Über weibliche Emanzipation, eine musikalische Lebensbilanz und den guten alten Soul: die neue Victoriah’s Music ist da – klangverführer | Musik in Worte fassen

Über weibliche Emanzipation, eine musikalische Lebensbilanz und den guten alten Soul: die neue Victoriah’s Music ist da

Ich lebe in einem Viertel, in dem sich seit einiger Zeit eine gar nicht so schleichende Prenzl’bergisierung beobachten lässt. Da gibt es Cafés, die heißen happahappa oder Sabberschnute. Natürlich bestechen sie durch ihre Kinder- bzw. Familienfreundlichkeit – wie überhaupt alles in meinem Viertel: Läden wie das Frokodil, wo liebevoll selbstgeschneiderte Sächelchen für die Kleinsten verkauft werden. Eine Musikschule mit umfangreichem musikalischem Früherziehungsprogramm (für Kinder ab 2 Jahre!) namens Meyerbär – man beachte das „lustige Wortspiel mit dem Namen des Komponisten Meyerbeer. Bioläden, die wie die dort feilgebotenen pestizidfreien Pilze aus dem Boden schießen. Als ich den Mietvertrag abschloss, was mir zwar bewusst, in ein – ohne jetzt den bösen Begriff der Gentrifizierung strapazieren zu wollen – ausgewiesenes Sanierungsgebiet zu ziehen und auch, dass die schicken Townhouses, Lofts und in neuem Glanze erstrahlenden Gründerzeithäuser vor allem besser verdienende junge Familien anziehen werden – doch dass damit ein derartig grundlegender Strukturwandel einhergeht und der Bionade-Lifestyle ebenso schnell wie selbstverständlich Einzug in mein eigentlich sehr schönes, etwas schläfriges und die ein oder andere Fabrikruine beherbergendes Viertel hält, ist beängstigend.

Beängstigend ist auch, dass das einzig legitime Frauenbild jenes der stolz die Babykugel vor sich her schiebenden Mutter ist, die ihr Erstgeborenes easy mit einer Hand im dreirädrigen Buggy vom Gegenwert eines meiner Monatsgehälter jongliert, während sie in der anderen einen Soja-Latte-to-Go balanciert, die Baby-Mutter-Yogamatte lässig unter den Arm geklemmt. Sehr entspannt wuppt sie Familie, Fitness und Schönheitspflege, die Zeit dazu hat sie. Arbeiten gehen in meinem Viertel nämlich die Männer. Frau ist hier Mutter und offensichtlich froh darüber, der Erwerbstätigkeit und ihren unangenehmen Begleiterscheinungen – Frühaufstehen, zickige Kollegen, Verantwortung für Miete und gefüllten Kühlschrank – auf die einzig gesellschaftlich sanktionierte Weise entronnen zu sein. Womit wir bei meinem Thema wären: Der vom Patriarchat favorisierten Ur-Mutter Eva im Gegensatz zu ihrer dämonisierten Schwester Lilith, die – so gar nicht Mutter, so gar nicht brav – der Überlieferung zufolge als erste Frau Adams Männer verführt und Neugeborene tötet. Ob der Ablehnung der Mütterlichkeit geistert Lilith mithin als „Kindsmörderin“ bzw. „Nachtgespenst“ durch unser tradiertes Bewusstsein. Schlicht von einem alternativen weiblichen Lebensentwurf zu sprechen, davon war man nicht nur zu Liliths Zeiten weit entfernt, auch heute noch, trotz Aufklärung, sexueller Revolution und Feminismus, hat sich in dieser Beziehung nicht viel getan. Es lässt sich eben auch eine Art geistiger Einheitslook nicht verleugnen.

Für Feministinnen war es jedoch irgendwann „cool“, Lilith für sich zu entdecken –oder soll ich sagen: für ihre Zwecke zu vereinnahmen? Ähnliches geschah ja auch mit der Heldin meiner Kindheit, mit Pippi Langstrumpf, die forthin als Symbol für sich jeglicher gesellschaftlicher Zwänge entziehender, antiautoritärer Stärke (sie geht nicht in die Schule, lebt ohne erwachsene Aufsichtspersonen und ist auch körperlich stark: sie kann ein ganzes Pferd hochheben) sowie finanzieller Unabhängigkeit (sie besitzt einen Handkoffer voller Goldstücke) herhalten musste, obgleich ihre Schöpferin Astrid Lindgren wohl kaum eine ausgeprägte feministische Agenda vorgeschwebt haben dürfte, als sie die Figur schuf. Jedenfalls sah es analog zum Langstrumpf-Fall irgendwann auch die jüdisch-feministischer Theologie als ihre Aufgaben an, Lilith zu Existenzrecht und Legitimität zu verhelfen und die Legende positiv (um) zu interpretieren. Lilith wird zur Gegenheldin zu Eva, die in patriarchaler Tradition steht und demzufolge als Symbol für Emanzipation, Selbstbestimmtheit und weibliche Stärke.

Kein Wunder, dass die derart vereinnahmte Lilith Patin stehen musste für ein Festival namens Lilith Fair – einer (allerdings ganz hervorragenden) Konzertreihe ausschließlich weiblicher Interpretinnen, die ihrem Selbstverständnis nach einer “Celebration of Women in Music” frönt. Der offizielle Tour-Sampler Lilith 2010 bietet nicht nur einen stilistischen Querschnitt durch den Reigen der Lilith-Künstlerinnen, sondern durch die zeitgenössische weibliche Popmusik selbst. Lesen Sie die CD-Rezension in der neuen Ausgabe von Victoriah’s Music, wie immer auf fairaudio.de

Außerdem mit von der Partie sind diesmal der Mann, der „Schuld“ ist an meiner Schwäche für Bassisten sowie eine Dame, die beweist, dass es mit modernen R&B-Sängerinnen nicht immer so eine Sache sein muss. Besprochen wurden

  • Various Artists, Lilith 2010
  • Jonas „Bibi“ Hammond, Jamestown
  • Leela James, My Soul

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Comment (1):

  • Die Website

    Ich habe diese Seite über Google entdeckt und es trifft auch genau das Thema, wonach ich gefragt habe. Wie habt Ihr die Site angepasst, wenn ich fragen darf? Bei diesen Suchergebnissen muss auch Eure Besucheranzahl ganz ordentlich sein. Kann man da schon davon sprechen, dass man merkt, dass die Mühe sich lohnt? Schöne Grüße

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