Alles wird kleiner – aber auch besser? Die Popkomm 2011, Tag 1 – klangverführer | Musik in Worte fassen

Alles wird kleiner – aber auch besser?
Die Popkomm 2011, Tag 1

Ich habe rasende Kopfschmerzen. Die Nacht war nicht gut, und jetzt ist die Stimmung entsprechend. Die Eröffnungsveranstaltung Popkomm 2011 jedenfalls schwänze ich, was insofern schade ist, als dort Schwedens Außenhandelsministerin Ewa Björling sprechen wird und ich im Moment Dank King Oliver’s Revolver riesiger Fan des schwedischen Musikexportes bin.

Als ich auf dem Messegelände ankomme und erwartungsvoll den Schwedischen Stand aufsuche, ist die Enttäuschung jedoch groß. Bezeichnenderweise findet sich auf dem Ländersampler Sweden @ Popkomm 2011 nicht das kleinste Fitzelchen Weird Folk Funk Surf Whatever Crazy Stuff, sondern ziemlich unausgegorenes Zeug und damit eher das, was die Franzosen als Le Rock bezeichnen. Disco gibt es noch und Electro-Clash – das klingt alles eher nach Eurovision Song Contest und hat einfach mal so überhaupt keinen Groove. Einzig cool bei den Schweden dieses Jahr: Die Pop-Rock-Punk-Mädels von Tantrum To Blind. Ziemlich geil finde ich auch Corroded, aber dafür muss man schon eine ausgeprägte Schwermetallader haben oder zumindest irgendwann im Leben mal Metalhead gewesen sein.

Dann gibt es noch ein Cover von The one and only – das Original von Chesney Hawks war ja schon schlimm, aber die Version von Andres Fernette toppt das locker. Einmal mehr frage ich mich, wer diese Sampler zusammenstellt, die für ein Land angeblich repräsentativ sein sollen. Um Klassen besser ist da schon Out of Norway mit Künstlern wie Kaizers Orchestra, Blind Archery Club oder Elly Marvellous. Phantastisch: Anette Askvik mit Liberty. Wer Kate Bush mag, wird das hier lieben:

Mindestens genau so hörenswert: Hasse Farmen mit Lang het sommer, Live Foyn Fris mit Make Me Smile und Jenny Moe mit Mon Capitaine. Oder Phone Joan mit Na na na na na mit seinen Gitarrensoli, wie sie seit den Achtzigerjahren verboten, aber nichtsdestoweniger großartig sind. Vermutlich kann man zurzeit einfach kein Norweger sein und schlechte Musik machen. Aber auch hier fehlen mir aktuelle Lieblinge wie Major Parkinson, Thomas Dybdahl oder Katzenjammer, von All-Time-Favorites wie Bugge Wesseltoft ganz zu schweigen.

Finland bringt wie immer ein massives 4-CD-Päckchen unter die Leute, unterteilt in die Genres Indie/Electronic, Pop/Rock, Hard Rock/Metal und World/Jazz. Auf Letzterer gibt es nicht nur mit dem Tango-Orkesteri Unto, sondern auch mit Johanna Juhola Reaktori und Pipoka schönen finnischen Tango zu hören – genau das Richtige für einen latent depressiven Morning After nach dem ersten Messetag. Finnischer Klezmer (Sväng mit Schladtzshe) ist auch nicht unbedingt als Ausbund der Fröhlichkeit zu bezeichnen, aber nichtsdestotrotz großartige Musik. Ganz kurz ärgere ich mich noch über diese idiotische Zuordnung zum meiner Ansicht nach non-existenten Genre „World“ – Denn mal ehrlich, was haben Tango und Klezmer gemein, dass man sie in eine Schublade steckt? Und weshalb muss man das Ganze dann noch mit Jazz zwangsvergesellschaften? –, aber das ist ein anderes Problem. Vorerst müssen wir mit dieser Subsummierung leben, ob und das nun gefällt oder nicht. (Weshalb es uns nicht gefällt, kann der interessierte Leser in dieser schönen Streitschrift nachlesen.)

Auch Maria Kalaniemi mit ihrem Akkordeon und Elfengesang versteht es, einem aufs Gemüt zu schlagen. Die können einen schon runterziehen, diese Finnen! Naja, mit irgendetwas muss sich die höchste Selbstmordrate weltweit ja erklären. Dann allerdings geigt man sich mit Frigg plötzlich in sonnigere Gefilde, und unwillkürlich fragt man sich, ob es in Finland auch Hardanger-Fiedeln gibt. Endgültig happy werden die Finnen mit der Bad Ass Brass Band, und die ist – nomen es omen – definitiv eine Entdeckung! Finnischer Balkan-Brass? Geht! Irland hat mit seinem Kopfhörercover zumindest den Preis für die schönste CD verdient.

Neben teils seltsamer Musikauswahl haben sich die Nordlichter dankenswerterweise auf ihre große Stärke besonnen und vorsorglich die gemeinschaftlich betriebene Nordic Bar aufgebaut.

Wie gut, dass ich noch von letztem Jahr weiß, wo die dem Messegelände nächstgelegene Apotheke ist. Das kleine Apothekchen „am Flughafen“ sieht sich einmal im Jahr mit einem unerwarteten Besucheransturm konfrontiert, meine Kollegen stehen nach Kopfschmerztabletten Schlange. Und dabei ist heute gerade mal der erste Tag! Genügend Entspannungsmöglichkeiten gibt es jedenfalls, ob mit der mobilen Masseurinnen oder mit einladenden Sitz- oder vielmehr Lümmelgelegenheiten.

Ohnehin hat man gelernt. Alles ist kompakter und funktionaler, vor allem aber noch kleiner geworden als im Vorjahr. Gleichgeblieben ist die wegweisende Verwirrung. Auf die Frage, wo ich denn eine warme Mahlzeit herbekomme, schickt man mich von unten nach oben und von dort wieder runter. In der Tat kann man das warme Essen in der Main Hall beinahe übersehen. Es stehen exakt zwei warme Gerichte zur Auswahl, eine Paella-Pfanne und eine Steak-Pfanne. Die Lasange und damit das einzige vegetarische Gericht ist aus – ein krasser Gegensatz zum vorigen Jahr, wo man mit Jamaican Food und Organic Food und was-auch-immer-Food aufwartete. Wer konkurrenzlos ist, kann es dafür aber auch von den Lebendigen nehmen. Für solch ein Winzpfännchen werden dann eben mal sechs Euro fällig.

Da das hier natürlich nicht sättigt, steht man danach automatisch für ein weiteres Sandwich Schlange. Und draußen, wo letztes Jahr eine komplette Bio-Fressmeile aufgebaut war, herrscht tote Hose, ebenso auf den Emporen, wo es statt weiterer Labels schlichte Rückzugsmöglichkeiten für Sprecher, Hostessen und die Presse gibt. Und auch der eine oder andere Meetingraum findet sich hier.


Wo früher die Administration von Laurèl Airlines saß, kann heute die Presse ihre Texte an die Redaktion schicken, drucken, faxen – oder einfach auf Facebook surfen, was die meist aufgerufene Website der Messe sein dürfte. Auf welchen Bildschirm man auch einen Blick erhascht, überall sieht man Kollegen, die ihr FB-Profil auf den neuesten Stand bringen.

Die Atmosphäre mag man nur mit viel gutem Willen als „voller Flughafencharme“ bezeichnen. Die passendere – und vor allem ehrlichere – Bezeichnung indessen wäre „trostlos“. Zumindest funktioniert alles, denn die diejährige Popkomm erweist sich als gnadenlos effizient. Zeit und Muße für einen spontanen, unverbindlichen Schnack bleibt da kaum. Wer im Vorfeld keinen Termin gemacht hat, hat schlicht und ergreifend Pech gehabt. Dafür allerdings hätte es auch gereicht, die große Halle zu buchen und Freibier auszuschenken – das bisschen Drumherum interessiert hier sowieso keinen.

Auch der Stand der H’Art-Vertriebes, der im Vorjahr noch eine stattliche Fläche einnahm, ist erheblich geschrumpft. Bier getrunken wird dort indessen noch immer, die H’Art-CDs allerdings gehütet wie der eigene Augapfel. Wo mir voriges Jahr noch mehr CDs aufgenötigt wurden, als ich tragen konnte – darunter die wunderbare Mystefé me, My Heart Belongs to Cecilia Winter und Chill’n’Michael, die ich alle gern rezensiert habe, höre ich dieses Jahr gleich von drei Mitarbeitern: „Unsere CDs sind aber keine Promo-Exemplare.“ Ist ja schon gut, ich wollte auch nur mal gucken. Viel Neues sehe ich ohnehin nicht. Eine Acid-Jazz-Compilation weckt meine Aufmerksamkeit, aber nicht einmal das aus-dem-Regal-Holen der CD und Lesen der Rückseite ist gern gesehen.

Ein weiteres Cover spricht mich an, denn es verspricht schummerige Stunden irgendwo zwischen Luxushotellaken und Jazzspelunke: Gaslight von fDeluxe. Was das denn für Musik sein, möchte ich wissen. Genau diese eine CD habe er nicht gehört, bedauert der zuständige H’Art-Mitarbeiter. Dem Label zufolge aber etwas Smooth-Jazziges. Ob ich mal hineinhören könne? Leider gäbe es keine Hörstationen. Wo ich die CD denn hören könne? Ich solle doch auf Amazon.de gehen. Wahrscheinlich sprach mein Blick Bände, jedenfalls habe ich das kostbare und nicht zu vergebene Stück schlussendlich doch ausgehändigt bekommen, um es zu Hause in Ruhe zu hören. Das erleichtert die Arbeit des Klangverführers, der es sich auf die Fahnen geschrieben hat, seine Leser kontinuierlich mit guter Musik zu versorgen, dann doch ungemein.

Allerdings stellt diese unerwartete Freigiebigkeit vor ein neues Dilemma, denn die CD ist nett anzuhören, ich möchte sie den Klangblog-Lesern gern ans Herz legen. Immerhin trifft sich auf Gaslight Rock mit Funk mit Jazz mit Club – smooth ist daran zwar so gar nichts, dafür ist das Ganze sehr tanzbar. Wie eine Transformation von Acid Jazz in die 2010er-Jahre. Ein bisschen Brand New Heavies, ein bisschen Cultured Pearls, nur weniger Lounge und dafür mehr Bebop. Nikka Costa mit mehr Bläsern. Und Prince schaut auch mehr als einmal um die Ecke. Sehr cool: Track fünf, @8. Das Dilemma an der Sache? Das Album ist nicht überall erhältlich; wer es haben möchte, solle sich doch ebenfalls vertrauensvoll an Amazon wenden – dort sei „die Chance noch am höchsten“, lässt der H’Art-Mitarbeiter wissen. Auch ein seltsames Geschäftsmodell für einen Vertrieb: Mit Musik auf eine Messe zu gehen, die nicht überall zu haben ist.

Dann lieber doch wieder zu den Länderbüros. Bei den Ösis – Claim: Austria sounds great! – gibt es Salami mit Chilligeschmack, die Argentinier haben mit dem Bajafondo-Tangoclub feinsten Electro-Tango im Gepäck – leider habe ich den schon 2003 in Buenos Aires entdeckt, und ich mag kaum glauben, dass sich seitdem nichts Spektakuläres in Sachen bonarenser Clubszene getan hat. Die vertretungsweise gebriefte Hostess weiß auch nicht wirklich viel darüber, der Standinhaber ist nicht aufzutreiben. Sie preist noch die Showcases von Tremor („a fusion between Argentine folkloric music and digital production“) und Mati Zundel („different styles of Latin American folklore from Argentine chacareras and vidalas all the way to Peruvian huaynos and Mexican sonideros“) an. Och nö. Die definitiv schönste Standdeko hat Tallinn mit einer Kopfhörerelchmama samt Babyelch.

Für weniger rührselige Naturen hält Tallinn aber auch eine ganze Kühlbox  Saku bereit; und gleich daneben hat Heineken eine grüne Lounge aufgebaut.

Der Gemeinschaftsstand der PopAkademie Baden-Württembrg und der Stadt Mannheim hat wieder mal den schönsten Claim. War es im Vorjahr „Wenn Popstar, dann mit Abschluss“, ist es diesmal ein plakatives „Wir hassen Musik“. Wer genau hinsieht, kann aber den Zusatz „wenn sie aus ist“ entdecken.

Zudem beweist man mit dem popakademie mixtape no. 01, das Künstler wie Abby, Reich und Schön oder Alina Wichmann featured, dass es auf der Popkomm sehr wohl frische neue Musik zu entdecken gibt. Und es ist definitiv symptomatisch für die Branche, wenn Studenten bzw. Jung-Absolventen dank Marie & The Redcats mit So Many Birds das schönste Lied der Popkomm machen.

Ansonsten findet die Musik auch dieses Jahr außerhalb der Popkomm statt, ob mit Berlin Music Week oder Berlin Festival. Wenn man die Musik dann aber erst einmal aufgespürt hat, lässt sich festhalten: Alles wird besser.

Indessen ändert dies nichts an den hinlänglich bekannten Herausforderungen, denen sich die Musikindustrie stellen muss, wenn sie nicht endgültig von den Entwicklungen, die bislang ohne sie stattfinden, überrollt werden möchte. Die Titel der Keynotes, Panels und Workshops sprechen da Bände. „How to do digital marketing“, fragt man sich dort, oder „What is the future of music online?“, nur um am Schluss zu resignieren: „Why they will not even steal your music any more!“ Die Branche singt auch dieses Jahr wieder ihren eigenen Schwanengesang.

Davon morgen mehr. Ich muss mir jetzt erst einmal ein vernünftiges Essen kochen. Sie als fleißiger Klangblog-Leser können alldieweil zwei dieser hübschen Popkomm 2011-Taschen abstauben. Schreiben Sie einfach eine Mail an kontakt@klangverfuehrer.de

Comments (4):

  • Bei den Finnen fehlen die Poets of the Fall. 😉
    Und Corroded klingt doch geil und eigentlich zähle ich mich nicht zu den Metalheads.

    • VSz | Klangverführer

      Die Poets of Fall haben sich leider nicht auf dem diesjährigen Ländersampler präsentiert, lieber Wayfarer.

  • Paganini67

    Eigentlich sollte dies meine Messe-Woche werden, erst IFA dann PopKomm. Außer 3D ohne Brille habe ich auf der IFA aber nichts innovatives entdeckt – wobei ich zugeben muss, auch kein Interesse für die sog. Weissware (Waschmaschinen, Staubsauger-Roboter, Rasierapparate, etc.) aufgebracht zu haben. Dann auch noch Jürgen Karney und Inka Bause im Vorbeigehen – im Sehr-Schnell-Vorbeigehen !!! – hören und sehen müssen. Naja – die Vorfreude auf die PopKomm stieg jedenfalls – es konnte ja nur besser werden – oder wenigstens anders !
    Dann habe ich diesen Artikel gelesen und beschlossen, den zweiten Teil auch noch lesend zu geniessen und dies als Messebesuch zu deklarieren. In meiner Jugend hat Karat gesungen: „Wenn ein Schwan singt, schweigen die Tiere.“ – für mich als musizierendes Alphatier ist das dann wohl nichts – wahre Grösse liegt eben doch im Verzicht !
    Danke für diese ehrlichen und authentischen Eindrücke !!!

  • Sehr schade. Trotzdem danke 🙂

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