Die Bremer Jazzmusikanten. Tag 1 und 2 der Jazzahead! 2013 – klangverführer | Musik in Worte fassen

Die Bremer Jazzmusikanten. Tag 1 und 2 der Jazzahead! 2013

„Alles ist Jazz“. Das wissen die Leser Lili Grüns spätestens seit der Neuauflage ihres ursprünglich Herz über Bord betitelten Berlin-Roamns von 1933, der mich dann auch stilecht bei meiner Expedition auf die Jazzahead! nach Bremen begleitet.


Auch beim Bremer Bahnhofsbuchhandel ist man auf die in die Stadt einfallende Jazz-Meute eingestellt

Musste dieser mittlerweile „wichtigste und größte Treffpunkt der Branche“ (Pressemitteilung) die ersten verflixten sieben Jahre noch ohne Klangverführer auskommen, ist er – sprich: bin ich – bei der achten Jazzahead! live vor Ort, um sich bzw. mich zu überzeugen, dass Bremen nicht nur mit seinen vier Stadtmusikanten, sondern tatsächlich auch einem beeindruckenden Line-up an gern gehörten Jazzmusikern – ich sage hier nur: Tobias Preisig, Olivia Trummer Trio, Zodiak Trio und Helge Lien Trio, nur, um ein paar zu nennen – und sechshundert Ausstellern aus aller Welt aufwarten kann. Nicht zuletzt lockt auch das diesjährige Partnerland Israel, zu dessen Künstlern ich seit jeher eine enge Beziehung pflege, von meiner allerersten Besprechung für fairaudio (Yael Naim), über Shabbat Night Fever und Ofrin bis hin zu den jungen Wilden à la Joe Fleisch oder Gad von den Dirty Honkers.

Da bleibt es natürlich nicht aus, dass ich mich auch beim einstimmenden Hören des offiziellen Jazzahead-Samplers in eine Komposition eines Mannes aus Israel verliebt habe: Bye Y’all des Tel Aviver Gitarristen Yotam Silberstein, mit der die Compilation beginnt. Das Stück indessen eröffnet nicht nur den Sampler, sondern auch das erste von vier Themenbündeln der Messe, die Israeli Night, in deren Zuge verteilt zwischen Halle 2 in der Messe und Kulturzentrum Schlachthof auch noch das Omer Klein Trio, Malox, Daniel Zamir, Ilana Eliya, LayerZ und das Ensemble Yaman zu hören sein werden.

Während des Showcases von Yotam passiert dann aber erst einmal noch etwas anderes: Ich verliebe mich in den Bassisten Gilad Abro. Der ist so unglaublich geil, dass ich ihn Ihnen nicht vorenthalten will – meine ganz persönliche Entdeckung an Tag 1 der Jazzahead! 2013. Hier erstmal etwas funky Swingendes …

… und dann noch die Ballade Nocturno.

Ich meine, ein Kontrabasssolo bei einer Ballade, das dermaßen unkitschig gerät, wer hat so etwas denn schon einmal gehört? Nicht zuletzt ist auch Schlagzeuger Amir Brevler, der vormals bei Avishai Cohen – von dem später noch die Rede sein soll – gespielt hat, sehr sehr geil. Kurz: Eine Rhythmusgruppe, die man (oder zumindest ich) gern klauen möchte! Und offensichtlich bin ich nicht die Einzige, die so denkt, denn Abro und Bresler spielen nicht nur bei Yotam, sondern auch bei Klarinettist Daniel Zamir. Abro allein fungiert zudem als Vokalist bei LayerZ. Böse Zungen könnten jetzt behaupten, die israelische Jazz-Szene sei eben überschaubar. Es könnte aber auch für die herausragende Qualität der genannten Musiker sprechen, dass ein jeder möchte, dass sie bei ihm spielen. Und Qualität ist hier definitiv vorhanden.


Sieht zu allem Überfluss auch noch gut aus: Mr. Gilad Abro

Yotams Stücke jedenfalls singe ich noch den ganzen Abend vor mich hin,
auch beim folgenden Rundgang über die beinahe noch schlafende – gilt der Donnerstag doch gemeinhin als „the quiet day“ – Messe. Doch auch heute schon trifft man alte Bekannte und solche, die es noch werden wollen, beispielsweise die netten Leute von Jazzthetik, die Musik nicht wie der Klangverführer in Worte fassen, sondern schlicht „lesen“ (lassen) wollen.

Natürlich ist der eine nette Jazzthetik-Mensch gleichzeitig Bassist, und ich heimse die erste (von vielen) CDs der Messe ein. Dies hier wird, da müssen sie jetzt ganz stark sein, eine Art Bassisten-Special werden. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass die vibrierenden Tieftöner tatsächlich die Jazzahead! dominieren, oder dass nur ich aufgrund einer leicht abseitigen Vorliebe meinen Fokus darauf gelegt habe. Dazu aber später mehr, der Gelegenheit wird hierzu noch reichlich sein, glauben Sie mir! Erst einmal aber treffen wir am österreichischen Stand, der, ebenso wie bei der letzten – nicht im Sinne von vorjährigen, sondern von: letzten ihrer Art – Popkomm unter dem Motto „Austria sounds great“ firmiert, ein nettes Pappschaf.

Einen Tag später wird übrigens ebenso nettes Pappgras hinzukommen. Und noch einen Tag später stelle ich fest, dass das Pappschaf als CD-Regal dient. So weit sind wir aber noch nicht. Heute kann sich dafür, wer mag, ins Wohnzimmer von Berthold Records einladen lassen …

… wo es nicht nur Omas Mobiliar inklusive Kommode und Stehlampe, sondern auch jede Menge ziemlich gute Musik gibt. Oder man bewundert die Trompete vom Jazzcastle Wolfsburg …

… und holt sich dabei einen Vorgeschmack darauf, was einen hier vom 14.
bis zum 16. Juni erwartet, denn das Line-up kann sich sehen und vor allem hören lassen: von der bezaubernden Viktoria Tolstoy über Jazzanova bis hin zu Nils Wogram oder Michael Wollny sind sie alle dem Ruf der Autostadt gefolgt. Alternativ kann man den sympathischen Standbetreibern versprechen (und das Verspechen später natürlich auch halten), ihre Facebook-Seite zu liken, dann bekommt man als Dank ein Miniaturpiano, das sich beim näheren Hinsehen als Brotdose entpuppt.

Wem dieses nähere Hinsehen nicht mehr zielsicher gelingt – denn natürlich gibt es auch an allen Ständen diverse Alkoholika -, der kann in der Chill-Out-Zone vor einer Südseetapete im Liegestuhl eine Pause einlegen …

… oder sich von den netten Catering-Damen orientalische Spezialitäten kredenzen lassen.

Die Alkoholika indessen sind auch hier nicht weit, wie man sieht. Es wird Zeit für einen spätabendlichen Ausflug in die Bremer Altstadt – und wie froh bin ich, in dieser milden Frühlingsnacht dem Eselchen der Stadtmusikanten an die Hufe gefasst und damit immerwährendes Glück auf mich gezogen zu haben …

… denn schon der nächste Tag macht ernst mit der angedrohten Wetterprognose: Die Temperaturen fallen um mindestens zehn Grad, es stürmt und dauerregnet. Nicht gerade ideales Hufanfasswetter! (Ich komme allerdings trotzdem noch einmal zu dem Getier zurück, um stellvertretend für Lina Liebhund auch dem Stadtmusikantenhund an die Pfoten zu fassen.) Erst einmal aber beginnt Tag 2 mit einer unangenehmen Überraschung, die allerdings technischer und nicht meteorologischer Natur ist: Der Internetzugang auf dem Hotelzimmer erlaubt einen maximalen Datentransfer von 250 MB – da Jazzer für gewöhnlich nun aber etwas länger spielen als Popper & Co., hat so ein HD-Video schon mal gute vier- bis fünfhundert MB. Frustriert begebe ich mich ins Spa; und auch, wenn es so ein beheizter Außenpool in seiner Klimabilanz vermutlich locker mit hundert Heizpilzen aufnehmen kann und ich mich die geschätzten nächsten drei Jahre ausschließlich per Fahrrad fortbewegen und vegan ernähren muss, um das irgendwie wieder gutzumachen – es ist genau das, was ich jetzt brauche. Und unter den fachkundigen Händen der hauseigenen Masseurin fällt dann auch der letzte Groll über die verdammte Technik von mir ab. Okay, ich höre ja schon auf, Sie neidisch zu machen und lade Sie stattdessen ein, mich zu Themenbündel zwei auf die German Jazz Expo zu begleiten.

Hier treffen wir, wie eingangs schon angekündigt, auf eine alte Bekannte. Olivia Trummer gibt sich charmant wie eh und je, ob sie nun solo Gershwin-Klassiker wie They Can’t Take That Away From Me oder mit ihrem Trio Eigenkompositionen spielt, von denen ich Ihnen – um künftige Komplikationen zu vermeiden, ab nun nicht mehr in HD-Qualität, sondern ganz normal, sehen Sie mir das nach – eine mitgebracht habe:

Bleibt nur die Frage: Wie kann man mit diesen Absätzen – immerhin geschätzte zwölf Zentimeter – überhaupt Klavier spielen?, die die Sängerin dann auch selbstironisch stellt. Wie, weiß man zwar auch danach nicht, aber dass – das weiß man jetzt. Dass die Laune mittlerweile wieder auf dem Höhepunkt ist, liegt aber nicht nur an dem sympatischen Flirt Trummers mit ihrem Publikum – auch das Presseoffice auf der Jazzahead! ist technisch auf dem höchsten Stand. Nett und kompetent betreut lade ich hier meine Videos in wenigen Minuten hoch. Wer braucht schon den schwächelnden Internetzugang des Hotels?


Mit diesen Schuhen kann man sicherlich auch Tresore knacken

Jetzt aber schnell weiter, denn heute Abend steht das Galakonzert der Jazzahead! auf dem Programm: Der Tel Aviver Bassist Avishai Cohen spielt in der Glocke. Über dieses als „eines der Highlights der Partnerlandprogramms“ angekündigte Konzert wurde im Vorfeld schon so viel gesagt und gemunkelt – vor allem aber über Cohen selbst. Hoffentlich musst du Arme kein Interview mit ihm machen, wurde ich gewarnt, gilt der Künstler doch als maulfaul und schwierig. Wenn das Publikum in seiner Begeisterung noch eine Zugabe will, so die Lästerer weiter, könne es vorkommen, dass Cohen schon ohne ein Wort im Taxi sitze und zurück ins Hotel fahre. Auch die strengen Film- und Fotorestriktionen für die Presse, eine absolute Ausnahme auf der in dieser Hinsicht sonst sehr liberalen Jazzahead!, bestätigen das bislang heraufbeschworene Diven-Bild des Ausnahme-Bassisten.

Als ich ihn dann aber spielen höre, habe ich plötzlich verstanden. Avishai Cohen legt sein ganzes Leben, sein Sein, sein Selbst in sein Spiel, verausgabt sich bei einem Konzert bis zur Selbstaufgabe. Alles, was er zu sagen hat, tut er durch die Musik. Und wenn in seinen Augen ein Konzert beendet ist, weil er alles gesagt hat, dann ist es eben beendet. Warum sollte er dem dann noch was hinzufügen oder gar blöde Fragen beantworten?

Cohen muss man zuhören, und mehr muss man nicht wissen. Das Besondere an der Musik Avishai Cohens ist dann auch gar nicht mal, dass sie außergewöhnlich kreativ oder experimentell oder sonstwie abgefahren ist, denn bis auf einen völlig umgestrickten Cole-Porter-Song war sein Programm eher konventionell. Das Besondere liegt in dieser überirdischen Virtuosität, die beim letzten regulären Stück des Konzerts, Seven Seas, vollends zum Tragen kam, und in der langen Zeit, die er manchmal braucht, einer Stimmung, ob nun seiner eigenen oder der seiner Musiker hinterherzufühlen, bis er einen Ton anschlägt. Aber wenn, dann hat man das Gefühl, als offenbare sich ein Heiligtum. „Es spricht“, raunt man ehrfürchtig, und das ist auch alles, was man hierzu sagen sollte, denn angesichts eines Avishai-Cohen-Konzerts, das einer Heiligen Messe gleichkommt, sollte man einfach die Klappe halten und zuhören – nicht zuletzt auch den unglaublichen Musikern Cohens, dem Pianisten Nitai Hershkovits und dem blutjungen Ofri Nehemya, Sohn des Schlagzeugers Naor Nehemya.

Hiernach ist bei aller Liebe der Besuch der Jazz@Israel Jam Session mit Omer Klein (Piano), Haggai Cohen-Milo (Bass), Yotam Silberstein (Gitarre), Aviv Cohen (Schlagzeug) und Jonathan Albalak (Gitarre, Synthesizer) im Park Hotel nicht mehr drin – meine Aufnahmekapazität in Sachen Musik ist für heute restlos erschöpft. Ich falle völlig erlebnisberauscht, und das meint hier: musikgesättigt, in mein Bett.

Über Tag 3 berichte ich in den kommenden Tagen – schauen Sie einfach wieder mal vorbei! Mit dabei: Musik vom Kokko Quartett, Charles Moffett, Chloe Charles und Tobias Preisig.

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