15. September 2020

Tage wie diese. Und ein Gegenmittel: die Goldesel-EP „Kayak“

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: — VSz | Klangverführer @ 12:04

Es ist so ein Morgen danach, an dem man zwar nicht wirklich verkatert ist, aber: Alles geht langsamer. Der September hat sich noch einmal zu dreißig Grad aufgerafft, nur der Mensch kann ist zu nichts in der Lage – und richtig wach wird er auch nicht. Ein Tag, an dem der Start zum Ganztagesprojekt gerät. Ein Tag wie in Sirup getaucht.

Die Playlist der letzten Nacht möchte man nicht mehr hören, allein, man bedarf schon einiger Musik, um über die Runden zu kommen, die sich zäh anfühlen, klebrig nachgerade. Schließlich verlangt auch gepflegtes Sichtreibenlassen nach einem Minimum an Energie, zumindest nach so viel, um den Wasserkocher für eine Tasse schwärzesten Kaffees auffüllen und anschalten zu können. Oder um eine stumpfe Hausarbeit anzugehen, die man hasst und auf die man keinerlei wache Energie verschwenden möchte, die aber dennoch erledigt sein will. Wenig komplexe Handlungen wie Gläserpolieren oder Bügeln, die sich auf Autopilot bewerkstelligen lassen, derweil man seinen Gedanken nachhängen kann.

Natürlich kann man jetzt das zu Teenagerzeiten heiß und innig geliebte Machwerk der seinerzeit favorisierten Achtziger-Hair-Metal-Combo anwerfen und den Körper, wie zuvor den Magen mit dem Kaffeeschwall, schockwecken. Muss man aber nicht. Das Berliner Duo Goldesel – das da sind: Ruben Giannotti und Tobias Fiege – leistet mit seiner Vier-Track-EP Kayak nämliches. In sanft. In Zeitlupe. Für den Schonlängstnichtmehrteenager in uns.

v. l.: Tobias Fiege, Ruben Giannotti
© Perle Baillard

Gleich die trunken wabernden Stolperbeats des namensgebenden Openers garantieren ein sanftes, ja: faules Indentaghineingleiten, noch dazu beamen sie direkt in Prä-NuSoul-Zeiten, zu denen man Erykah Badu, D’Angelo oder Maxwell erst ahnen konnte, zurück. Die Beats von Soulparlor fallen hier sofort als Referenzklang ein, und das bedeutet hier wie dort: ein Höchstmaß an Eleganz. Luxusbeats sozusagen, die Fiege selbst als „lofi, jazzy hip hop beats“ bezeichnet.

„Riding On A Red Horse“ versetzt in selige After-Work-Lounge-Zeiten zurück, die von Lounge-Heroen wie De-Phazz dominiert wurden, klingt – nicht zuletzt ob der nervösen Edel-Drums von Clemens Grassmann – aber sehr viel mehr noir: Giannotti und Fiege begeben sich tief in die Chillout-Beats hinein, derweil Giannotti weder sein Wirken als Large-Ensemble-Leader verleugnen kann, wird hier doch zeitgleich das große Bigbandarrangement aufgefahren, noch das als Trompeter, glaubt man doch gleich zu Beginn, in eine Aufnahme von Roy Hargroves RH Factor reingestolpert zu sein. Dessen „Forget Regret“ ist hier jedenfalls nicht weit weg.

„Wes0“ gibt sich als beschwipster James-Last-Wiedergänger, wobei das Easy-Listening-Element mancherorts ins nahezu Ironische überzeichnet ist, haben wir es hier doch mit einer untergründig gestörten Idylle zu tun, der es gelingt, die elegante Abendgesellschaft samt ihren fancy Cocktails und einem immerzugewandten Conferencier in trügerische Sicherheit zu wiegen. Vielleicht geht es aber auch nur um falsche Erinnerungen. Süße, gefährliche Fehlerinnerungen, die sich anfühlen wie dieser Tagesstart, irgendwo zwischen Traum und wach.

„Liberation“ wabert so gedämpfter Stimmung wie gleichgültig vor sich hin, alldieweil ein stellenweise recht aufregender Bass die Berechtigung des Stücks auf der EP erkämpft, das später noch zu stolpern anhebt, ins Taumeln gerät und mit seinem offenen Ende eher ratlos zurücklässt. Dennoch wird auch dieser am wenigsten berührende Track – wobei wir hier auf höchstem Niveau jammern, natürlich weist auch er Beats der Luxusliga auf – seiner Funktion als Rausschmeißer gerecht.

Was soll man noch sagen? Kauft Kayak!

Und zwar hier auf allen einschlägigen Portalen, oder, besser noch, bei Bandcamp.

Alle Einnahmen gehen an Campain Zero, Giannotti dazu: „Both of us (super white fellas) perpetually checked black musicians and composers together and soaked in their vocabulary. Last winter, I myself released a big band album borrowing heavily from the hip hop culture, while the grande finale is a piece by Wayne Shorter, one of the greatest black composers still alive. So here you have it: a sweet little mix tape of beats with swag and jazz, humbly dedicated ex post to the rich heritage of the black music community.“

28. August 2020

Jazzgewordener Hummelflug. Happy Release Day, Reza Askari!

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Ich gestehe freimütig: Magischer Realismus war noch nie so meins. Hundert Jahre Einsamkeit? Fünfhundert Seiten Langeweile! Lediglich Borges mag ich gelten lassen, aber ist der nicht ohnehin eher stilsicherer Philosoph denn literarischer Phantast?

Nun hat mir ausgerechnet ein Musiker den Magischen Realismus nähergebracht. Die Rede ist vom 1986 geborenen Modern-Creative-Bassisten Reza Askari und seiner heute erscheinenden Veröffentlichung Magic Realism, die er mit seinem 2012 gegründeten, mit Stefan Karl Schmid am Tenorsaxophon und Fabian Arends am Schlagwerk besetzten Trio ROAR eingespielt hat. Allein das quietschbunte – und dennoch seltsam düstre – Voodoo-Cover, das azurblaues, von karmesinrotem Inlay umhülltes Vinyl birgt, welches wiederum ob seines butterblumengelben Etiketts sehr Bauhaus daherkommt, wird jeden Davringhausen-Liebhaber für sich einnehmen können!

Schon zum Auftakt stellt der Landfermann-Schüler mit „Firefly“ unmissverständlich klar, dass wir es hier mit dem Werk eines Bassisten zu tun haben, genauer: eines Bassisten, der seinem Trio den nervösen (Ab-)Grund bereitet, auf dem das Sax sich röhrend entfaltet und die Drums in sanfte Hypnose trommeln. Im Grunde ist dieses Glühwürmchen der jazzgewordene Hummelflug, nervös zuckt es mal hier-, mal dorthin. Der gleich an zweiter Stelle folgende, orientalisierende Titeltrack indessen ruft im westlich geschulten Gehör das Bild der Schlangenbeschwörung hervor, verstärkt durch Schmids Griff zum Sopransaxophon, das die dazu unerlässliche Flöte gibt: Es ist ein fortwährendes Locken und Widerstehen, Näherkommen und sich Entziehen. Und dann – eine Ballade! Aber ist das überhaupt eine Ballade? „Marimonda“ jedenfalls präsentiert sich sehr, sehr kind of blue, wozu mir der Begriff „Ballade“ im Traum nicht in den Sinn käme, wennauch nicht modal, sondern funktionsharmonisch in C-Moll.

Was für eine großartige Leistung vom Saxophon, die auch von Drums & Bass gewürdigt wird, indem diese unendlich behutsam und ihr musikalisches Ego völlig uneitel zurückhaltend sekundieren. Sich derart zurückzunehmen, muss man auch erst einmal können! Dann aber: Chaos pur! „The Return of the Beam“ klingt eher, als wäre das Glühwürmchen vom Opener der Flamme nun endgültig zu nahe gekommen und tanzte da, halb strauchelnd, halb sich wieder erhebend, aber immer lichterloh brennend, mit allerlei weiteren der Anderswelt geweihten Gestalten seinen Abschiedswalzer am Rande der Schlucht, die es unweigerlich zu verschlingen droht, was keine Frage des Ob? mehr, sondern nur noch des Wann? Ist, und da ist er auch schon, dieser einem Aufschrei gleichende hohe Ton, mit dem Stück und Plattenseite gleichermaßen enden.

Müsste man jetzt nicht aufstehen, um die Platte umzudrehen – oder hat hier noch jemand so ein Schallplatten beidseitig abspielendes Ungetüm, einen Sharp namens RP 115 etwa? In den Achtzigern war das ja das Fancieste, was man sich vorstellen konnte! –, könnte man den schlicht mit „Play“ betitelten Opener der zweiten Seite glatt für eine Reprise von „The Return of the Beam“ halten. Zwar mögen sich die stärksten Rauchschwaden nun verzogen haben, doch wabern sie immer noch über die Szenerie – und weiterhin herrscht Chaos. Mit so einem Untergang nämlich ist es gar nicht so einfach: Da ist nicht alles auf einen Schlag vorbei. Im Gegenteil: Mit dem Untergang fängt es erst richtig an.

Richtig fängt auch „Pain Man“ an, nämlich mittels fulminantem Basssoloauftakt, der – neben dem hervorragenden, ich geb’s zu, in meinen Notizen steht: geilen Klang, der hier mal ausdrücklich erwähnt sein soll –, ob seiner A-Tranehaftigkeit einen Seufzer des Wohlbefindens, des Wiedererkennens, der Erleichterung ausstoßen lässt, dass es ihn noch gibt, den guten alten  Mitternachtsjazz, der derart viel Interpretationsspielraum lässt, dass er von jedem Hörer mit einer ganz individuellen Bedeutung aufgeladen werden kann, ja: durch diese erst anfängt zu leben, weshalb das Stück – in a nutshell – zeigt, was den Jazz zur Musik der Musiken macht, vor allem dann, wenn das hypnotische Besenschlagzeug und das (wieder Sopran-)Sax à la Jonas Knutssons „Syskonöga“  zusätzlich a little magic in this noisy world bringen. Dazu der Künstler: „Ich freue mich immer sehr, wenn Musik, die durch einen kommt, anderen Menschen etwas gibt. Dafür macht man es ja schließlich.“ Und wie man es macht! Oh, die Emotionen! Die tanzen Jive wie bei einer zeit- und möglichkeitenoffenen Ausgehnacht mit dem Einen, auf den man ein Auge geworfen hat, aber noch nicht die mindeste Sicherheit darüber, ob das auch auf Gegenseitigkeit beruht. Aufregend. Inspirierend. Das beste Ich hervorbringend. Kurz: magisch.

© Sieben48, André Symann

Die klanggewordene Night out gibt‘s dann mit dem „Bottrop Bebop“, schreitet der Abend doch, mehr und mehr seinen Höhepunkt antizipierend, voran, man geht vom Jazzclub in die Bar – oder setzt sich einfach nur auf den Bordstein, redet und redet und mit einem Mal ist es vier Uhr morgens. Begegnungen, wie sie nur die Großstadt möglich macht. Selbst, wenn sie Bottrop heißt.

Ob sich das mit bedrohlichem Trommelschlag und angstzitterndem Saxophon eröffnende „Korma Koma Karma“ als Liebesritual oder Hinrichtungskommando erweisen soll, ist völlig dahingestellt. Sicher ist nur, dass die vielbeschworene Schlange wieder ihr verschlagenes Haupt habt, wobei sie den Beschwörungstrick mittlerweile durchschaut zu haben scheint und sich nicht mehr zurückzieht: Sie greift an. Das Tenor röhrt, quiekt, und schreit, ob um sein Leben oder um jemanden in Schach zu halten – wer weiß das schon. Ein im besten aller Sinne magenumdrehender Closer einer viel zu schnell endenden Platte, die einmütig ins Fazit des Bandleaders einstimmen lässt, wenn der sagt: „Ich war und bin dankbar, dass wir diese schönen Momente im Studio einfangen konnten. Ist ja auch nicht immer der Fall.“ Hier schon. Hier sehr!

27. Mai 2016

Zeit zum (Zu-)Hören. Klangverführer gewinnt Schreibwettbewerb

Filed under: Klangblog — Schlagwörter: , , — VSz | Klangverführer @ 13:19

Langsamer-Musikjournalismus-500x

„Mit einem Album muss man leben, um ihm gerecht zu werden. Es hat Zeit gebraucht, es aufzunehmen, es braucht Zeit, es zu rezipieren. Nicht zuletzt hat das etwas mit Respekt zu tun.“

Ich freue mich, dass mein Ansatz von Hören im Sinne von nicht nur simplem An-, sondern von genauem Zuhören, das naturgemäß Zeit braucht, derart starken Widerhall gefunden hat, dass es dem Magazin Fachjournalist bei seinem Schreibwettbewerb zum Thema „Journalistische Trendthemen“ den ersten Platz in der Kategorie „Langsamer Journalismus“ wert war.

Das ganze „Plädoyer für einen langsamen Musikjournalismus“ kann hier abgerufen werden. Eine gute Zeit damit wünscht

Ihr Klangverführer

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