, denn schließlich war sie schon im letzten Jahr so klein gehalten, dass man ihr Verschwinden nur mit Mühe bemerken konnte.

Klangverführer wird auch nächstes Jahr wieder berichten. Diesjahr bleibt nur noch das traditionelle Gewinnspiel, wenngleich es im Gegensatz zu letztem Mal keine Popkomm-Taschen zu gewinnen gibt – dafür aber ein paar Fender-Gitarrenplektren, die auf einen neuen Besitzer warten. Also, ihr Gitarristen da draußen, die ihr keine Anhänger des Fingerstyle seid – schreibt eine Haben-wollen-Mail an kontakt@klangverfuehrer.de. Wer zuerst kommt – und so weiter.

26. September 2011

Sehen, registrieren, reagieren: B·S·O auf der YOU

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , , — VSz | Klangverführer @ 07:38

What a difference a day makes! Fragte ich mich gerade noch in Erinnerung an die Püppchen-Pleite vom Freitagabend noch, weshalb ich mir diesen Job eigentlich antue, weiß ich es heute wieder ganz genau. Dabei sah es gar nicht so aus, als würde sich dieser Tag musikalisch lohnen. Dafür sorgte die YOU, laut eigenen Angaben „Europas größte Jugendmesse“. Hier soll heute das BerlinerStreichOrchester, kurz: B·S·O, spielen, und da ich die Musik der drei Jungs sehr mag, aber noch nie live gesehen habe … Nun, das sollte erklären, wie ich hier hinein geraten bin.


Wer noch ohne Berufswunsch ist, kann es ja mal mit dem Backen kleinerer Brötchen versuchen

Die seit Jahrzehnten üblichen Verdächtigen der Jugendkultur – ein bisschen DJ-ing hier, ein bisschen Graffiti dort -, angereichert mit modernen Späßchen
à la Kletterwand sorgten für eine Geräuschkulisse, die mir innerhalb von wenigen Minuten schlechte Laune machte. Und dafür habe ich den armen Kopfhörerhund zur Nachbarin abgeschoben? Nicht zuletzt möchte einem ständig jemand etwas andrehen: Nein, ich brauche kein zusammenfaltbares Frisbee. Und danke, auch keinen Schlüselanhänger, kein Gratis-Poster, ebenso wenig wie sämtliche Flyer dieser Welt. Die Zielgruppe von denen bin ich doch nun wirklich nicht!

Andererseits: Das hier hätte mich auch mit fünfzehn nicht wirklich geflasht. Was auch für die heute Fünfzehnjährigen Gültigkeit zu besitzen scheint, denn allzuviel ist nicht los auf der YOU, zumindest nicht an diesem Sonntagmittag. Dazu noch herrscht draußen herrlicher Indian Summer, der den Tag zu einem macht, der definitiv zu schade ist, um ihn in dunklen Messehallen zu verbingen. Nach einem kurzen Rundgang über das Gelände entschließe ich mich dann auch bis Showbeginn zur Flucht nach draußen. Und da sehe ich ein Schild, welches mir Lärmgeplagtem wie eine Fata Mogana dem Verdurstenden in der Wüste erscheint:

Herrliche Stille! Die Halle nämlich, in der das von Geiger Gunnar Wegner gegründete und als Cover-Band einer Cover-Band gestartete B·S·O am Stand von Outreach spielt, wird beschallt von Nachwuchs rekrutierenden Bundeswehrleuten – oder waren es die von der Polizei? jedenfalls Menschen in Uniform, und das sagt eigentlich schon alles -, vor allem aber einer sogenannten DJ School, die nicht nur schlecht, sondern auch laut ist. Mit drei Streichern gegen drei Rapper anzuspielen – mutig. Andererseits: Es geht um drei gute Streicher gegen drei schlechte Rapper. Das hier verspricht spannend zu werden – oder auch ganz schrecklich.

Die Sorge erweist sich als unbegründet – nicht nur hat der Outreach-Tonmann den Sound perfekt im Griff, sondern B·S·O auch sein Repertoire. Wo ich schon gute und weniger gelungene Aufnahmen von ihm gehört habe, hat heute alles gestimmt. Nicht nur, das Poprockmetall im Kammermusikarrangement funktioniert – und B·S·O hat zum Heulen schöne Arangements! -, sondern vor allem, dass das Trio mittlerweile so blind aufeinander eingespielt ist, dass jenseits des bloßen Funktionierens ein echtes Musizieren entsteht. Besondern beeindruckt mich das Zusammenspiel der beiden Cellisten, des erst siebzehnjährigen (!) Jupp Wegner mit seinem Cousin Johannes Fischer. Gerade Ersterer hat sich vom Achter schrubbenden Begleiter zum mindestens ebenbürtigen Triomitglied gemausert, mit einem für sein Alter erstaunlich satten und selbstsicheren Ton.

Um aber noch einmal auf das Zusammenspiel zurückzukommen: Ich habe so viele Konzerte gesehen in letzter Zeit, aber was an intuitivem Verständnis und vor allem an musiklaischer Kommunikation herrscht zwischen diesen beiden, das kriegen manche gestandene Jazzer nach einem zwanzig-jährigen gemeinsamen Auf-der-Bühne-Stehen nicht hin! Ganz erstaunlich, wie unglaublich gut sie zusammen geworden sind, vor allem im direkten Vergleich zu den Aufnahmen vom Frühsommer dieses Jahres. Zwar wäre es grob unseriös oder zumindest doch kitschig, dieses intuitve Verstehen auf Blut-ist-dicker-als-Wasser-Familienbande zu schieben, aber irgendetwas muss es ja sein, das hier anders ist als bei anderen.

Nun bedeutet eine innige Verbindung aber nicht zwingend auch vorsichtig und leise, denn an das gemeinsame Musizieren muss man sich nicht mehr erst herantasten. Hier wird richtig gearbeitet, und auch die Bögen werden nicht geschont, immer wieder löst sich das ein oder andere Haar während des Spiels – ich frage mich, wie oft sie ihre Bögen zum Neubespannen bringen müssen! Ähnliches an Intensität habe ich zuletzt bei Ian Fisher gesehen, der ein Loch in seine Gitarre gespielt hätte, wäre ihm nicht vorher die Seite gerissen.

Wie gut B·S·O inzwischen geworden ist, konnte man ja schon beim Lady Gaga Medley hören. Und jetzt gibt es auch das ältere Repertoire in dieser Qualität. Das freut. Nicht zuletzt machen die drei genau das, was ich am Freitag so schmerzlich vermisst habe: Sie kommunizieren mit dem Publikum. Dafür brauchen sie keine ellenlangen Ansagen, aber sie schauen, sie registrieren, sie reagieren, kurz: sie sind da. Und echt. Wer das Glück hat, bei B·S·O im Publikum zu sitzen, fühlt sich als Zuhörer ernst genommen. Das hatte ich Freitag bei den Vollprofis nicht.

Die um die Publikumsgunst konkurrierende DJ-Schule ist mitsamt ihren schlechten Rappern nur noch als fernes Rauschen zu hören, wenn die drei hier erst einmal loslegen

Von den Songs, die das Trio heute spielt, mag ich It’s My Life am liebsten, und das sage ich als bekennender Hasser von pathetischen Rockballaden im Allgemeinen und Bon Jovi im Besonderen! Das traumschöne B·S·O-Arrangement wird höchstens noch getoppt von ihrer Lemon Tree-Version, die noch mehr vor sich hin-reggaet als das Original. Das kann man sich alles im Soundcloud Stream des Trios anhören, klar. Viel besser aber ist es, B·S·O live zu erleben – zum Beispiel am 20. Oktober im Kesselhaus in der Kulturbrauerei.

10. September 2011

Alles ist gut. Die Popkomm 2011, Tag 3

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 14:37

Den dritten Tag nimmt dann keiner mehr so richtig ernst. Zwar findet noch das eine oder andere Panel statt, doch sehen sich die bemitleidenswerten Sprecher hier immer häufiger einem lediglich aus zwei oder drei Leuten bestehenden Publikum ausgesetzt, von dem dann auch nur die Hälfte aus Fachbesuchern besteht, die andere aus Journalisten. Die versucht man dann auch förmlich mit Freibier zu nötigen, noch ein Interview mit einem der Organisatoren machen zu wollen – allein: Es will keiner. Bier gibt es auch an den wenigen Ständen, die noch nicht abgebaut haben; und ganz im Allgemeinen herrscht eine Stimmung wie am letzten Tag vor den großen Ferien: Die Zeugnisse sind durch, keiner kann uns mehr was, Paaaarty!


Crossmedia-Working: Netbook vs. Notizbuch vs. iMac

Auch der allgemeine Schlonz greift immer mehr um sich. Bei mir heißt das, am ersten Tag habe ich mir noch sorgfältig die Augen geschminkt, am zweiten nur noch schnell etwas Wimperntusche aufgetragen, und der dritte Tag steht unter dem Motto „Make-up? Och nö.“ Wenn man sich so umguckt, geht es vielen Kollegen ähnlich, denn 3 Tage und Nächte Rock’n’Roll-Lifestyle zehren nicht nur an der Kondition, sondern auch an der Style-Lust.

Immerhin beginnt auch dieser Tag so, wie der gestrige geendet hat: mit viel Live-Musik. Die Indiepopper Sebastian Block & Band geben sich in der GEMA-Box die Ehre.

Schön: Sie haben mit Catharina Behr eine Schlagzeugerin. Das wiederum erinnert mich daran, dass mein She’s Got Rhythm – Frauen in der Rhythmusgruppe-Essay darauf wartet, fertig geschrieben zu werden. Allerdings nicht mehr heute, denn man beginnt, der Presse die Macs gewissermaßen unter den Fingern weg abzubauen. Zwar liefe die Messe offiziell noch bis 16.00 Uhr, aber die Versicherung für die Geräte ende um 14.00 Uhr, so der zuständige Mitarbeiter.


Popkomm fertig – Klangverführer auch.

Ein Kollege vom Musikmarkt und ich verteidigen noch die beiden letzten Computer mit Zähnen und Klauen, dann lassen auch wir uns vertreiben und machen das, was um diese Zeit alle machen: Unsinn. Wir trinken das Tuborg der Nordic Bar, probieren, ob uns die T-Shirts von sonarflow.com stehen und ob man auf dem Tallinner Kopfhörerelch auch reiten kann, um schließlich in übergroßen Sitzsäcken zu versacken. Das ist sehr angenehm, das Leben ist schön und alles wird gut. Draußen tobt das Berlin Festival. Nur ob es die Popkomm nächstes Jahr auch noch geben wird – das darf bezweifelt werden.

9. September 2011

Im Auftrag Ihrer Majestät, der Musik, oder: Alles wird besser. Popkomm 2011, Tag 2

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , , , — VSz | Klangverführer @ 12:14

Die Stimmung ist verkatert. Das liegt nicht an der Nordic Bar, sondern an der allgemeinen Trostlosigkeit. Am lustigsten ist es noch im Press Room, der eine schulische PC-Kabinett-Atmosphäre verströmt. Und so benehmen sich die Kollegen auch wie bei einer Schulstunde, wo „freies Arbeiten“ ohne Aufsicht auf dem Plan steht. Man zeigt sich gegenseitig seine Messefotos, tauscht Frustrationen und Lästereien aus. Neben dem eigentlich keinerlei weiteren Worte bedürfenden Niedergang der Branche, der hier nur allzu greifbar ist, natürlich auch über die Popkomm-Presseausweise, die jedes Jahr größer zu werden scheinen. Irgendwie kommt man sich damit vor wie ein Erstklässler, der sein Schülerticket weithin sichtbar um den Hals trägt. Im nächsten Jahr laufen wir wahrscheinlich alle mit Badges im A4-Format herum.

Auch bei den Ausstellern macht sich ein zunehmender Leerstand breit; die einzig relevante Frage ist eigentlich nur noch die, welchen Showcase man am Abend besucht. Auf das Lamentieren in den Panels hat ohnehin so niemand recht Lust. Allzu offensichtlich umkreisen sie thematisch die Ratlosigkeit der Musikindustrie angesichts eines sich verselbstständigten Hörer- bzw. Musikkonsumentenverhaltens.“Huch“, scheint sich die Branche zu erschrecken, „da passieren ja Dinge ohne uns. Ohgottogottogott, und was jetzt?!?“

Ich nutze den Tag zur Arbeit im Press Room – ich liebe diesen OS X Mac (Version 10.6.4) mit seinem 3.06 GHz Intel Core Duo Prozessor und seinem 4 GB 1067 MHz RAm Speicher. Meine Eltern haben genau den gleichen, und manchmal verlege ich komplette Arbeitstage kurzentschlossen zu ihnen, einfach, weil das Äpfelchen so schön und so schnell ist … Ist schon ein schönes Spielzeug; wobei mir siedend heiß wieder einfällt, dass ich ja genau in dem Moment vom Mac auf PC umgestiegen bin, als auch Nicht-Grafiker mit einem Mal begannen, den Mac als bessere Schreibmaschine zu verwenden und sich wahnsinnig cool dabei vorkamen, den leuchtenden Apfel auf der Rückseite ihres Computers herumzuzeigen. Aber heimlich schön finde ich ihn doch.

Nach einem Tag voller Geschreibe und Bilderhochgelade habe ich kurz vor Toresschluss noch eine sehr angenehme Begegnung mit Hörakustiker Claus Zapletal. Der präsentiert mit den Fabs nämlich individuell angepasste In-Ear-Headphones, die nicht nur durch ihr 2-Wege-System bestechen, sondern vor allem durch die komplette Abschirmung aller Außengeräusche – das heißt, selbst unter Lärmschutzbedingungen ist es möglich, leiser – und besser – mit ihnen Musik zu hören. Ich stelle mich für einen Test zur Verfügung. Die maßangefertigte Abschirmung wird auf der Messe mit Silikon demonstriert – allein, ich habe zu kleine Ohren dafür, sodass die Stöpsel nicht so tief im Ohr sitzen, wie sie sollten. Dennoch ist das Ohr nach kurzer Zeit vollkommen abgeschlossen, die Umgebung nach weniger als einer Minute komplett ausgeblendet, die Menschen inklusive Dipl.-Ing. Zapletal führen auf einmal sehr schöne Pantomimen um mich herum auf. Das Schönste aber, was mir nach diesem lauten Messetag passieren konnte, ist die entspannende Testmusik. Ich höre Cannonball Adderly mit Autumn Leaves und Miles Davis. Das besänftigt sehr. Und dann kommt James Blake. Wow, bei 24 Bit und 192 kHZ habe ich Limit To Your Love wirklich noch nie gehört! Die Qualität der Fabs zu beurteilen, ist wohl eher Sache der fairaudio-Jungs, sie wird aber verglichen mit dem AKG 1000-er On Ear – und den kenne ich, den habe ich zu Hause herumzuhängen.

Die Fabs wurden ursprünglich für vielreisende Geschäftsleute konzipiert, die auch unterwegs nicht auf den von Zuhause gewohnten HighEnd-HiFi-Klang verzichten wollten. HiFi to go, sozusagen. Mittlerweile hat sich aber herausgestellt, dass immer mehr Musiker sie auf der Bühne einsetzen, da die Fabs einerseits auf Lärmschutzniveau abschotten und andererseits dennoch einen qualitativ hochwertigen Monitor bieten, der eine leisere Einstellung erlaubt als herkömmliche Monitore. Leider eignen sie sich nicht für meine Zwecke, denn ich höre portable Musik auf dem Fahhrad – und mit den Fabs sollten nicht einmal Fußgänger am Straßenverkehr teilnehmen.

Ganz besonders angetan hat es mir auch das Gerätelchen in Zigarrenkistenoptik, auf dem die Musik spielt: der Colorfly, der ebenfalls unter die Überschrift „HiFi to go“ fallen könnte. Ein portabler HiFi-Player mit 192KHz/24Bit – was aber auch heißt, dass die audiophilen .flac-Dateien mittels foobar 2000 erst einmal wieder in .wavs gewandelt werden müssen, denn bei .flacs macht der Colorfly die Grätsche.

Bis auf diese etwas umständliche Bestückung mit Musik ist er aber ein Spielzeug, in das ich mich an Ort und Stelle verliebt habe. Falls Sie noch nichts zu Weihnachten für mich haben …

Relaxed mache ich mich auf den Weg zum letzten Programmpunkt des Tages, dem Tel Aviver Showcase im Grünen Salon. Wenn man den ganzen Tag auf der Messe verbracht hat, fällt einem erst draußen auf, was für ein eigener Mikrokosmos so eine Messe eigentlich ist, abgeschottet wie ein Raumschiff, wo einem das Gefühl für Zeit und Wetter komplett verloren geht. Leider hat sich der Beginn der gesamten Show verzögert, sodass ich dann doch noch in den Genuss des Auftrittes von Mary Ochers experimental theatrical Punk komme, den ich – klug geworden durch ähnliche Veranstaltungen – eigentlich bewusst verpassen wollte. Naja, habe ich meine Punk Royal-Jacke wenigstens nicht umsonst angezogen. Ansonsten wird es dank Marys Auftritt Zeit für den ersten Drink der Popkomm, wovon ich bislang aufgrund von Erkältungsnachwehen wohlweislich Abstand genommen habe.

Dann, endlich, kommen The Raw Men Empire, eine „Weird Folk“-Formation, die als „charming lo-fi“ und „Pop Dylan“-artig angekündigt sind. Meine Erwartungen jedenfalls sind hoch; und allein ihnen beim Aufbau – ein T-Shirt-gedämpftes Schlagzeug! eine Ukulele! und allerlei anderes Spaßgeschnassel! – zuzusehen, lässt sie noch weiter steigen. Dies scheint auch für das so unberechenbare Berliner Publikum zu gelten, denn Flashmob-artig ist es voll im Grünen Salon. Und dann spielen sie. Nein, The Raw Men Empire sind nicht King Oliver’s Revolver. Aber dafür, was sie machen, sind sie sehr sehr lustig – und haben einen wirklich unglaublichen Schlagzeuger, den man glatt entführen müsste.


Lassen Sie sich nicht einlullen. Warten Sie Minute 3:38 ab …

Spätestens mit Song Nummer vier – Israeli Women are the best-looking Women in the World – haben Tsvika Frosh (lyrics, music, vocals, guitar, flute), Yonatan Miller (guitar, vocals, smile), Nadav Lazar (bass, glockenspiel, percussion, guitar, melodica, programming, vocals) und Itai Kaufman (beatbox, percussion, bass, melodica, vocals) die Berliner endgültig überzeugt.

Kaufen Sie die EP – Sie bekommen sie zum Beispiel auf www.myspace.com/therawmenempire oder therawmenempire.bandcamp.com

8. September 2011

Alles wird kleiner – aber auch besser?
Die Popkomm 2011, Tag 1

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 13:35

Ich habe rasende Kopfschmerzen. Die Nacht war nicht gut, und jetzt ist die Stimmung entsprechend. Die Eröffnungsveranstaltung Popkomm 2011 jedenfalls schwänze ich, was insofern schade ist, als dort Schwedens Außenhandelsministerin Ewa Björling sprechen wird und ich im Moment Dank King Oliver’s Revolver riesiger Fan des schwedischen Musikexportes bin.

Als ich auf dem Messegelände ankomme und erwartungsvoll den Schwedischen Stand aufsuche, ist die Enttäuschung jedoch groß. Bezeichnenderweise findet sich auf dem Ländersampler Sweden @ Popkomm 2011 nicht das kleinste Fitzelchen Weird Folk Funk Surf Whatever Crazy Stuff, sondern ziemlich unausgegorenes Zeug und damit eher das, was die Franzosen als Le Rock bezeichnen. Disco gibt es noch und Electro-Clash – das klingt alles eher nach Eurovision Song Contest und hat einfach mal so überhaupt keinen Groove. Einzig cool bei den Schweden dieses Jahr: Die Pop-Rock-Punk-Mädels von Tantrum To Blind. Ziemlich geil finde ich auch Corroded, aber dafür muss man schon eine ausgeprägte Schwermetallader haben oder zumindest irgendwann im Leben mal Metalhead gewesen sein.

Dann gibt es noch ein Cover von The one and only – das Original von Chesney Hawks war ja schon schlimm, aber die Version von Andres Fernette toppt das locker. Einmal mehr frage ich mich, wer diese Sampler zusammenstellt, die für ein Land angeblich repräsentativ sein sollen. Um Klassen besser ist da schon Out of Norway mit Künstlern wie Kaizers Orchestra, Blind Archery Club oder Elly Marvellous. Phantastisch: Anette Askvik mit Liberty. Wer Kate Bush mag, wird das hier lieben:

Mindestens genau so hörenswert: Hasse Farmen mit Lang het sommer, Live Foyn Fris mit Make Me Smile und Jenny Moe mit Mon Capitaine. Oder Phone Joan mit Na na na na na mit seinen Gitarrensoli, wie sie seit den Achtzigerjahren verboten, aber nichtsdestoweniger großartig sind. Vermutlich kann man zurzeit einfach kein Norweger sein und schlechte Musik machen. Aber auch hier fehlen mir aktuelle Lieblinge wie Major Parkinson, Thomas Dybdahl oder Katzenjammer, von All-Time-Favorites wie Bugge Wesseltoft ganz zu schweigen.

Finland bringt wie immer ein massives 4-CD-Päckchen unter die Leute, unterteilt in die Genres Indie/Electronic, Pop/Rock, Hard Rock/Metal und World/Jazz. Auf Letzterer gibt es nicht nur mit dem Tango-Orkesteri Unto, sondern auch mit Johanna Juhola Reaktori und Pipoka schönen finnischen Tango zu hören – genau das Richtige für einen latent depressiven Morning After nach dem ersten Messetag. Finnischer Klezmer (Sväng mit Schladtzshe) ist auch nicht unbedingt als Ausbund der Fröhlichkeit zu bezeichnen, aber nichtsdestotrotz großartige Musik. Ganz kurz ärgere ich mich noch über diese idiotische Zuordnung zum meiner Ansicht nach non-existenten Genre „World“ – Denn mal ehrlich, was haben Tango und Klezmer gemein, dass man sie in eine Schublade steckt? Und weshalb muss man das Ganze dann noch mit Jazz zwangsvergesellschaften? –, aber das ist ein anderes Problem. Vorerst müssen wir mit dieser Subsummierung leben, ob und das nun gefällt oder nicht. (Weshalb es uns nicht gefällt, kann der interessierte Leser in dieser schönen Streitschrift nachlesen.)

Auch Maria Kalaniemi mit ihrem Akkordeon und Elfengesang versteht es, einem aufs Gemüt zu schlagen. Die können einen schon runterziehen, diese Finnen! Naja, mit irgendetwas muss sich die höchste Selbstmordrate weltweit ja erklären. Dann allerdings geigt man sich mit Frigg plötzlich in sonnigere Gefilde, und unwillkürlich fragt man sich, ob es in Finland auch Hardanger-Fiedeln gibt. Endgültig happy werden die Finnen mit der Bad Ass Brass Band, und die ist – nomen es omen – definitiv eine Entdeckung! Finnischer Balkan-Brass? Geht! Irland hat mit seinem Kopfhörercover zumindest den Preis für die schönste CD verdient.

Neben teils seltsamer Musikauswahl haben sich die Nordlichter dankenswerterweise auf ihre große Stärke besonnen und vorsorglich die gemeinschaftlich betriebene Nordic Bar aufgebaut.

Wie gut, dass ich noch von letztem Jahr weiß, wo die dem Messegelände nächstgelegene Apotheke ist. Das kleine Apothekchen „am Flughafen“ sieht sich einmal im Jahr mit einem unerwarteten Besucheransturm konfrontiert, meine Kollegen stehen nach Kopfschmerztabletten Schlange. Und dabei ist heute gerade mal der erste Tag! Genügend Entspannungsmöglichkeiten gibt es jedenfalls, ob mit der mobilen Masseurinnen oder mit einladenden Sitz- oder vielmehr Lümmelgelegenheiten.

Ohnehin hat man gelernt. Alles ist kompakter und funktionaler, vor allem aber noch kleiner geworden als im Vorjahr. Gleichgeblieben ist die wegweisende Verwirrung. Auf die Frage, wo ich denn eine warme Mahlzeit herbekomme, schickt man mich von unten nach oben und von dort wieder runter. In der Tat kann man das warme Essen in der Main Hall beinahe übersehen. Es stehen exakt zwei warme Gerichte zur Auswahl, eine Paella-Pfanne und eine Steak-Pfanne. Die Lasange und damit das einzige vegetarische Gericht ist aus – ein krasser Gegensatz zum vorigen Jahr, wo man mit Jamaican Food und Organic Food und was-auch-immer-Food aufwartete. Wer konkurrenzlos ist, kann es dafür aber auch von den Lebendigen nehmen. Für solch ein Winzpfännchen werden dann eben mal sechs Euro fällig.

Da das hier natürlich nicht sättigt, steht man danach automatisch für ein weiteres Sandwich Schlange. Und draußen, wo letztes Jahr eine komplette Bio-Fressmeile aufgebaut war, herrscht tote Hose, ebenso auf den Emporen, wo es statt weiterer Labels schlichte Rückzugsmöglichkeiten für Sprecher, Hostessen und die Presse gibt. Und auch der eine oder andere Meetingraum findet sich hier.


Wo früher die Administration von Laurèl Airlines saß, kann heute die Presse ihre Texte an die Redaktion schicken, drucken, faxen – oder einfach auf Facebook surfen, was die meist aufgerufene Website der Messe sein dürfte. Auf welchen Bildschirm man auch einen Blick erhascht, überall sieht man Kollegen, die ihr FB-Profil auf den neuesten Stand bringen.

Die Atmosphäre mag man nur mit viel gutem Willen als „voller Flughafencharme“ bezeichnen. Die passendere – und vor allem ehrlichere – Bezeichnung indessen wäre „trostlos“. Zumindest funktioniert alles, denn die diejährige Popkomm erweist sich als gnadenlos effizient. Zeit und Muße für einen spontanen, unverbindlichen Schnack bleibt da kaum. Wer im Vorfeld keinen Termin gemacht hat, hat schlicht und ergreifend Pech gehabt. Dafür allerdings hätte es auch gereicht, die große Halle zu buchen und Freibier auszuschenken – das bisschen Drumherum interessiert hier sowieso keinen.

Auch der Stand der H’Art-Vertriebes, der im Vorjahr noch eine stattliche Fläche einnahm, ist erheblich geschrumpft. Bier getrunken wird dort indessen noch immer, die H’Art-CDs allerdings gehütet wie der eigene Augapfel. Wo mir voriges Jahr noch mehr CDs aufgenötigt wurden, als ich tragen konnte – darunter die wunderbare Mystefé me, My Heart Belongs to Cecilia Winter und Chill’n’Michael, die ich alle gern rezensiert habe, höre ich dieses Jahr gleich von drei Mitarbeitern: „Unsere CDs sind aber keine Promo-Exemplare.“ Ist ja schon gut, ich wollte auch nur mal gucken. Viel Neues sehe ich ohnehin nicht. Eine Acid-Jazz-Compilation weckt meine Aufmerksamkeit, aber nicht einmal das aus-dem-Regal-Holen der CD und Lesen der Rückseite ist gern gesehen.

Ein weiteres Cover spricht mich an, denn es verspricht schummerige Stunden irgendwo zwischen Luxushotellaken und Jazzspelunke: Gaslight von fDeluxe. Was das denn für Musik sein, möchte ich wissen. Genau diese eine CD habe er nicht gehört, bedauert der zuständige H’Art-Mitarbeiter. Dem Label zufolge aber etwas Smooth-Jazziges. Ob ich mal hineinhören könne? Leider gäbe es keine Hörstationen. Wo ich die CD denn hören könne? Ich solle doch auf Amazon.de gehen. Wahrscheinlich sprach mein Blick Bände, jedenfalls habe ich das kostbare und nicht zu vergebene Stück schlussendlich doch ausgehändigt bekommen, um es zu Hause in Ruhe zu hören. Das erleichtert die Arbeit des Klangverführers, der es sich auf die Fahnen geschrieben hat, seine Leser kontinuierlich mit guter Musik zu versorgen, dann doch ungemein.

Allerdings stellt diese unerwartete Freigiebigkeit vor ein neues Dilemma, denn die CD ist nett anzuhören, ich möchte sie den Klangblog-Lesern gern ans Herz legen. Immerhin trifft sich auf Gaslight Rock mit Funk mit Jazz mit Club – smooth ist daran zwar so gar nichts, dafür ist das Ganze sehr tanzbar. Wie eine Transformation von Acid Jazz in die 2010er-Jahre. Ein bisschen Brand New Heavies, ein bisschen Cultured Pearls, nur weniger Lounge und dafür mehr Bebop. Nikka Costa mit mehr Bläsern. Und Prince schaut auch mehr als einmal um die Ecke. Sehr cool: Track fünf, @8. Das Dilemma an der Sache? Das Album ist nicht überall erhältlich; wer es haben möchte, solle sich doch ebenfalls vertrauensvoll an Amazon wenden – dort sei „die Chance noch am höchsten“, lässt der H’Art-Mitarbeiter wissen. Auch ein seltsames Geschäftsmodell für einen Vertrieb: Mit Musik auf eine Messe zu gehen, die nicht überall zu haben ist.

Dann lieber doch wieder zu den Länderbüros. Bei den Ösis – Claim: Austria sounds great! – gibt es Salami mit Chilligeschmack, die Argentinier haben mit dem Bajafondo-Tangoclub feinsten Electro-Tango im Gepäck – leider habe ich den schon 2003 in Buenos Aires entdeckt, und ich mag kaum glauben, dass sich seitdem nichts Spektakuläres in Sachen bonarenser Clubszene getan hat. Die vertretungsweise gebriefte Hostess weiß auch nicht wirklich viel darüber, der Standinhaber ist nicht aufzutreiben. Sie preist noch die Showcases von Tremor („a fusion between Argentine folkloric music and digital production“) und Mati Zundel („different styles of Latin American folklore from Argentine chacareras and vidalas all the way to Peruvian huaynos and Mexican sonideros“) an. Och nö. Die definitiv schönste Standdeko hat Tallinn mit einer Kopfhörerelchmama samt Babyelch.

Für weniger rührselige Naturen hält Tallinn aber auch eine ganze Kühlbox  Saku bereit; und gleich daneben hat Heineken eine grüne Lounge aufgebaut.

Der Gemeinschaftsstand der PopAkademie Baden-Württembrg und der Stadt Mannheim hat wieder mal den schönsten Claim. War es im Vorjahr „Wenn Popstar, dann mit Abschluss“, ist es diesmal ein plakatives „Wir hassen Musik“. Wer genau hinsieht, kann aber den Zusatz „wenn sie aus ist“ entdecken.

Zudem beweist man mit dem popakademie mixtape no. 01, das Künstler wie Abby, Reich und Schön oder Alina Wichmann featured, dass es auf der Popkomm sehr wohl frische neue Musik zu entdecken gibt. Und es ist definitiv symptomatisch für die Branche, wenn Studenten bzw. Jung-Absolventen dank Marie & The Redcats mit So Many Birds das schönste Lied der Popkomm machen.

Ansonsten findet die Musik auch dieses Jahr außerhalb der Popkomm statt, ob mit Berlin Music Week oder Berlin Festival. Wenn man die Musik dann aber erst einmal aufgespürt hat, lässt sich festhalten: Alles wird besser.

Indessen ändert dies nichts an den hinlänglich bekannten Herausforderungen, denen sich die Musikindustrie stellen muss, wenn sie nicht endgültig von den Entwicklungen, die bislang ohne sie stattfinden, überrollt werden möchte. Die Titel der Keynotes, Panels und Workshops sprechen da Bände. „How to do digital marketing“, fragt man sich dort, oder „What is the future of music online?“, nur um am Schluss zu resignieren: „Why they will not even steal your music any more!“ Die Branche singt auch dieses Jahr wieder ihren eigenen Schwanengesang.

Davon morgen mehr. Ich muss mir jetzt erst einmal ein vernünftiges Essen kochen. Sie als fleißiger Klangblog-Leser können alldieweil zwei dieser hübschen Popkomm 2011-Taschen abstauben. Schreiben Sie einfach eine Mail an kontakt@klangverfuehrer.de

23. September 2010

Neustart oder Fehlstart? Popkomm reloaded

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 11:39

Und immer wieder Popkomm: „Mittwochs beschnuppert man sich, donnerstags macht man Verträge, freitags wird gefeiert“. Dies und mehr lesen Sie im vollständigen Messebericht auf fairaudio.de – über ein neues Konzept, das recht eigentlich ein altbewährtes ist, über den rührenden Versuch, alles anders machen zu wollen als bisher und weshalb zum publikumsoffenen „Public Day“ alles, was für den Musikfan von Interesse sein könnte, sicherheitshalber abgebaut wird. Nicht zuletzt erfahren Sie, weshalb dann doch stark bezweifelt werden darf, ob Gott ein Ohrstöpsel ist.

12. September 2010

Der Popkomm neue Kleider: Über eine Musikmesse, die alles anders machen möchte als bisher

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , , — VSz | Klangverführer @ 17:17

Das geht ja schon mal wieder gut los. Statt der angekündigten 10:00 Uhr öffnet der Presse-Akkreditierungs-Counter kurz vor elf. Die wartende Journaille, die über die Gründe der Verzögerung zu informieren man erst auf Nachfrage für nötig befindet, wird lapidar mit „technische Probleme“ beschieden. Als es endlich los geht, stellen wir allesamt fest, am falschen Counter gewartet zu haben. Dieser war nur für das Berlin Festival, nicht für die Popkomm. Zwar kommt man mit Popkomm-Badge auf das Berlin Festival, umgekehrt jedoch nicht. Weshalb dann ausgerechnet dieser Counter mit großen Presse-Akkreditierungs-Schild vor dem Eingang aufgebaut ist, bleibt ein Geheimnis. Meine Kollegen und ich fragen uns durch zur Popkomm-Akkreditierung, und einmal gefunden – was so einfach nicht ist, da jeder Security-Mensch seine eigene Vorstellung davon hat –, räumt die Popkomm-Presseverantwortliche sekundenschnell und unbürokratisch letzte Hindernisse, geschuldet einer geistig etwas schwerfälligen Hostess, aus dem Weg. Da kann man nicht meckern, würde der Berliner sagen, wenn man sich erstmal zur Presseverantwortlichen vorgearbeitet hat, ist die Betreuung vorzüglich. Das Chaos bezüglich des Was-ist-wo? bleibt allerdings. Garderobe? Weiß niemand. Auch am dritten Messetag nicht. Jazzkomm? Keine Ahnung, man solle einfach mal auf den Plan schauen. Ich spreche mit Mitarbeitern und Ausstellern, und alle halten die neue Location im ehemaligen Flughafen Berlin-Tempelhof für, gelinde ausgedrückt, „unglücklich“ gewählt. Niemand versteht das Gelände, die Wege sind lang, eine Ausstellerin vertraute mir an, sie habe es gesehen und spontan „Oh Gott“ gedacht. Wo der Eingang zum Fachbesucherbereich ist, wird nur im Trial-and-Error-Prinzip klar.


Die Location mit ihrem 30er-Jahre-Charme ist erst einmal gewöhnungsbedürftig.

Endlich drin, treffe ich sogleich auf den Wettbewerb, wie man neuerdings so schön formuliert. Früher hätte man gesagt: die Konkurrenz. Ronson Jonson, ebenfalls Musikwissenschaftler, ebenfalls Autor bei einem Hifi-Magazin und obendrein auch noch Musiker, der – und hier kommt jetzt doch ein Fünkchen Neid auf – im Gegensatz zu mir auch aktiv ist. Er drückt mir seine letzte Produktion in die Hand: Natascha Leonie, Forget Humble. Die CD der Frankfurter Indie-Folk-Sängerin/Songwriterin mit Hang zur Melancholie hat ein hübsches Artwork, ich bin gespannt, ob sie hält, was es verspricht. Beim Hören zu Hause soll sich das Album über „Leben und Lieben und Verlassen und Verlassenwerden“ als ganz zauberhaft erweisen und, das wird sich viel später herausstellen, zudem als eines der besten, die ich von der Popkomm mitgenommen habe.

Bei der Fortsetzung meines Streifzuges stoße ich auf Ulrich Sourisseau, den Macher des Vinylrecorders T-560 – einem Gerät, welches es ermöglicht, eigene Schallplatten in Kleinst- oder gar Einzelauflage ganz ohne Presswerk herzustellen, sprich: zu schneiden. Ein speziell beschichteter Diamantschneidestichel fräst tiefe Rillen in eine sich in Abspielgeschwindigkeit drehende Leerplatte, indem er von Spulen, an denen das verstärkte Mono- oder Stereosignal anliegt, vertikal bzw. horizontal zur Plattenoberfläche bewegt wird. Das Besondere am T-560 nun aber ist die um 45 Grad gedrehte horizontale wie auch vertikale Modulation, die ein Stereosignal in einer einzigen Rille ermöglicht – die Piktogramme hier veranschaulichen den Vorgang besser als ich ihn beschreiben kann! Warmen Vinylsound verspricht das Ergebnis. Dann zeigt mir einer der beiden seinen ganzen Stolz, den Vakuumabsauger, der dafür sorgt, den aus der Rille herausgeschnittenen Span gleichzeitig mit dem Schneidevorgang zu entfernen.

Auf Sourisseaus Webpräsenz www.vinylrecorder.com gibt es neben anschaulichen Infos rund um den T-560 sogar so etwas wie Elektroakustikpoesie, beispielsweise eine Art Haiku zum Tod des Stichels:

    Der Stichel stirbt langsam,
    Jede Schallplatte ein wenig!
    Die Geräusche werden lauter,
    die Höhen schwächer!

In einschlägigen DJ-Foren jedenfalls wird intensiv über Sinn oder Unsinn des T-560 debattiert. Fakt ist, dass mit ihm bislang unbezahlbare Dubplate Schneidemaschinen erschwinglich werden. Fakt ist aber auch, dass der Vorgang des Schallplatteschneidens nicht vergleichbar ist mit mal eben eine CD brennen – zu abhängig ist er von Peripherie und nicht zuletzt audiotechnischem Vorwissen – da kann es sein, dass man gute zehn Leerplatten verbrät, bevor man endlich die richtigen Einstellungen gefunden hat. Aber dann! Anschauen kann man sich die ganze Sache hier.


Vor dem VUT-Stand wird auch schon mal lebhaft diskutiert.

Wer sich dann doch lieber auf ein Kleinstauflagenpresswerk verlassen möchte, wird schräg gegenüber fündig – beim Gemeinschaftsstand des VUT, des Verbandes unabhängiger Musikunternehmen, dessen einem oder anderen Mitglied ich schon im Frühjahr bei der (Pop Up über den Weg gelaufen bin. Hier gibt es nicht nur wieder die Rohmasse Vinyl in allen Farben des Regenbogens zu bewundern, sondern auch die ziemlich martialisch anmutende Goldene Indie-Axt, mit der demnächst eine Person geehrt werden soll, die „die für den ideellen, kulturellen und/oder den wirtschaftlichen Erfolg der unabhängigen Musikunternehmen mutigen, unkonventionellen und wirksamen Einsatz gezeigt hat“. Auf der Popkomm ist der VUT unter dem Motto „Independent Business Class” mit 64 Musikunternehmen aus ganz Deutschland vertreten, unter anderem alte Bekannte wie PIAS Germany oder Uwe Kerkau Promotion, und natürlich gibt es neben Informationen zum deutschen Independent Markt auch wieder eine Vinylproduktionsstraße, anhand derer Björn Bieber vom Vinylduplicationunternehmen Flight 13 erklärt, wie das „schwarze Gold“ der Musikindustrie von der Rohmasse zur fertigen Schallplatte wird.

Ein Schwerpunkt liegt auf Musikunternehmen aus Berlin und Brandenburg, und so verwundert es nicht, dass ich am Stand der Tonkooperative auch hier so manchen Bekannten der (Pop Up wiedertreffe, wie beispielsweise Eastblok Music mit ihren Balkan Grooves, die – was lange währt, wird gut – jetzt aber wirklich in der kommenden Ausgabe von Victoriah’s Music besprochen werden (sollen). Neben dem ebenso engagierten wie sympathischen VUT wird Deutschland auf der Popkomm von einem Stand Baden-Württembergs vertreten, der beweist, dass man im Ländle Wert auf eine solide Ausbildung legt. Mit dem Slogan Wenn schon Popstar, dann mit Abschluss wirbt das „Bundesland der Superlative“ für die Mannheimer Pop-Akademie, wo sich ein Bachelor in Studiengängen wie Musikbusiness oder Popmusikdesign (Claim: „Musikalisches Talent entwickeln, Kreativität wecken, Potenzial beschleunigen“) erwerben lässt. Bezeichnenderweise ist dies der größte Stand der ganzen Messe.

Gleich neben den deutschen Ständen finden sich unsere unmittelbaren Nachbarn, die Österreicher und Schweizer. Wo mir die ersten einen allzu kommerziellen Sampler bereit zu halten scheinen – wo sind so großartige Österreichische Musiker wie beispielsweise die Wiener Tschuschenkappelle, wo Electric Poetry & Lo-Fi Cookies? –, kann die Schweiz mit vier Compilations aufwarten, darunter jazz. made in switzerland. selection 2009/2010, die zu meiner großen Freude auch den Track It’s a Sonic Life von Rusconi featuret. Ich komme mit dem netten Schweizer Repräsentanten ins Gespräch, und er empfiehlt mir eine Art Schweizer My Space, welches sich als wahre Fundgrube in Sachen Schweizer Musikszene im Allgemeinen und Jazz im Besonderen erweisen soll: www.mx3.ch.

Was ansonsten von dem Trend zu halten ist, dass die verschiedenen Länder – allen voran die Nordlichter, neben Kanada die Iren, Dänemark, Schweden und natürlich Norwegen und Finnland – ihre staatlich subventionierten Musikexportbüros auf die Messe schicken … darüber soll lieber geschwiegen werden. Auch Südafrika, durch die WM dieses Jahr ein Must, ist mit einer „Collection of South African Songs“ vertreten. Ich denke Vuvuzela und mache mich aus dem Staub. Vielleicht bin ich ignorant, aber ich halte es für ohnehin nur schwerlich vorstellbar, dass die in den Büros zur Förderung des Musikexportes ausgewählte Musik wirklich dem Neuen, Überraschenden oder gar dem ein oder anderen Geheimtipp des jeweiligen Landes gerecht werden kann. Experimentelles? Fehlanzeige! Kein Wunder, dass viele Länderrepräsentanten im persönlichen Gespräch mehr als auf ihre Musiksampler verschämt auf einschlägige Internetadressen verweisen, wo man dann die „wirklich gute“ Musik findet. Und so lebt der Export dann auch eher von Mundpropaganda und Myspace als vom Musikexportbüro. Doch das nur am Rande.

Einen der beiden Seitengänge, die den Besucher nach Durchquerung eines schier unendlich langen Flughafenflurs in Form einer T-Gabelung erwarten, habe ich abgelaufen und kann eine aufkommendes Gefühl der Enttäuschung über das Angebot der Popkomm nicht unterdrücken. Deshalb die Stunde Anstehen am Morgen? Na, ich weiß nicht. Zufällig schnappe ich dann im Vorbeigehen auf, wie ein junger Mann und eine Frau einem Popkomm-Mitarbeiter die richtige Aussprache eines ungarischen Wortes nahebringen wollen. Es stellt sich heraus, dass es sich um den 1980 in Ungarn geborenen, aber in Deutschland aufgewachsenen Chansonnier Ivan und seine Managerin handelt. Der junge Barde versucht, enttäuscht von seinem Vaterland („Ungarn sprechen keine Sprachen“) von Berlin aus im europäischen Musikmarkt Fuß zu fassen. Seine für die Popkomm zusammengestellte 5-Track-Promo-EP beeindruckt dann auch zunächst durch eine demonstrative Multilingualität. Ivan singt auf ungarisch, englisch, spanisch, französisch, die Musik bleibt aber trotz eines Édith Piaf Covers sehr im Euro-Beat-Bereich mit überladenen Backgroundchören und Plastikschlagzeug verhaftet, genau so wie das mit Meer und Sonnenuntergang kein Klischee auslassende Video. Leider hört man für meine Begriffe den gelernten Musical- bzw. Operettensänger allzu deutlich durch, in der Eurovision Song Contest Ecke könnte jemand wie Ivan allerdings funktionieren – zudem der Sänger neben seinem weichen lyrischen Tenor über ein äußerst ansprechendes Äußeres verfügt. Wenn Berlin ihm jetzt noch ein paar Ecken und Kanten verpasst – und welcher Zuzügler ist davon je verschont geblieben? –, dann könnte das etwas werden. Allerdings eher auf der Musiktheater- denn der Rock-Bühne. Und das ist durchaus legitim, schließlich hat bei uns ein Alexander Klaws seine musikalische Heimat auch im Musical gefunden. Zwei Tage später bemerke ich allerdings, dass mir die weiter oben bemängelten Chöre von Új vágy ébred bennem nicht mehr aus dem Kopf gehen, dessen englische Übersetzung A new day is dawning es nur sinngemäß trifft – wortwörtlich genommen bedeutet der Titel soviel wie „ein neues Verlangen erwacht in mir“, und hierzulande denkt man dann natürlich an das ach-so-feurige Gulasch-Paprika-Csárdás-Puszta-Klischee, an gefährlich-edle Hunnen, halbwilde Reiterhirten oder glutäugige Zigeuner. Sorry, aber für irgendetwas muss so ein Hungarologie-Studium ja gut sein! Also, Ivan erweist sich am Ende des Tages als formidalbler Ohrwurm, obwohl er so ganz und gar nicht „meine“ Musik macht.

Mittlerweile bin ich vom Laufen, Hören und Reden schlicht platt. Ich brauche eine Pause und vor allem neue Energie. Die wird auch hier bevorzugt durch veganes bzw. organisches Essen geliefert – das war ja schon auf der (Pop Up so und bestätigt wieder einmal die These des Musikers als ziemlich heiklem Esser. (Wer einen wirklich heiklen Esser erleben möchte, ist herzlich eingeladen, sich einmal Kopfhörerhund anzuschauen: der ist das, was man einen „Futtermäkler“ nennt und treibt mich damit regelmäßig an den Rand des Wahnsinns, aber das nur nebenbei.)


Völkerverständigung der besonderen Art: Jamaikanische Gemüse-Reis-Pfanne trifft
auf bayuwarische Bierzelt-Tischdecke. Und ja, das schmeckt bedeutend besser als es aussieht.

Frisch gestärkt widme ich mich dem zweiten Gang der T-Gabelung, der mit Ausstellern aus der privaten Musikwirtschaft aufwartet. Universal Music beispielsweise ist dort. Machen indessen tun sie nichts. Sie sind einfach nur da. Allerdings hat man vom ganz in blau gehaltenen Universal-Stand einen hübschen Ausblick auf das Rollfeld. Der Blick ins Schaufenster des H’Art-Standes ist auch hübsch und lässt mich schmunzeln. Die Compliation-Reihe Chill n’ X (also Chill n’ Flamenco, Chill n’ Jazz, Chill n’ Lounge etc.) wurde um Chill n’ Michael – ein “Chill Out Tribute to Michael Jackson” ergänzt. Die nette Dame von H’Art versichert mir auf meine zaghaft hervorgebrachten Zweifel, dass das Konzept aufgehe und „keine Blasphemie“ sei. Zu Hause stellt sich heraus, dass sie Recht behalten soll. Schon der erste Track, eine Neueinspielung von Thriller durch Jingo feat. Lafemme, funktioniert. Ebenso Billie Jean von Hypnomusic. Großartig ist das schon fast ins Reggae-artige verschleppte Wanna Be Startin’ Somethin’ von Funky Rhythm Affair, die klar machen, dass hier gar nichts gestartet, sondern erst einmal gepflegt abgehangen wird! Heal The World, einer der wenigen Jackson-Tracks, die ich schon in der Originalversion nicht mag, hätte meiner Meinung nach nicht sein müssen – schon das weltverbesserische Thema eignet sich nicht zum Loungen. Ansonsten aber bin ich von dem Album sehr angetan. Auf Chill n’ Michael will man Michael Jackson nicht covern – was ja auch zwangsläufig schief gehen müsste! –, sondern seine Musik ins Chill-Out-Idiom übersetzen, was sie klingen lässt wie eine neue Platte von Sade. Laszive Frauenstimmen singen Jacksons Kompositionen in Zeitlupentempo – das ist tatsächlich schön.

Neben der Chill n’ X und Bossa n’ X (also Bossa n‘ Stones, Bossa n‘ Roses, Bossa n‘ Ramones, Bossa n‘ Marley etc.) habe ich den H’Art-Vertrieb bislang vor allem für seine Beginner’s Guide To-Serie geschätzt. Der Beginner’s Guide To Eastern Europe beispielsweise bietet – ganz im Gegensatz zu den Zusammenstellungen der Länderbüros – einen wirklich guten und fundierten Querschnitt durch Balkan Club, Balkan Brass & Gypsy wie Eastern Rock&Fusion – ein idealer Ausgangspunkt für alle, die vorhaben, sich in das Genre zu vertiefen. Ich selbst habe damals den Beginner’s Guide to Tango zum Ausgangpunkt meiner Recherchen genommen, als ich zu der rioplatensischen Musik gefunden hatte. Tango gibt es bei H’Art auch jetzt noch, nur diesmal in Form eines „essenziellen Samplers“, der auch vor der Elektronisierung des Genres nicht die Augen verschließt und so auch neben klassisch agierenden Tango-Orchestern und -Sängern einiges an Electrotango bereit hält.


Am H’Art-Stand gibt es CDs, CDs, CDs … ach ja, und Dosenbier!

Wirklich überrascht bin ich allerdings, dass der Vertrieb auch Solokünstler bzw. Bands jenseits der hundertsten Remastering-Serie im Programm hat. Beispielsweise Joyce, allerdings nicht mit der jüngst erschienenen Slow Music, sondern mit einer Kollaboration mit einem meiner Lieblingskünstler, Bugge Wesseltoft (Ja, der Herr am Norwegen-Stand hat mir beigebracht, den Vornamen auszusprechen. Und ich habe es schon wieder vergessen.) Oder das Zürcher Trio My Heart Belongs To Cecilia Winter, das sich in den letzten zwei Jahren den Ruf als „die neuen Arcade Fire“ erspielen konnte. Oder eine deutsch-kanadische Jazzsängerin namens Mystéfy, die man mir mit besonderem Nachdruck ans Herz bzw. Ohr legte. Ihr Showcase im Rahmen der Jazzkomm am Vorabend hatte ich leider verpasst, und als ich das Album zu Hause zum ersten Mal hörte, dachte ich, sehr schön, aber nichts Besonderes, live hingegen bestimmt ganz zauberhaft. Aber je öfter ich es hörte, desto mehr zog es mich in seinen Bann. Schließlich wurde Mystéfy Me zum Soundtrack einr durcharbeiteten Nacht – bislang leistete mir in diesen Fällen stets Buster Williams’ Griot Liberté zuverlässige Dienste –, und ich bin überzeugt, dass es keinen besseren hätte geben können. Zu später Stunde entfaltet dieses Album, was anfänglich sehr nach Standards und tausendmal gehört klingt, seine ganz spezielle Mystik. Endlich ein Stand, wo es das gab, weshalb ich hierher gekommen bin: gute neue Musik.

Enttäuschung und Verzweiflung weichen nahezu vollständig, als ich – jenseits der Fachbesucherzone, gewissermaßen auf der Empore der Haupthalle – die kleinen feinen Jazz-Stände entdecke, namentlich jene vom Jazz-NuJazz-Lounge-Electro-Label Ozella Music, das bei Jazz-Heads mit Künstlern wie Karl Segem, Randi Tytingvåg oder dem Helge Lien Trio reüssiert, dem breiteren Publikum aber eher durch Produktionen wie Henschkeschlotts Café Thiossane, dem „Kind of Blue der Lounge Generation“ oder seine The Sound-Reihe bekannt sein dürfte. Ich habe die Möglichkeit, mit Labelgründer Dagobert Böhm ins Gespräch zu kommen und freue mich darauf, in den kommenden Ausgaben von Victoriah’s Music einige seiner Kleinode zu besprechen. Ozella teilt sich den Stand mit dem Verein Jazz&World Partners, der jedes Jahr die kleine, aber sehr feine Compilation Hörvergnügen (nicht zu verwechseln mit Schöner Hören vom Kultur Spiegel) herausgibt. Verbindendes Element ist Randi Tytingvåg, die sich auf dem diesjährigen Sampler findet. Aber auch sonst gibt es im siebten Jahrgang Musik(er) jenseits des Mainstreams zu entdecken. Besondern gut gefällt mir diesmal Daniel Stelter, der mit seinen Homebrew Songs eine „Gitarrenplatte der anderen Art“ vorgelegt hat und dessen hier zu hörender Track Flutter groovt wie nichts Gutes – ebenso wie die Circles des Samuel Jersak Trios, eine klassische Soulnummer à la Anita Baker mit Debby Van Dooren an den Vocals. Der Klezmer’s Freilach von Ausnahmegeigerin Martina Eisenreich kommt in seinem aberwitzigen Tempo einem Ritt durch Paganinis Capricen gleich, James „Blood“ Ulmer überzeugt mit kompromisslosem, zeitgenössischen Blues. Oder gefällt mir am Ende doch The Gaze vom Tord Gustavsen Ensemble am besten, was auf leisen semi-orientalischen Sohlen heranschleicht? Es gibt in jedem Falle viel zu entdecken, und selbst Liebhaber von Außereuropäischem, Progressivem oder Free Jazzigem werden mit Hörvergnügen 7 auf ihre Kosten kommen.


Ozella bringt seine Schätzchen auch auf Vinyl heraus. Ganz groß: Edgar Knecht mit Good Morning Lilofee, wo urdeutsches Liedgut einer jazzigen Frischzellenkur unterzogen wird.

Vernachlässigt man mal den Stand der Russen, die mit einer vermeintlich an die gute alte Zarenzeit gemahnenden Schnörkelmöbeleinrichtung und vorgeschaltetem Video mit zwei Silikon-Blondinen à la Donatella Versace und einem Belusconi-Verschnitt – recht eigentlich handelt es sich um das TV-Projet Moscow Star – schon so sehr nach postsozialistischem Hinterzimmergeklüngel aussehen, dass ich mich gar nicht hinein traue, bietet die Empore nur Highlights für die Nujazz-Fraktion: Ich entdecke nämlich den Stand der Holländer und ihr Dutch NuJazz Movement, außerdem das kammermusikalisch anmutende Berliner Duo Piadeux, bestehend aus Silva Finger an der Violine und Gerhard A. Schiewe am Akkordeon, das seine musikalische Verwandtschaft zu Piazolla nicht verhehlen kann. Jepp, hier oben sind ganz klar „meine“ Stände, hier bin ich richtig.


Klangtapete mal anders

Zum Schluss schaue ich in der Haupthalle des Flughafens noch bei tape.tv und den Merchandisern von Trashmark vorbei, und lasse den Messetag bei einem DJ-Set vor der Musikbox, einer Art von der Berliner Clubcommission organisiertem interaktiven Club in der Box, ausklingen. Der amtierende DJ spielt eine housige Version von Sexual Healing, und gerade, als ich mich frage, wer denn da auflegt, fällt einem Musikboxmitarbeiter auf, dass ja, oh Schreck, ein falscher Name im Hintergrund prangt. Und so werde ich Zeugin eines lustigen DJ-wechsel-dich-Spiels:


Huch, dass ist ja gar nicht SQIM …


… fällt einem Mitarbeiter auf!


Wenn man aber das „M“ stehen lässt …


… kommt DJ &ME schneller zu seinem richtigen Namenszug an der Wand!

So ein Messetag hat es immer in sich – weshalb tut man sich das eigentlich an? Die Kataloge und CDs in meinen Taschen werden nicht leichter, meine Füße sind platt und kurzzeitig spiele ich mit dem Gedanken, die vor Ort angebotene Shiatsu-Massage in Anspruch zu nehmen, entscheide mich aber dann ob der Länge (20 Minuten) doch dagegen. Tütenbepackt mache ich mich auf den Heimweg. Und jetzt, auf dem Weg nach draußen, sehe ich auch die Garderobe.


Da Kopfhörerhund erst später abgeholt wird, muss solange seine Ziehtochter, Rottweiler Lieselotte, beschmust werden.

Apropos Kopfhörerhund: Im Gegensatz zur (Pop Up halten sich die musikalischen Hunde auf der Popkomm bis auf Simon White’s White Dog Media Ltd mit dem selbstformulierten Anspruch, „der Body Shop der Musikindustrie“ zu werden, sowie einer Ozella-CD, die nach Auskunft des Label-CEOs „groovt wie Hund“, eher bedeckt. Dafür gibt es einige zwischenmenschliche Begegnungen, die einem schon fast wieder den Glauben an die Musikindustrie zurückgeben können – bezeichnenderweise gehen diese Impulse eher seltener von den Multis und den staatlichen Einrichtungen aus, sondern wie gehabt von jener handvoll Enthusiasten, die trotz aller widrigen Umstände ihre Ideale hochhalten, an eine kompromisslose Musik glauben und ihren Traum nicht aufgeben. Dafür gebührt ihnen allen Respekt und Dank.


Und so sieht das dann aus, wenn man frisch von der Messe kommt. Das muss jetzt alles nur noch gehört und verarbeitet werden … Von den Highlights, die ich sicherlich darunter finden werde, lesen Sie zuverlässig in Victoriah’s Music auf fairaudio.de

12. Mai 2010

Zwischen sympathischen Graffiti, apokalyptischen Szenarien für die Zukunft des Musikjournalismus und kreativen Hunden: die (Pop Up 2010 in Lepzig

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 08:35

Wer nach Leipzig zur Messe gereist,
Ohne auf Auerbachs Hof zu geh’n,
Der schweige still, denn das beweist:
Er hat Leipzig nicht geseh‘n.

Dem alten Spruch zum Trotze reiste Klangverführer am 7. Mai 2010 tatsächlich zur Messe nach Leipzig, ohne auch nur in die Nähe von Auerbachs sagenumwobenem Keller zu gelangen. Gesehen hat er trotzdem viel. Doch dazu später mehr, denn erst einmal galt es, überhaupt nach Leipzig zu kommen, wofür ein schwerwiegendes Opfer gebracht werden musste: das des Früh-Aufstehens. Durch den Schlafmangel bin ich leicht taumelig, ein Gefühl wie Besoffensein, nur billiger. Draußen herrscht Winter. Mit dem schon längst eingemotteten Stepp-Mantel bin ich nicht zu warm angezogen. Was mich immer wieder wundert, wenn es mich einmal um diese Zeit nach draußen verschlägt: Es sind schon Menschen auf der Straße – und nicht wenige! Was machen die nur alle hier? Schließlich ist Wochenende! An der Straßenbahnhaltestelle treffe ich einen von Kopfhörerhunds Freunden, einen bollerköpfigen Rüden. Herrchen verrät mir, dass er gerade von (!) der Arbeit kommt (!). Es gibt durchaus Leute, die schlechter dran sind als ich.

Weil nicht nur Berlin sparen muss, sondern die Wirtschaftskrise auch am Klangverführer nicht spurlos vorbeigegangen ist, sitze ich bald darauf anstatt im bequemen ICE (dreiundvierzig Euro einfache Fahrt) im InterConnex, der zwar nur in Allerherrgottsfrühe abfährt, das dafür aber für neunzehn Euro tut. Was auch heißt, ich habe in Leipzig noch massenhaft Zeit, bevor die Messe öffnet. Ich freue mich auf eine kurze Besichtigung der Stadt – immer-
hin der Studienort meiner Eltern, ohne die es weder mich noch diesen schönen Blog hier gäbe.

Wie gut nur, dass Kopfhörerhund nicht dabei ist! Auf meiner 10-Fahrten-Sammelkarte ist explizit vermerkt: „Gilt nicht für Fahrräder und Hunde!“
Dafür gibt es Kaffee am Platz. Es ist sauber, warm und gemütlich. Was brauch ich schon den ICE! Wenn nur dieser unsägliche Fahrplan nicht wäre …

Als ich in Leipzig ankomme, klärt der Himmel auf. Die Leute sehen alle sehr entspannt aus, und ich schlendere durch die noch leere Altstadt. Die (Pop Up wird ihre Pforten im Werk II am Connewitz erst um 12:00 Uhr öffnen. „Es ist gestern doch recht spät geworden“, erklärt ein sichtlich unausgeschlafener Matthias Puppe, seines Zeichens (Mit-)Organisator und Sprecher der Messe. Ich hole mir meinen Akkreditierungsstempel ab und habe Zeit.


Ohne den hier müssen Journalisten draußen bleiben

Wie es der Zufall will, findet die Messe in der Südvorstadt, direkt am Ende
der Leipziger Szene-Meile Karl-Liebknecht-Straße, statt – dort, wo meine Mutter zu Studentenzeiten gelebt hat.

Ich mache mich auf zu einer privaten Spurensuche. Es duftet nach Flieder
im hochherrschaftlichen Philosophenviertel.


Musikstadt Leipzig. Selbst ans ehemalige Wohnhaus meiner Mutter in der Hardenbergstraße hat jemand einen Notenschlüssel gesprüht.

Dann endlich hat die (Pop Up mit den Wartenden ein Erbarmen und ich stürze mich ins Getümmel. Vorher aber halte ich noch schnell Matthias Puppe mein Aufnahmegerät unter die Nase bzw. vor den Mund.

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Das Klangverführer-5-Minuten-Interview
mit (PopUp-Macher Matthias Puppe

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , — VSz | Klangverführer @ 08:30

Matthias, die Popkomm musste abgesagt werden, die Branchenriesen jammern. Die (Pop Up hingegen, die sich als alternative Messe versteht und vor allem musikalisches Nischendasein beleuchten möchte, boomt: Schon am 2. April war keine Registrierung für Aussteller mehr möglich, weil ihr komplett ausgebucht wart. Wie erklärst du dir, dass gerade die Kleinen der allgemeinen Untergangsstimmung in der Musikbranche trotzen?

Also, zum einen sind wir natürlich nicht so groß wie die Popkomm. Wir haben hier keine riesigen Standflächen, wo sich 200 Aussteller und mehr tummeln können. Wir haben eine seit Jahren kontinuierliche Größe um die 100 Aussteller. Außerdem denke ich, dass auch dadurch, dass wir eine gute Anbindung an die Musikszene an sich haben und die Leute auch wissen, dass es hier quasi um die Kleineren und Mittleren geht und dass das hier ihr Platz ist, es so ist, dass immer relativ schnell sehr sehr viele da sind, die uns auch vertrauen, uns über die Jahre treu geblieben sind und dann auch Neue mitbringen. Wir haben da ehrlich gesagt keine großen Probleme gehabt.

Vertrauen und Neue mitbringen – vielleicht auch in dem Sinne, dass in der unabhängigen Szene mehr persönliches Engagement vorhanden ist?

Darum geht es ja hier! Wie heißt es bei uns immer so schön: Wir richten uns an die Leute, denen es hauptsächlich um die Musik geht, die großes Engagement hineinstecken und denen es nachrangig um die finanziellen Interessen geht. Das heißt – und wenn du nachher auf die Messe gehst, wirst du es sehen –, hier findet man ganz viele Ideen, ganz viele Leute, die einfach Lust haben, etwas mit Musik zu machen. Bei uns gibt es keine dieser Potemkinschen Dörfer, wie bei anderen Veranstaltungen. Es geht darum, dass die Leute authentisch sind, dass sie sich engagiert um Musik kümmern.

Heißt das auch, die (Pop Up richtet sich nicht nur explizit an ein Fachpublikum wie beispielsweise die Popkomm, sondern auch Musikliebhaber sind hier willkommen?

Das ist ein wichtiger Punkt! Die (Pop Up ist eine Publikumsmesse, und gerade der Kontakt zwischen Publikum und Ausstellern gefällt glaube ich auch den Fachbesuchern, die hier herkommen. Man hat einfach Kontakt mit dem „Kunden“. Und als Publikum sieht man, wer denn die Platten macht, die man toll findet, und so kann man ins Gespräch kommen, was schon ein großer Reiz dieser Messe ist, wie ich glaube!

Was erwartet mich als Musikfan abgesehen von den Konzerten, die im Rahmen des (Pop Up-Festivals stattfinden, also wenn ich jetzt in die Messe reingehe, da sind dann Stände, und was tue ich da?

Du kannst natürlich überall Musik anhören, du kannst beispielsweise auch die Plattencover visuell wahrnehmen … Unsere Maxime ist: Hier gehört alles hin, was mit Musik zu tun hat. Ringsherum. Es geht also nicht nur um die Musik selbst, sondern beispielsweise präsentieren sich auch Button-Hersteller, Leute, die Flyer designen, Leute, die auch T-Shirts machen … Aber eben alles mit der Prämisse: Es geht um Musik. Das ist unsere Ausstellungsidee.

Klingt wunderbar, vielen Dank!

 

Zu sehen gibt es in der Tat reichlich, nutzen doch mehr als 90 Aussteller die Gelegenheit, sich erstmals an zwei Tagen Fachbesuchern und Publikum zu präsentieren: Kissen in Schallplattenform, Vitamine in Dosen – und immer wieder Vinyl. Interessierte konnten beispielsweise an den Ständen von Kleinstpresswerken wie Celebrate Records, Duophonic oder R.A.N.D.-Muzik die Rohmasse in die Hand nehmen, aus der später dann die (eigene) Schallplatte entsteht. Noch mehr aber gibt es zu hören, haben die Labels doch solche Hörstationen aufgebaut, wie man sie noch aus jener Zeit kennt, als man darauf angewiesen war, sich in dem großen Musikgeschäft mit den drei Buchstaben nachmittagelang durch die Neuerscheinungen zu hören, da ein kurzes Reinklicken in den Song am heimischen Rechner noch in undenk-
barer Ferne lag. In ebenso undenkbarer Ferne lag auch die Möglichkeit, dass digitale Bewertungsalgorithmen à la „Sie haben Produkt abc gekauft? Dann könnte Ihnen auch Produkt xyz gefallen!“ die Empfehlungen eines versierten und geschmackssicheren Musikjournalisten ersetzen könnten. Unter dem Motto Wir tanzen Mechanik! Der Algorithmus hat dem Musikjournalismus längst den Rang abgelaufen widmet die (Pop Up diesem traurigen Phänomen eine Panel-Diskussion.

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Wir tanzen Mechanik! Der Algorithmus hat dem Musikjournalismus längst den Rang abgelaufen

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: — VSz | Klangverführer @ 08:25

Hier geht es um die Perspektive auf den Musikjournalismus im Zeitalter des Internet. Das hat etwas von Wir-wollen-eine-Lawine-mitten-im-Herab-
stürzen-aufhalten. Der streitbare Lars Brinkmann (GRIMM) stellt die erste These in den Raum: „Die Plattenkritik ist auf den Hund gekommen. Zumindest was das gedruckte Wort betrifft. Ich mache mich nur noch durch Blogs kundig.“ Mehr noch, das breite Publikum scheint bei Auswahl und Empfehlung von Musik nicht mehr dem Musikjournalisten seiner Wahl, sondern vielmehr dem Bewertungsalgorithmus seiner bevorzugten Shopping-Plattform wie etwa Amazon oder „personalisierten“ Online-Radiostationen wie last.fm oder Pandora zu vertrauen. Das dahinter stehende Prinzip lässt sich auf die Grundfrage „Welche Songs könnten in ähnlichen Kontexten ähnlich klingen?“ herunterbrechen, sprich: man berechnet Ähnlichkeit. Einer, der das von Berufs wegen tut, ist der Musik- und Künstliche Intelligenz-Forscher Dr. Stephan Baumann, der allerdings mit folgender Aussage erstaunt: „Ich nutze privat keinerlei Empfehlungsalgorithmen.“ Ihn interessieren eher fast schon philosophische Fragestellungen: Wie einzigartig ist ein Mensch in seinem Musikgeschmack? Gibt es so etwas wie einen Mittelwert, um den wir alle herumtänzeln wie um das Goldene Kalb? Brinkmann bringt auf den Punkt, was alle bewegt: „Ein System hat mir noch nichts empfohlen, was ich interessant fand.“ Und tatsächlich hat ein computergestütztes Empfehlungssystem ein immanentes Problem: Es versucht immer, aufgrund einer bestimmten Sache etwas Ähnliches zu empfehlen, aber nie etwas Neues, Interessantes. Insofern könne ein Algorithmus lediglich den Plattenhändler ersetzen: Dieser hat auch immer etwas Ähnliches empfohlen. Der Musikjournalist hingegen mache etwas ganz anderes: Eine klassische Plattenkritik habe weniger den Sinn zu sagen, was der Leser kaufen soll, als ihm einen Überblick darüber zu verschaffen, was es alles so gibt. Auch (und gerade) wenn der Musikjournalismus als „Empfehlungsmaschine“ nicht mehr die Rolle spiele, die ihm eins gebührte, sei er nach wie vor die schwierigste Disziplin im Kulturjournalismus. Prof. Dr. Lorenz Lorenz-Meyer von der Uni Darmstadt übt mit seinen Studenten regelrecht das Verfassen von Musikkritiken: „Einen Klang adäquat zu beschreiben – das ist das Schwierigste überhaupt!“ Und Beschreibungen, Kontext, Konnotationen, erzählte Geschichten, kurz: das Wort, können nie durch bloße Algorithmen ersetzt werden, weshalb der Musikjournalismus dies nun umso mehr leisten müsse. Doch was macht den Mehrwert des Musikjournalismus aus, in Zeiten, wo jeder Blogger Geschichten erzählen kann, und das manchmal auf erstaunlich hohem Niveau? Das Panel einigt sich auf Leidenschaft, mit der man die Sache betreibt und Individualismus, der im Text spürbar wird. Beides allerdings könne Bloggern wohl kaum abgesprochen werden … Übernehmen wir also alle die Funktion, die die Musikjournalisten einst innehatten? Was macht den Vorsprung des Profis gegenüber dem Amateur aus? Man kommt ins Grübeln. Gerade bei Musik sind die sogenannten Amateure, die Fans, ja mit großer Leidenschaft bei der Sache – man denke hier nur an Wikipedia, wo die am sorgfältigsten und liebevollsten redigierten Stichworte aus dem Musikbereich stammen! Findet tatsächlich „der lesenwerte Musikjournalismus heutzutage in Blogs statt“ (Brinkmann)? Lorenz-Meyer hält dagegen. Für ihn sind die Qualitätskriterien im Musikjournalismus die des allgemeinen Kulturjournalismus, als da wären: Recherchetiefe (genau hinhören), Verständnis (zuordnen können), Wahrnehmungskomplexität sowie die Fähigkeit, all diese auch umzusetzen, sprich: mitteilen zu können. Nichtsdestotrotz kann man sich des Gedankens nicht erwehren, dass hier der Abgesang auf den professionellen Musikjournalismus vollzogen wird. Das Panelzelt ist voll, denn immerhin geht es um uns, um (Ex-)Print-Journalisten, die jetzt bloggen – kein Wunder, dass irgendwo die Vokabel „Selbstverliebtheit“ fällt. Hier beweint sich eine aussterbende Spezies. Vielleicht ist uns allen mit dem Gedanken der Entschleunigung gedient: Dass man nicht mehr versucht, dem Release hinterherzuschreiben, sondern die CD – und weshalb auch nicht? – etwa ein halbes Jahr nach Veröffentlichung bespricht, dafür aber in einer ihr angemessenen Form, was zumeist heißt: mit mehr Worten. Abgesehen vom wirtschaftlichen Druck fragt sich natürlich, wer einem diesen Platz zur Verfügung stellt. Da hab ich persönlich es gut getroffen, für ein Magazin zu schreiben, das sich den Claim „authentisch, ausführlich, interaktiv“ auf die Fahnen geschrieben hat. fairaudio hat nie auf tagesaktuellen Journalismus geschielt und mir immer die Freiheit gelassen, Platten so zu besprechen, wie ich es für richtig hielt – ein Vorgehen, welches Hand in Hand geht mit dem Brinkmann’schen Wunsch für die Zukunft des Musikjournalismus: weniger Platen zu besprechen, aber diese angemessen lang. Als Fazit bleibt trotz allem: „Der Musikjournalismus ist nicht tot, er hat sich verändert!“

Die komplette Diskussion samt den von mir hier unterschlagenen Teilen zur Allverfügbarkeit von Musik, zur digitalen Arroganz in Form von personali-
sierten Algorithmen und der Suche mittelalter Männer nach dem Weg zum perfekten System finden Sie hier.

Soviel Theorie macht hungrig. Ich stelle mich am Cateringstand an und
freue mich auf meine Mittagsverabredung. In der Zwischenzeit übernimmt Kopfhörerhund das Feld. War ja klar, was jetzt kommt …

Kopfhörerhund meint: Ich hab ja schon immer ge-
wusst, dass Hund und Musik mehr miteinander zu tun haben als gemeinhin angenommen. Die diesjährige (Pop Up ist der beste Beweis. Nicht nur, dass sie selbst einen Dalmatiner-Welpen im Logo führt, nein, da gibt es French Bulldogs, deren Leibchen für Fritz Kola werben, …

… den Messestand der Freiburger Waggle-Daggle Records mit
Maskottchen Falco …

… oder den Münsteraner Musiker Herrn Hund, der sich hinter dem
Omaha-Stand versteckt.

Der macht übrigens nicht nur wirklich hübsch anzusehende CD-Hüllen,
die schon fast kleine Preziosen sind – was Wunder, wenn man gelernter Grafiker ist! –, sondern auch sehr schöne Musik: Seine On Your Shirt-EP
wird behutsam eröffnet von Killers Kiss, einer den Hörer zunächst in trügerische Sicherheit wiegenden Singer-Songwriter-Nummer, die sich zum schrammeligen Rock-Stück steigert, gefolgt vom fröhlich-lärmenden Titeltrack On Your Shirt, um sich bei Soft & Crispy einer ziemlich schrägen Klangorgie hinzugeben, als hätten Elvis Costello und Jimmy Somerville einen bislang sorgsam vor den Ohren der Öffentlichkeit verborgenen unehelichen Sohn – folgt man dem Label, wären die Eltern allerdings eher Damien Rice und die frühen Radiohead.

Nach dem schon sehr speziellen Song mit dem langen Titel F*?!, You Mean
A Dog Fell In Love With A Girl,
bei dem die Stimme Hunds, teilweise getragen von einem 6/8-Walzer, das ein oder andere mal schon ins hart-an-der-Grenze-zum-Weinerlichen umschlägt und den man entweder lieben oder hassen kann, wird die EP vom knowskools-Stück 6 AM beendet, das dank seiner Basslastigkeit deutlich poppiger daherkommt als die Stücke aus der Pfote, pardon: Feder, Hunds.

Ich persönlich mag die alte EP Demos 2004–2008 lieber: Sie ist zwar einer-
seits weniger schräg, andererseits aber aufgrund des Einsatzes von Vokal-
harmonien (okay, im Falle Hunds: -dissonanzen) musikalisch interessanter. Der dritte Song, My Refrigerator’s Life, schleicht sich südlich leicht und unbeschwert ins Ohr, ist das etwa ein Samba? Und höre ich auf In Venice
gar einen Kamm, auf dem da geblasen wird? Mit allerlei Glockenspiel wird
es jedenfalls nie langweilig, und viele der Stücke haben den Anschein, als überlegten sie sich ihr So-Sein mittendrin noch einmal und entschieden sich dann für ein Anders-Sein. Dass Herr Hund mit dem Künstlernamen, der gar kein Künstlername ist (denn er heißt wirklich Christian Hund!), auch „richtig“ singen kann, stellt er auf dem letzten Stück der Demos, Lipstick Dampness, unter Beweis. Ein melancholischer Mädchensong mit dem Tenor I drove you home tonight / and then I left you … Wer Herrn Hund hören möchte, wird hier und hier fündig sowie natürlich bei Omaha selbst, in deren Hausladen man die hübschen CDlein auch erstehen kann.

Das war jetzt aber noch nicht alles an Hund, was die (Pop Up zu bieten hatte! Da war nämlich noch …………… Girella!

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Konkurrenz für Kopfhörerhund:
Lautsprecherhund Girella

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Unter dem Motto Dog Likes Music besucht diese 6-jährige Portugiesische Wasserspaniel-Dame (ja, ein „Obama-Hund“) Musiker und lässt sich mit ihnen fotografieren. Das Ergebnis sind ganz besondere Künstlerportraits, mal intim, mal witzig, mal melancholisch, immer aber mit einer ungerührten Girella im Mittelpunkt. Ihr Herrchen, der Fotoinstallationskünstler Garvin Nolte, kam auf die Idee, als er bemerkte, dass Girella bei genau den Liedern, die auch ihm gefallen, den Kopf ganz nah an den Lautsprecher hält und lächelt. Ist das Lied zu Ende, wendet sie sich wieder ab. Besonders beeindruckte ihn, dass Girella in ihren Vorlieben keine Genre-Unterschiede macht: sie lehnt keinen Musikstil per se ab – wenn sie etwas mag, mag sie es, wenn nicht, dann nicht. Die Lautsprecher wichen der Live-Musik, und mittlerweile besucht Girella Musiker oft und gern backstage. Die sind oftmals schon wochenlang auf Tour und freuen sich über die verschmuste Hündin, Girella freut sich über die Aufmerksamkeit und Herrchen hat wieder ein Foto mehr im Portfolio. Über 120 sind es bislang, darunter Deep Purple, Broken Social Scene, Mando Diao, Drafi Deutscher, José González, Fun Lovin‘ Criminals, The Go-Betweens, Franz Ferdinand, The Kills, Kaiser Chiefs, Nada Surf, Schiller, Soulwax, TV on the Radio oder Editors.


Tolles Bild: Girella mit Peter Heppner


Mein persönliches Lieblingsbild: Mit Kurt Wagner von Lambchop


Da waren es mit einem Male fünf: Girella und die Editors

Noltes Fotos sind Momentaufnahmen mit Schnappschusscharakter, sie werden nicht digital nachbearbeitet – das macht neben Girella sicherlich einen Großteil ihres Charmes aus. Wie auf der (Pop Up werden die fertigen Bilder als Installation in musikerfüllten Hundehütten präsentiert.

Irgendwann soll ein Buch daraus werden. Unterstützen Sie dieses schöne Projekt, ob als Musiker-Modell, als Ausstellungsmacher oder Buchverleger! Kontakt mit Girella aufnehmen können Sie hier, hier oder hier.

Wer interessiert ist an Daten und Fakten zur (Pop Up, findet einen ausführlichen Messebericht auf fairaudio.de, unserer aller Lieblings-Online-HiFi-Magazin.

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