Klangverführer-Konzertkritik: Ein Abend mit Agnes Obel und I Am Kloot – klangverführer | Musik in Worte fassen

Klangverführer-Konzertkritik:
Ein Abend mit Agnes Obel und I Am Kloot

Es fühlt sich seltsam an, an diesem 21. Juli 2010 als geladener Gast im Admiralspalast zu sein, habe ich doch meine gefühlte halbe Jugend in dem damals noch Metropol Theater geheißenen Haus verbracht, stets Künstler-, Keller- und andere Hintereingänge nutzend. Das kam so: Irgendwann schenkten meine Eltern mir und einer Freundin, es muss zu Weihnachten gewesen sein, Karten für das – ja, das ist jetzt peinlich – Andrew Lloyd Webber-Musical Jesus Christ Superstar. Eigentlich sind wir, mal abgesehen von Cabaret, gar keine besonderen Musical-Fans. Ich glaube, es war eine besondere Inszenierung, und nach etlichen Jahren eingesperrt in der DDR war natürlich alles, was von den Broadway-Bühnen jetzt auch nach Ostberlin schwappte, erst einmal interessant. Egal. Auch glaube ich mich zu erinnern, dass ein ehemaliger Nachbar erster Geiger im Metropol war. Auch egal. Fakt ist, meine Freundin und ich waren berauscht von Farben, Formen, Tanz, Bühnenbild und Stimmen, wennauch weniger von der Musik selbst. Damals hegten wir selbst noch große musikalische Ambitionen (besagte Freundin ist jetzt übrigens Musical-Sängerin, und ich … naja, sehen Sie selbst), also entschlossen wir uns, den Künstlern nach der Show unsere Aufwartung zu machen. Wir kamen ins Gespräch mit Hauptdarstellern und Ensemble – ich glaube mich ferner an einen großartigen Danny Zolli in der Rolle des Judas zu erinnern –, die uns wohl niedlich fanden und Freikarten für eine kommende Aufführung in die Hand drückten. Schwupps, da war es, da Aha-Erlebnis! Zwei Vorstellungen derselben Sache, das hatte etwas von Finden Sie die zehn Fehler-Suchbild. Ich war fasziniert davon, wie anderes der Abend im Vergleich zu jenem davor war. Davon wollte ich, wahrscheinlich schon immer eher investigativ als musikalisch begabt, mehr!

Fortan trachteten wir, so vielen Aufführungen wie in der Gastspielzeit nur irgend möglich beizuwohnen. Natürlich gab es nicht jedesmal Freikarten, und so wurde der Gang durch den Heizungskeller bzw. Requisitenfundus zur lieben Gewohnheit. Bald schon kannten wir alle Schleichwege und Verstecke, der Pförtner hatte keine Chance. Mit klopfendem Herzen verbargen wir uns in den halbdunklen Gängen, um zu Vorstellungsbeginn irgendwo zwischen Orchestergraben und seitlichem Bühneneingang unauffällig im Publikum zu verschwinden. Da die Show gut besucht war, gab es dann auch das ein oder andere Mal Stehplätze für uns. Mit 15 oder 16 ist einem so etwas aber egal. Heute würde man es wahrscheinlich als Zumutung empfinden … Ich weiß nicht, wie oft ich Jesus Christ Superstar gesehen habe. Ein Musical-Fan bin ich übrigens trotzdem nicht geworden. Die Fähigkeit, mich in Theater bzw. Konzerthäuser einzuschleichen, ist mir allerdings noch lange erhalten geblieben. Irgendwann Anfang zwanzig habe ich sie verloren. Aber jetzt bin ich ja ganz offiziell hier, und ich muss mir immer wieder sagen, dass ich nichts Verbotenes tue. Das gewisse Kribbeln nämlich ist beim Betreten der Spielstätten von damals geblieben.

Ich kaufe mir ein Bier und fahre ins Studio im vierten Stock des historischen Gebäudes. Zufällig nehmen die drei Jungs von I Am Kloot, John Bramwell (vocals/guitar), Peter Jobson (bass) und Andrew Hargreaves (drums), denselben Fahrstuhl. Mit britischer Höflichkeit lässt mir der Bassist den Vortritt. Es ist heiß und stickig, und ich denke nur, hoffentlich bleiben wir nicht stecken! Die Luft wäre innerhalb kürzester Zeit verbraucht. Doch alles funktioniert reibungslos, und so steht dem ungetrübten Konzertgenuss nichts mehr im Wege.

Die in Berlin lebende dänische Sängerin/Songwriterin/Pianistin Agnes Caroline Thaarup Obel eröffnet den Abend mit einigen Songs aus ihrem im September erscheinenden Album Philharmonics.

Obels Orgel, ein MacBook auf ’ner Bierkiste, Effektpedal, zwei Gesangsmikros und ein Cello – mehr braucht es nicht, um ganz zauberhafte Musik zu machen.

Ach, diese Storytelling Pianoplaying Fräuleins, die zu viel Tori Amos gehört haben! Man kann nicht umhin, sie zu mögen! Leider ist ihr Set viel zu schnell vorbei, aber ich habe eine kleine Klangprobe mitgebracht:

Pause. Das – von radioeins geladene – Publikum ist sehr jung, sehr hip, hat sehr hübsche Klamotten an und noch hübschere, winzige elektronische Spielsachen dabei. In seiner Pseudoindividualität ist es schon wieder uniform. Ich nehme mich da in meinem Kopfhörer-T-Shirt gar nicht aus! Allerdings halte ich mich für der deutschen Sprache mehr oder minder mächtig, was den herumschwirrenden Gesprächsfetzen nach zu urteilen nicht selbstverständlich ist. Der Typ neben mir, Marke „Baby ich erklär’ dir die Welt“, erzählt seiner hingerissen lauschenden Begleiterin gerade etwas über seine „selektische Wahrnehmung“. Am Kragen packen möchte man ihn, schütteln und „Lern Deutsch!“ zurufen. Wenn das die typischen radioeins-Hörer sind (immerhin ein Sender, der sich seinem Selbstverständnis zufolge als „nur für Erwachsene“ definiert), dann Gute Nacht, Deutschland. Na, schieben wir es auf die Hitze, die auch das Studio nicht verschont.

I Am Kloot versöhnen mich wieder mit Studio, Publikum und Hitze – spätestens bei ihrem zweiten Song, dem 6/8-ler Desaster, Thema: Suff, wo wunderbarerweise Trompete und Akkordeon ausgepackt werden (okay, im Opener hatte eine Konzertflöte ihren großen Auftritt, das war nicht minder wunderbar!). Die dreiköpfige Band nämlich ist mit Verstärkung angerückt, um ihr neues Album Sky at Night live zu präsentieren. Da spielt der E-Gitarrist Trompete, der Saxophonist Querflöte und der Keyboarder Akkordeon. Schön, wenn man eine klassische Ausbildung vorweisen kann!

Außerdem gibt es den Bandkern, bestehend aus einem netten Bassisten, der einfach mal seine Arbeit am warmweichen Sound macht und keine Zeit für andere Instrumente hat, einem genialen Schlagzeuger, für den dasselbe gilt, und eben Sänger/Akustikgitarristen John Bramwell. Der hat zwar ein „ewiger Junge-Gesicht“ und eine entsprechende Stimme, aber das tut der Show keinen Abbruch.

Schon mit dem vierten Song folgt der nächste 6/8-ler. Statt um Suff geht es diesmal um Insomnie – na ja, soweit voneinander entfernt liegen beide Themen ja nun auch wieder nicht. Und hier wird aus dem vorgetäuscht harmlosen Bramwell ein von seinen Dämonen gequältes Individuum, das mit ganz erstaunlicher Stimme seinen Schmerz rausschreit. Geht doch!

Ein Seitenblick ins Publikum bringt zutage, dass Frau Obel nach ihrem Auftritt in selbigem Platz genommen hat. Eine zarte blonde Elfe im Blümchenkleid hockt mit einer Bierflasche in der Hand auf dem Boden. Ein hübsches Bild, das die Obel umso sympathischer macht.

Die Stadt, von I Am Kloot-Frontmann Bramwell mittlerweile „Tropical Berlin“ getauft („The good news is: It’s rainig in England“, versuchte er das dampfende Publikum aufzumuntern), kocht. Auch Agnes Obel hatte die – bestimmt nicht nur vom Scheinwerferlicht verursachte Hitze – während ihres Auftrittes kommentiert. Das Publikum wedelt sich Luft zu, teils mit klassischen Fächern, teils mit den Ausdrucken der Einladungs-E-Mail. Notiz an mich: Ein Moleskine eignet sich nicht zum Fächern.

Es ist 20:30 Uhr, Sax, Keys und Trompete packen ihre Sachen. Übrig bleiben die drei Herren aus dem Fahrstuhl, um das zu tun, was sie am besten können: einen „Song about Love and Desaster“ zu spielen, das grandiose Twist, ein Stampfer mit Bass-Solo:

evoke the rich tapestry
of love and devotion
emote the sweet saccharine
of all that devotion
forget all about that
and fall in this ocean with me
with me


twist, snap
i love you


there’s blood on your legs
i love you

Und auch den nächsten Song kennen alle. Your Favorite Sky besticht ebenfalls durch seinen zauberhaften Text:

… and so what is love? and who am i? to dare to pull the stars from your favorite sky …

Der vorletzte Song vor der Zugabe, Storm Warning aus dem Natural History-Album (2001) des Manchesteraner Trios ist mein ganz persönlicher Favorit. Wieder einer dieser Stampfer, bei denen I Am Kloot zu gut sind. Wenn sie doch ausschließlich Songs wie diesen machen würden, sie wären eine meiner absoluten Lieblingsbands!

Der nächste Song hingegen drängt schon wieder sehr in die Schwermetall-Ecke. Uff. Aber auch hier sind die zentralen Themen, um die bei I Am Kloot alles kreist, Schalflosigkeit und das im Halbtraume mit sich selbst ringende Individuum:

When I sleep at night the creatures crawl, and I get caught up in a one-man brawl with me

Bei diesem Song handelt es sich um den One Man Brawl aus dem Album
Play Moolah Rouge, das ich 2008 zwar ganz wunderbar fand, seither aber nichts für, nichts gegen die Band hatte: Sie war schlicht von meiner privaten musikalischen Landkarte verschwunden. Das hat sich mit diesem Abend gründlich geändert!

Drei patschnasse I Am Kloot-ler verabschieden sich. Es ist 21:10 Uhr. Ich gehe, und noch auf dem Weg höre ich, dass sich die Band zu einer weiteren Zugabe zurückrufen lässt. Von der bekomme ich aber nichts mehr mit, denn ich muss bis um zehn Kopfhörerhund abgeholt haben. Was mir auch gelingt – das ist das schöne an Radiokonzerten: Da live on Air, müssen sie pünktlich über die Bühne gehen und man selbst kommt beizeiten ins Bett.

Comments (2):

  • Die Energija-Rakete hebt ab – ich aber will nur noch ins Bett «

    […] Konzertabend wie ich auch, und mindestens genauso überarbeitet. Ja, ich habe mal geschrieben, Radiokonzerte seien schon allein deshalb so toll, weil sie pünktlich über die Bühne gehen müssen…. Leider haben wir da vorgestern etwas falsch gemacht. Nach Konzertschluss war es einfach noch so […]

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