Vom Suchen im Nichts oder: „Jeder Ton, der gespielt ist, ist gewollt und gemeint.“ – klangverführer | Musik in Worte fassen
Vom Suchen im Nichts oder: „Jeder Ton, der gespielt ist, ist gewollt und gemeint.“

Vom Suchen im Nichts oder: „Jeder Ton, der gespielt ist, ist gewollt und gemeint.“

Vom Suchen im Nichts oder: „Jeder Ton, der gespielt ist, ist gewollt und gemeint.“

Den mittlerweile in Berlin lebenden Zürcher Geiger Tobias Preisig kenne ich seit seiner ersten Platte – dem im Frühjahr 2012 auf Traumton erschienenen „In Transit“. Er wird nicht müde zu erzählen, dass unser damaliges Gespräch sein erstes Interview überhaupt war – und das, obwohl wir uns im verflixten siebten Jahr unserer Bekanntschaft befinden!

Für meine Kolumne Szirmais Fermaten in der frisch erschienenen Januar/Februar-Ausgabe des Jazzthetik Magazins durfte ich seine neue Platte „Diver“ – ein Album, so schön, dass es kurzerhand noch auf meine Critics‘ Picks-Liste rutschte – besprechen. Natürlich nicht, ohne dem Künstler vorher einmal mehr persönlich auf den Zahn zu fühlen!

Mitte Oktober sprach ich mit Preisig von unfassbarem Glück, gelernter Reduktion und der DNA des Tons – und was das alles mit gutem Techno zu tun hat, der experimenteller und avantgardistischer als Free-Jazz ist, wie sich einladende von ablehnender Musik unterscheidet und warum Spotify eine „großartige Geschichte“ ist.

Spaß beim Gespräch am 19. Oktober 2019. Foto: Tobias Preisig

Victoriah Szirmai: Tobias, ich kenne dich nicht nur von Egopusher und im Duett mit Stefan Rusconi (Levitation, 2016), sondern auch von deinen beiden Traumton-Soloplatten In Transit (2012) und Drifting (2014). Trotzdem hast du im Chat „mein erstes Soloalbum“ geschrieben, als es um „Diver“ ging. Warum?

Tobias Preisig: Genau. Also, die Platten bei Traumton, das war eigentlich mein Quartett. Im Jazz hat man ja ein Quartett, wenn man zu viert ist. Und wir waren wirklich auch ein eingeschworenes Team und haben uns eigentlich mehr als Band verstanden, obwohl es meinen Namen führte. Und darum ist es kein Soloalbum, weil du hast da vier Musiker, Bass, Schlagzeug und so fort, wo die Rollen klar verteilt sind – und „Diver“ ist wirklich ein Geigenalbum.

VSz: Das heißt, obwohl nicht „Tobias Preisig Quartett“ draufstand, war es eigentlich ein Bandalbum.

TP: Absolut, das war für uns immer so.

VSz: Und jetzt bist du das ganz allein. Wobei … Im Grunde handelt es sich ja auch um eine Kooperation, nämlich die mit Jan Wagner.

TP: Genau, ja. Aber Jan Wagner war der Produzent, der das Ganze geformt hat, und in dem Sinn: Es ist wahr, es ist interessant, die Reduktion auf solo hat mir komplett neue musikalische Wege gezeigt – aber ich brauchte doch einen Partner, um sie auf Band zu bringen. Ich hab’s alleine nicht geschafft.

VSz: Erzählst du mir ein bisschen von ihm?

TP: Gerne. Jan Wagner ist ein Pianist und Produzent. Und, wie gesagt, ich habe mein Solo-Repertoire über Jahre aufgebaut, viele Konzerte gespielt, die Musik hat sich entwickelt, sie wurde immer stärker … Und ich habe immer versucht, sie irgendwie selbst aufzunehmen. Aber ich hab das nicht geschafft. Ich hab dann auch ein Studio und einen anderen Produzenten und alles ausprobiert, es hat sich aber nie richtig angefühlt. Und dann hat Alessandro, mein Egopusher-Partner, gesagt, hey, zeig das doch mal Jan Wagner, der ist in Berlin, ist ein Super-Typ, ein Super-Musiker, zeig’s ihm einfach mal, vielleicht kann er es mischen, vielleicht kann er was damit machen. Ich hab Jan geschrieben, es hat es sich am nächsten Tag angehört und gesagt, hey, lass uns das nochmal machen. Du klingst so verloren in diesem riesigen Studioraum, die Musik … da ist noch viel mehr drin! Und dann haben wir einfach das unfassbare Glück gehabt, dass wir beide einen vollen Monat Zeit hatten, praktisch nichts anderes zu tun hatten, und uns einfach vergraben haben. Er hat mich in meinem Studio so eingerichtet, dass ich einfach am Morgen kommen, „Rec“ drücken und loslegen konnte. Und er hat das so hingebracht, dass ich eigentlich nur noch Musik gemacht habe. Trotzdem habe ich sie irgendwie selber aufgenommen. Mit ihm. Er hat mich geleitet. Aber eigentlich war es wirklich so: Ich geh rein, nehm‘ auf und tschüss. Und am Abend habe ich ihm die Sachen geschickt, dann ist er vorbeigekommen, wir haben die Sachen angehört und dann einfach so nahdisnah weiterentwickelt.

VSz: Du hast gesagt, du hattest schon mal mit einem anderen Produzenten probiert, es aufzunehmen. Wo war denn der Unterschied zwischen jenem Aufnehmen, das nicht so klappte, und dem jetzt?

TP: Es war einfach … Die Chemie mit dem Produzenten hat nicht funktioniert, mit dem Ingenieur, das war dann nur noch ein Missverständnis und eine Momentaufnahme des Live-Moments. Ich wollte das aber nicht so. Für mich ist ein Live-Konzert ein Live-Konzert, und eine Platte ist eine Platte, die im Studio passiert. Für mich ist das nicht das Gleiche.

VSz: Heißt das, du bist kein Freund von Live-Platten?

TP: Doch, bin ich sehr – vor allem im Jazz! Aber ich wollte mehr weiterkomponieren, weiterproduzieren und ich wollte irgendwie tiefer gehen als der Live-Moment geht. Ja. Und das hat wahnsinnig gutgetan mit ihm, weil alleine habe ich das nicht geschafft.

VSz: Die Musik dieser Platte ist ja auch wirklich wie gebaut, wie aufgeschichtet. Vielleicht ist das der Unterschied zwischen dem Live-Moment und der Studio-Produktion.

TP: Nein, ich kann das live eins zu eins umsetzen, das ist überhaupt kein Problem. Aber für mich ist das so: Der Live-Moment – da spiele ich mit dem Raum, ich spiele mit den Zuschauern, ich spiele mit dem Moment, ich kann extrem viel Energie reinstecken, ich kann mal wild, mal laut, mal intensiv spielen … und ich habe das Gefühl, das einen das auf der Platte komplett überrennen kann und dass es gar nicht bei einem ankommt, weil man das Bild nicht hat und den Raum nicht hat. Auf der Platte kann ich viel, viel reduzierter arbeiten, was vielleicht auf der Bühne komplett langweilig wäre, wenn ich es eins zu eins so übernehmen würde. Und jetzt ergibt sich irgendwie eine neue Mischform: Diese Platte hat mich gelehrt, noch reduzierter zu werden, was ich live eh schon ein bisschen wurde, aber eben noch reduzierter, noch konzentrierter, noch fokussierter, und live nehme ich es jetzt und fange wieder an, es ein bisschen mehr zu umspielen.

VSz: Es sind andere Energien, live und im Studio …

TP: Es sind komplett … Für mich sind es andere Energien! Ich wollte die Platte produzieren. Ich wollte mir Zeit nehmen, ich wollte neue Sachen entdecken – und für das muss man produzieren und nicht einfach auf „Rec“ drücken und ein Konzert aufnehmen.

VSz: Kann man auch sagen, die Platte als Nicht-Live-Platte ist eher der introvertierte, der Live-Moment der extrovertierte Aspekt daran?

TP: Ja, absolut! Und ja, man hat irgendwo die Möglichkeit, Neues zu entdecken, auf beiden Ebenen, auf der Bühne und im Studio, das sind zwei verschiedene Sachen.

VSz: Die Musik selbst hast du vorhin im Chat und jetzt auch wieder als „ultrareduziert“ bezeichnet. Die Presse-Info spricht von „Ambient“ und „Neo-Contemporary“. Dennoch ist sie für mich persönlich vor allem gekennzeichnet durch diesen unverkennbaren, immer etwas heiseren, stets tastenden, grenzauslotenden, nahe am Ultraschallbereich angesiedelten Ton, der immer sucht, immer im Werden und Wandeln ist … Den würde ich wohl unter tausenden wiedererkennen, und ich kenne ihn schon von deinen alten Platten. Was ist für dich der Unterschied zu deinen bisherigen Arbeiten?

TP: Wahrscheinlich ist es halt die persönlichste Platte, weil halt alles weggeschält wurde, was eben nicht dieses Suchende und dieses, was du jetzt gerade beschrieben hast, ist. Jetzt ist es eigentlich nur noch das. Und dieses Wegschälen von ah-jetzt-versuche-ich-etwas-zu-sein-was-ich-nicht-bin und hier-spielt-noch-jemand-anderes-mit-und-macht-sein-Ding – was ja auch völlig okay ist, weil der hat sein Space –, führt dazu, dass es jetzt nur noch dieser Sound ist. Und ich finde es sehr schön, dass du ihn wiedererkennst! Für mich persönlich ist er auch da, seit Jahren, er entwickelt sich einfach weiter, aber der Kern, die DNA ist die gleiche. Das Neue ist wirklich, die Reduktion gelernt zu haben, dass in wenigen Tönen eine riesige Tiefe ist. Wirklich so: Jeder Ton, der gespielt ist, ist gewollt und gemeint. Hinter jeden Ton eine Bedeutung reinstecken – das ist schon lange ein Thema für mich, und das ist jetzt einfach noch stärker geworden.

VSz: Das gibt dem ja auch diese Dringlichkeit, dieses Gewollte, oder, wie du sagst, diese Bedeutung. Kann man sagen, dass das jetzt im Grunde die Essenz, deine Essenz ist? Wenn du sagst, alles sei weggeschält? Das bist jetzt: du?

TP: Ja. Genau. Das ist das pure Öl. (lacht) Nein, nicht das Öl! Aber die Essenz, ja! Ich weiß auch nicht, ich hab … (überlegt) … ja, doch, das kann man wirklich so sagen!

VSz: Was für mich dabei auch immer mitschwingt, ist … nicht unbedingt die Barockzeit selbst, aber ihre fast mathematische Präzision. Ist die Geigenliteratur bzw. generell die Musik aus dieser Zeit eine Inspirationsquelle für dich?

TP: Wie gesagt, es hat überhaupt keine …

VSz: Bezüge?

TP: Doch, natürlich, es hat all diese Bezüge aus meinem Leben und aus meinem Umfeld. Aber nein, barocke Musik … mag ich eigentlich, aber ist keine Referenz.

VSz: Ich merke einfach … Zwischen dem ganzen Musikhören und -schreiben kriege ich den Kopf ausschließlich mit Bach’schen Cellosuiten freibekomme. Die laufen dann vier Stunden sehr, sehr laut …

TP: Herrlich, ja!

VSz: … und dann ist erstmal wieder gut. Und bei deiner Musik, also der neuen Platte, habe ich ein ähnliches Gefühl des Hirn-Klärens. Du hast da zum Beispiel dieses acht-Ton-Motiv, dauerrepetiert …

TP: Ja …

VSz: … in einem ganz strengen, formalen Korsett, und das erinnert mich an diesen barocken Geist.

TP: Das stimmt. Ich würde aber vor allem eher noch eine Parallele zu guter Techno-Musik sehen, weil: Das ist eigentlich dasselbe! Es ist sehr …

VSz: Gute Techno-Musik *ist* Barock!

(beide lachen)

TP: Genau, ja! Vielleicht ist es eher das. Barock hatte ich im klassischen Studium gelernt und auch spannend gefunden, aber Referenz wäre wirklich eher elektronische Musik, auch, wenn das vielleicht nicht gleich als Erstes zu hören ist, aber dieses Strukturierte, dieses Organisierte, das kommt vielleicht von dort.

VSz: Woher kommt denn deine Faszination für diese Art der elektronischen Musik?

TP: Das ist, wenn man in Berlin ist … (beide lachen) … gezwungenermaßen läuft man dem über den Weg! Ich fand es einfach wahnsinnig faszinierend, ich bin sehr viel ausgegangen, habe Sachen entdeckt, die ich viel, viel avantgardistischer und experimenteller erlebt habe als Freejazz-Konzerte. In totalen Clubs, also, wo die Leute tanzen, umherfliegen, driften … Ich habe da eine wahnsinnig neue, experimentelle Welt entdeckt, die mich irgendwie interessiert.

VSz: Das ist lustig, denn zu deiner Platte habe ich auch am Ende notiert: „Ich würde gern Avantgarde! ausrufen, wenn es mich emotional nicht so berühren würde“. Avantgarde ist für mich eher etwas, das einen intellektuell so ein bisschen wegschubst … Und das passiert bei deiner Musik definitiv nicht! Das ist eigentlich das Erstaunliche an ihr, dass sie beide Aspekte so sehr vereint.

TP: Das ist natürlich schön. Ich finde es schön, wenn Musik einladend ist und nicht ablehnend. Für viele Musiker mag das Ablehnende wichtig sein, mich interessiert das jetzt überhaupt nicht. Ich finde es sehr schön, wenn etwas passiert beim Zuhörer. Und dann passiert auch bei mir was. Das kann sich dann gegenseitig befruchten.

VSz: Das ist so ein Ding bei diesem achten Track. Ich dachte zuerst, eigentlich könnte das Album für mich mit „Isolation“, dem siebten Track, aufhören, aber trotzdem saugt dich dieses „Collective“ irgendwann so ein, und du merkst die ganze Zeit, da passiert was, und da passiert ’ne ganze Menge und da passiert viel, aber du weißt nicht genau, was da passiert, aber irgendwo rührt es dich an. Das heißt, für dich ist wichtig … Also, du hast es nicht auf Virtuosentum abgesehen, um die Leute davonzuspielen, sondern es geht bei der Einladung doch um emotionale Berührung?

TP: Absolut, ja. „Virtuosentum“ finde ich einen spannenden Begriff, weil man Virtuosität ja mit technischen Mitteln, mit Schnelligkeit in Verbindung bringt. Aber eine Virtuosität kann genauso einen klanglichen, verspielten Reichtum bedeuten. Für mich bedeutet Virtuosität, dass klanglich oder emotional viel möglich ist. Und das ist bei mir jetzt so. Auch bei diesem „Collective“, da passiert ja eigentlich überhaupt nichts, wie du sagst …

VSz: … aber eben doch so viel!

TP: Genau. Es ist ein Ton. Und plötzlich habe ich gemerkt: Du spielst einen Ton – und auch der ist eigentlich schon fast zu viel.

VSz: Das ist völlig faszinierend!

TP: Das ist absurd! Aber wenn man sich mal drauf einlässt und zehn Minuten so was hört, dann entdeckt man darin die klitzekleinsten Härchenverbindungen, und plötzlich wird das sooooo intensiv! Und das meine ich, das ist eigentlich die Quintessenz.

VSz: Von Virtuosentum.

TP: Dieses Suchen im Nichts kann plötzlich so wahnsinnig reich werden.

VSz: Das ist schön … „Das Suchen im Nichts“ … Eine neue Definition von Virtuosentum.

TP (lacht): Ja, genau …

VSz: Und demgegenüber die Schnelligkeit und all das, was man landläufig so darunter versteht. Man hat dich ja bei deiner ersten CD total gern mit dem Etikett des Teufelsgeigers belegt, und seitdem zieht sich das durch die Presse, die dich begleitet.

TP: Ja klar, das hat man als Geiger schnell. Wenn man ein bisschen verrückt ist oder anders klingt als alle anderen, ist man schnell der Teufelsgeiger. Und das ist auch völlig okay …

VSz: Wobei da natürlich immer Paganini mitschwingt und die Capricen …

TP: Genau, genau!

VSz: … was aber dein Album ja nun mal so überhaupt nicht ist!

TP: Das Gegenteil, ja! Aber es hat irgendwie … Ich liebe Paganini! Ich finde, er ist der absolute Wahnsinn!

VSz: Es sei denn, David Garrett spielt ihn …

TP: Ja, gut, das ist …

(beide lachen)

TP: … ein ganz, ganz, ganz schwieriges Thema!

(noch mehr Lachen)

TP: Aber eben diese Intensität, finde ich, und du hast es anscheinend auch gefunden, sogar in einem Track, wo nur ein Ton gespielt wird, das ist doch eine unfassbare Erkenntnis! Für mich.

Tobias Preisig, Diver, Quiet Love Records, 2019

VSz: Absolut, für mich auch. Diese Platte muss man durchaus noch viel öfter und vor allem bei Nacht hören! Was mich aber noch interessiert: Warum „Diver“, warum das Bild des Tauchers? Ist es, weil er eintaucht in das, was da unter der Oberfläche lauert?

TP: Genau.

VSz: Dieser flüssigen Textur begegnen wir musikalisch ja auf der gesamten Platte, titelgebend auch in „Flooding“. Ich finde, es ist sehr flüssige, sehr liquide Musik …

TP: Voll, ja. Also, der „Diver“ ist eigentlich … Ich habe immer von Eintauchen gesprochen, „lass uns in diesen Ton eintauchen“, „lass in diesen Klang eintauchen“, in diese Räume, diese Hallräume, das ist ein Riesenthema auf dieser Platte! Der Taucher war also immer schon da, und dann habe ich einen Film gesehen über Apnoe-Tauchen, das sind die, die ohne Flasche …

VSz: Ja, ich weiß, das ist meine persönliche Horrorvorstellung, ich hätte eine Scheißangst davor!

TP: Ja, ich auch! Also, ich mach das nicht. Tauchen ist gar nicht meine Welt. Aber der Film hat mich so fasziniert, weil ich solche Parallelen, emotionelle Parallelen, gefühlt habe. Die lassen sich so runtergleiten und erzählen von diesem Gefühl, wo plötzlich alles … also, am Anfang ist das so Panik-Panik-Panik, und dann, wenn man sich drauf einlässt, ist das so ein Runtersinken und ein die-Welt-weg-von-sich-lassen und dass man eine komplett neue Welt entdeckt in diesem Nichtunten. Das wird sehr frei, es wird sehr leicht, plötzlich, und man vergisst die Zeit. Und das ist so ein bisschen … Dieses Gefühl hatte ich andauernd, und so bin ich auf diesen Taucher gekommen. Es ist auch ein bisschen das Gefühl, man taucht in dieses schwarze, dunkle Meer runter und geht ganz bis zum Grund und zeigt auf diesen kleinen Stein oder diese kleine Muschel da unten. Das ist für mich diese Platte.

VSz: Das ist ja eine sehr intime, sehr persönliche Erfahrung, Eintauchen in Schwärze, um auf diesen Stein, diese Muschel zeigen zu können. Diesen nahezu unscheinbaren Ton, zu welchem sich vorzuarbeiten so viel Mühe kostet. Wenn du sagst, Jan war die ganze Zeit dabei – wie schwer ist es, so persönlich zu werden, wenn man nicht ganz allein ist?

TP: Das war halt überhaupt kein Problem, weil es einfach symbiotisch funktioniert hat. Und bei den anderen Produzenten hat es halt nicht funktioniert. Und daher musste ich das alles wegwerfen. Und das ist genau das: Plötzlich kommt jemand, und der hat, das habe ich, glaube ich, auch schon einmal gesagt, der hat den richtigen Schlüssel gehabt und das Tor geöffnet – es floss einfach alles dahin. Und es war keine Frage mehr im Raum! Ich weiß auch nicht, das ist einfach auch ein riesiger Glücksfall! Es ist einfach: Er hat es geschafft, dass es bei mir einfach … blubbert.

VSz: Du legst dich damit ja offen, du machst dich damit ja bloß.

TP: Genau. Wir hatten viele Gespräche, und es war einfach alles inspirierend. Darum wird unsere Zusammenarbeit auch weitergehen, ganz klar! Und wenn du sowas erlebst, dann ist das auch wie: Jetzt macht es Sinn, eine Platte zu machen! Davor hat das keinen Sinn gemacht. Ich habe viel live gespielt, und alle haben gefragt, warum hast du keine Platte? Und ich konnte immer nur sagen: Ich fühl’s nicht.

VSz: Das Repertoire hat sich über einen Zeitraum von drei Jahren entwickelt?

TP: Ja, drei Jahre und ich hab es nicht gefühlt. Und jetzt ist es einfach da und es macht total Sinn und ich habe keine … also, es gibt viele Fragen, aber diesbezüglich gibt es keine Fragen mehr.

VSz: „Ein Jedes hat seine Stunde“ – und das war jetzt die von „Diver“.

TP: Absolut. Das war jetzt der Moment dafür.

VSz: Sprechen wir noch einmal von Reduktion und Verlangsamung bei dennoch stets vorhandener strenger äußerer Form. Ist es so, dass dieses sehr formale Korsett dazu führt, dass man emotional freier sein kann als man es könnte, wenn die äußere Form weniger streng wäre?

TP: Also, dass man in der Stenge …

VSz: … viel freier ist als in der, sagen wir, antiautoritären Form.

TP: Ja, ich finde das absolut. Das andere ist dann vielleicht mehr punkig und chaotisch, und das ist ja auch wunderbar, das sind ja auch Sachen, die vielleicht mal in so einem Ursprung stattgefunden haben, aber dann war es mir wichtig, den eine Form zu geben, eine ganz klare Form, eine Klarheit zu finden in dieser Sprache, eben, damit es keine Fragen mehr aufwirft – aber sehr gerne beim Zuhörer etwas auslösen soll.

VSz: Ich empfinde es ja gerade dadurch als emotional noch berührender. Mir ist ein Vergleich aus der Literatur in den Kopf gekommen. Es gab im Ungarn der letzten Jahrhundertwerde zwei konkurrierende Dichter, Ady Endre und Mihály Babits. Und während der erste ein der freien Form huldigende Hitzkopf war, schrieb der andere ausgeklügelte, streng formalisierte Sonette. Babits machte sich in einem Sonett sogar darüber lustig, was seine Gegner über ihn sagten. „Ezek hideg szonettek“, schrieb er, „dies sind kalte Sonette“, aber das so formvollendet und feinziseliert, dass jeder die Überlegenheit der Form über den Freigeist erkennen musste. Ich war immer „Team Babits“. Für mich reicht es einfach tiefer, in der strengen Form die Emotion zu finden, als in der Expressivität.

TP: Vielleicht ist man auch weniger abgelenkt im Vergleich dazu, wo alles immer und überall möglich sein soll. Dass man sich da gar nicht so sehr damit befassen kann, weil man …

VSz: … diesen Ozean an Möglichkeiten hat. Und andersherum sperrt man ihn von vornherein aus.

TP: Ja, ich hab auch das Gefühl. Das meinte ich auch mit Abschälen. Mit wie-eine-Schlange-Haut-abstreifen. Sachen, die einfach nicht mehr zu dir passen – weg. Komplett weg damit! Auch wenn man sich überlegen könnte, ah, der eine Kritiker wird sagen, das ist schlecht, und die andere Kritikerin wird sagen, das ist lustig oder was auch immer, dass einfach alles von dem weg ist und nur noch Was-bin-ich-wirklich und Wer-bin-ich-wirklich übrig bleibt. Es hat sich einfach so am besten angefühlt, und es fühlt sich immer noch am besten an.

VSz: Apropos abschälen – du hast mir geschrieben, dass diese Musik nicht nur Raum, sondern vor allem auch Zeit braucht. Dabei hast du mich auf die einstündige Belichtungszeit des Coverfotos bei Nacht hingewiesen. Erzähl mir doch ein bisschen mehr davon!

TP: Der Fotograf ist ein portugiesischer Künstler, der war im Studio und hat gehört, was ich da mache – zufällig, er ist ein Freund von mir. Er ging dann, und eine Stunde später kam das Bild per Handy. Er hat geschrieben, hey, ich hab vor zwei, drei Jahren ein Bild gemacht, und diese Musik ist das Bild.

VSz: Was genau stellt das eigentlich dar?

TP: Es ist ein riesiger Stein – der westlichste Punkt von Festlandeuropa.

VSz: Ein Stein, der von oben nach unten wächst?

TP (hantiert mit dem Cover): Also, das Meer ist da, und der Stein ist so. Es ist einfach ein riesiger Stein. Ich komm gleich nochmal dazu! Das Schöne ist, es ist hier von allen Seiten beleuchtet vom Mond. Wenn man jetzt aber einen Schnappschuss von ihm macht, dann ist er immer nur partiell beleuchtet. Aber weil er halt über eine Stunde eine Langzeitbelichtung hatte, ist er auf der ganzen Breite beleuchtet. Es ist eigentlich ein irreales Bild, das gibt es so in der Natur nicht. Es ist eigentlich ein Film. Ein Film auf einem Bild. Und um das zu erreichen, hat er halt eine Stunde in der Nacht da stehen müssen, für dieses perfekte Bild. Und er hat es ein paar Mal gemacht, weil irgendwie hat es nicht funktioniert wegen des Wetters oder was auch immer, es ist halt so ein Vollmond-Ding. Und mir hat es gleich sehr gefallen, einerseits wegen der Langzeitbeleuchtung, für die man sich Zeit nehmen muss, man muss dort hingehen, man muss sich drauf einlassen, und andererseits hat mich halt dieses Steinige, dieses Kantige, in dieser Weichheit dieses Kantige, Goldige, extrem fasziniert. Ein Stein ist ja sowas Festes in der Landschaft. Trotzdem hat er ganz viele kleine Details. Und jetzt, um auf deine Frage zurückzukommen, hat der Grafiker ihn umgedreht. Weil, der hat … Wie der Taucher, taucht hier alles so ab ins Dunkel, in das Nichts. Und diese Welt wird hier ein bisschen angedeutet.

VSz: Und als das Weiche – du sprachst vorhin vom Kantigen in der Weichheit – betrachtest du die Dunkelheit, das Wasser, das da den hier gar nicht hart aussehenden Stein umspült.

TP: Genau. Der Fotokünstler heißt übrigens André Carvalho. Er macht wahnsinnig viele und wahnsinnig schöne dieser Langzeitbelichtungen. Und irgendwie war es einfach so passend!

VSz: Im Grunde macht er ja das mit Licht, was du auf dem Album mit der Geige machst: Dass du Dinge, und sei es ein Ton, in Langzeit beleuchtest. Ich finde auch, zum Schluss, auch wenn das ganze Album so viel mit Wasser zu tun haben scheint, zum Schluss hat es auch viel mit Licht zu tun.

TP: Ja, das stimmt. Schon der erste Titel heißt „Néon“! (kichert vergnügt vor sich hin, als hätte er etwas entdeckt, woran er große Freude hat)

VSz: Ich hatte noch zu „Collective“ notiert, diesem Schlussstück, wo vordergründig gar nichts, aber dahinter umso mehr passiert: „Es ist etwas jenseits von Inwortefassbarkeit, ein Spiel mit Schichten, Frequenzen, und, ja, auch wenn das mit Tönen eigentlich unmöglich ist, mit Licht. Im Grunde gilt das für die ganze Platte, die eine tongewordene Schwarzweißfotografie ist, voller flüssiger Schatten und im Moment eingefrorener Begegnung“. Und wenn du mir jetzt sagst, dass das Cover im Grunde ein eingefrorener Film ist, dann  bin ich überrascht, wie das zu passen scheint!

TP: Total! Also, diese wie du sagst: Schichten in schwarzweiß, die sind nicht einfach schwarzweiß, da kann man so viel entdecken! Wenn es aber ein vollfarbiges, leuchtendes Bild wäre, wäre man vielleicht auch überfordert und könnte darin weniger entdecken!

VSz: Die freiwillige Selbstbeschränkung der Form!

TP: Ja, Weil man dann einfach sagt, meine Aufnahmekapazität ist voll. Und darum finde ich die Schwarzweißparallele sehr schön.

VSz: Und dennoch muss man sich darauf einlassen, weil sonst sieht man nämlich nur schwarz und weiß und sonst exakt nichts, und sagt, jo, ganz hübsch. Auf dem Lied passiert halt sechs Minuten lang ein Ton – was soll mir das sagen?

TP: Genau. Und das werden viele sicher machen. Das wird nicht überall funktionieren. Aber die, die sich darauf einlassen, die haben plötzlich Platz, sich selber und ihre Welten und ihre Gedanken darin entfalten zu können. Es hat halt viel Platz, das Album.

VSz: Und das willst du auch, dass die Zuhörer sich ihre eigene Welt darin entfalten.

TP: Unbedingt! Ich glaube, das Gegenteil wäre, wenn man jemandem etwas aufdrückt und sagt, du musst dich jetzt glücklich fühlen, du musst dich jetzt schlecht fühlen …

VSz: Programmatische Musik!

TP: Zum Beispiel, ja. Und das ist überhaupt nicht das. Es ist diese Welt – und die hat so viel Freiraum. Ich meine, es kann sein, dass jemand kommt und sagt, dieser Song mache ihn so glücklich, und der andere sagt, er mache ihn total traurig. Weil er sie beide an etwas ganz anderes erinnert.

VSz: Und das ist für dich okay.

TP: Das finde ich super, weil ich hab keine Lyrics. Ich erzähle eine Geschichte, aber die ist eigentlich so abstrakt, weil ich ja nicht sage, ich gehe die Straße runter und geh dort in den Coffeeshop und hab Herzschmerz dabei – nichts von dem. Und doch ist das alles drin, wenn’s irgendwie passt.

VSz: Kommen wir noch einmal kurz auf das Äußere der Platte zurück: Am Anfang war diese Musik gar nicht für CD, sondern nur für Vinyl und digitale Veröffentlichung bestimmt. Warum?

TP: Das Label ist ein junges Schweizer Label, Zürcher Label namens Quiet Love Records. Und das sind zwei Leute. Es ist heutzutage irgendwie zeitgemäß … die haben keine großen Budgets und so, um die CD auf der ganzen Welt rumzuschicken. Und der Effekt, dass man in den Laden geht und das kauft, ist eigentlich vorbei. Wir haben dann gedacht, hey, CD, das hört eh niemand mehr, das will eh niemand mehr und haben sann gesagt, Vinyl und digital. Das kann man bestellen über Bandcamp, die Bestellungen kommen direkt zu uns, wir profitieren, wenn jemand das wirklich will – und sonst kann man das ja digital überall haben. Und die CD habe ich dann gemacht, weil ich gemerkt habe, dass ich doch ziemlich viele Leute ausschließe. Weil, ich habe gemerkt, in meinem Umfeld, auch mit dir zum Beispiel, wann kommt das physische Exemplar? …

VSz: Aber ich nehme ja auch gern Vinyl!

TP: Natürlich, das kommt noch. Es ist noch nicht da. Aber ja … Ich hatte das Gefühl, es sei zeitgemäß. Ich hatte überhaupt keine Lust, zweitausend CDs zu machen und die dann irgendwo zu stapeln, bis man die verkauft.

VSz: Auch kein Booklet und gar nichts …

TP: Nein, ich finde das irgendwie unökologisch, ich find’s komisch, ich finde, es ist vorbei.

VSz: Das heißt, die Entscheidung war dem Zeitgeist, der Ökonomie und Ökologie geschuldet, aber eigentlich keine künstlerische Entscheidung? Dass du sagst, diese Musik kann man nur von Vinyl hören …

TP: Nein, weil … nein. Ich finde, die Leute sollen die Sachen so hören, wie sie’s wollen. Ich bin überhaupt nicht dogmatisch, von wegen, man soll es nicht digital runterladen, man soll nicht nur einen Song hören und so. Die Leute sollen machen, was sie wollen und was sie fühlen! Es war einfach eine praktische, ökologische Überlegung. Ich finde, es ist ein bisschen vorbei mit dieser CD. Ich selbst habe keinen CD-Player mehr.

VSz: Tatsächlich nicht?! Aber findest du es nicht schade, wenn gerade Musik, die diesen großen Raum aufbaut, und an einer Stelle hatte ich das Gefühl, sie baue nicht aus tausend Sternen, sondern aus kargen Tönen einen Dom, dass die dann komprimiert wird auf das MP3-Format? Dass man die nicht wenigstens als FLAC-, wenn nicht als WAV-Datei hören sollte?

TP: Das! Ist! … Ich behaupte, ich hör’s nicht. Die Leute sagen, sie … also, viele, die sehr, sehr tief in Musik gehen, die hören das – ich persönlich hör’s, glaub ich, nicht. Wenn du mit mir einen Blindtest machst, würde ich die beste, hochauflösendste MP3 und die WAV wahrscheinlich nicht auseinanderhalten können.

VSz: Das möchte ich bei einem Geigergehör kaum glauben.

TP: Vielleicht schon – ich hab es einfach noch nie ausprobiert. Aber ich finde – klar! Wenn jemand Freude daran hat, eine gute Anlage hat, gute Kopfhörer hat, dann soll er sich das unbedingt in WAV holen. Wenn man bei Bandcamp das Album kauft, kann man es als WAV herunterladen. Bei iTunes glaub ich auch. Bin gar nicht sicher! Nur Spotify ist total MP3. Streaming.

VSz: Spotify benutzt man ja auch nicht. Aber das ist ein anderes Thema, Oder was sagst du als Künstler?

TP: Bin ich ganz anderer Meinung! Ich persönlich finde es eine großartige Geschichte. Wahrscheinlich bin ich da einer der wenigen, die in der Jazzthetik auftreten und diese Meinung haben …

VSz: Um nicht zu sagen: der Einzige!

TP: Weil es eben auch wieder Leuten die Musik erhältlich macht, die sonst nicht darauf kommen würden.

VSz: Dir geht es um Zugänglichkeit.

TP: Total! Ist doch schön! Also, wenn jemand irgendwo in der Pampa draußen den Titel vorgeschlagen bekommt und mich dadurch entdeckt – ich meine, das ist doch großartig!

VSz: Aber … das Albumkonzept!

TP: Ich finde, sogar wenn sie nur einen Track hören, ist das cool. Ich finde es toll, wenn man die Platte im Ganzen hört, aber auch, wenn man nur einen Track hört, finde ich das total okay. Das muss jeder für sich selber entscheiden. Um die Frage zu beantworten, warum wolltest du erst keine CD machen: Es ist absolut cool, wenn jemand in Brasilien sitzt und den zweiten Track hört und das dort teilt – großartig! Für mich ist das nur positiv. Ich finde es eine schöne Sache. Natürlich, die Industrie leidet, aber es werden neue Sachen kommen, die werden sich arrangieren. Dann werden halt die CD-Läden vielleicht ein bisschen kleiner, dafür gibt es dann aber Liebhaberplattenläden, die viel pointierter sind als das Saturn-CD-Zeugs. Ich glaube, die Menschen sind klug genug, die machen sich ihren Weg, man muss ihnen das nicht vorschreiben.

„Diver“ in der aktuellen Ausgabe der Fermaten. Danke an Christian Bohn für das nette Foto!
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