Cohen sehen und sterben — Nachlese zum Berlin-Konzert vom 17. Juli 2013 — – klangverführer | Musik in Worte fassen

Cohen sehen und sterben
— Nachlese zum Berlin-Konzert vom 17. Juli 2013 —

Unter selber Überschrift stand schon meine Konzertkritk von Cohens World Tour 2010, denn eigentlich ist diesem Stoßseufzer nichts hinzuzufügen. Kritisches schon mal gar nicht, denn Cohen ist heilig und vor Heiligen hat das gemeine Fußvolk in Ehrfurcht zu erstarren, nicht aber an ihnen herumzukritteln. Und eine weitere Lobpreisung hat der „Godfather of great singers who can’t sing“ vermutlich so nötig wie ich das allsamstagmorgendliche Aus-dem-Schlaf-Gerissenwerden via Presslufthammer vor meinem Schlafzimmerfenster. Nämlich gar nicht. Und so hat es auch exakt vierzehn Tage gedauert, bis ich mich entschlossen habe, doch noch etwas über Leonard Cohen zu schreiben. Es ist auch gar nicht als Konzertkritik im üblichen Sinne zu betrachten, eher als themenbezogene Meinungsäußerung.

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Nachdem das nun einmal klar gestellt ist, kann es auch schon losgehen mit dem Gemecker. Punkt eins: Die o2-Arena! Ein schrecklicher Ort! Schon Barbra Streisand haben wir hier erduldet, und nun also Leonard Cohen. Die Akustik ist zwar nicht so schlimm, wie man meinen könnte. Den Zauber einer Waldbühne wird diese Mehrzweckhalle allerdings nie auch nur in Ansätzen entfalten. Wer irgend kann, besorge sich Premium-Tickets, sonst schafft man es in einer fünfundvierzigminütigen Pause nicht einmal aufs Klo. Es gibt – für Frauen – zu wenig sanitäre Anlagen, obwohl man hätte meinen können, dass den Architekten bewusst sein müsste, etwa dreimal so viele Frauen- wie Männerklos zu planen. Chance vertan. Über die überteuerte Getränke- und rein-nur-mit-Plastikbechern-Politik der o2-World wollen wir hier mal dezent schweigen. Ist schon klar, dass man hier kein Picknick machen kann wie in der Waldbühne – schön ist trotzdem anders.

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Punkt zwei: Cohen bringt im Grunde genommen – nicht nur was die Setlist, sondern auch, was die Besetzung angeht – seine 2008-2010er Tour noch einmal auf die Bühne. Okay, das ist jetzt Jammern auf ganz ganz hohem Niveau. Cohens letzte Tour kann eigentlich gar nicht oft genug wiederholt werden. Und so eröffnet er das erste Set des Abends gewohnt routiniert mit Dance Me to the End of Love, gefolgt von The Future. Das vor drei Jahren an dieser Stelle gespielte Ain’t No Cure for Love fällt weg, dafür folgen wieder Bird on the Wire und Everybody Knows. Auch das damals gespielte In my secret Life musste weichen, Who by Fire wird vorgezogen. Doch dann zeigt Cohen, dass er es nicht auf eine bloße Wiederholung seiner wahnsinnig erfolgreichen letzten Tour abgesehen hat und die 2013er Old Ideas-Tour ihren Namen zu Recht trägt. Schließlich ist in der Zwischenzeit sein lange gereiftes Album Old Ideas erschienen – und tatsächlich reichert er sein Programm auch mit Stücken daraus an.

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I’ve got no future/I know my days are few, röhrt Cohens Gänsehautbass bei The Darkness, und die Hammond orgelt dazu. Es sind die neuen Stücke, die das Publikum in Cohen-Fans der alten Schule (die das Album nicht kennen, sich gar weigern, es zur Kenntnis zu nehmen, denn es kann ja nicht so gut sein, wie seine alten Sachen, die sie für die einzig wahren halten) und erst kürzlich in sein Werk Eingestiegene teilt. Ich selbst bin erst seit Live in London vom August 2010 dabei, brüste mich aber damit, im Zeitraffer Jahrzehnte Cohen’scher Lyrik nachgeholt zu haben. Außerdem gefällt mir Old Ideas. Gefällt mir sehr! Das wiederum machte den Devotionalienerwerb schwer, denn alles, was der Händler so hatte, musste ich mit einem müden „Hab‘ ich schon“ abtun. Nur die massiv beworbene Solo-CD Everybody Knows von Background-Sängerin Sharon Robinson hatte ich noch nicht – wollte sie aber auch nicht.

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Vermutlich war das ein Fehler, denn bei Stücken wie Amen (Tell me again) oder Come Healing (of the Spirit) fällt einmal mehr auf, dass man sich die Arrangements ohne den Engelssatzgesang Robinsons und der göttlichen Webb-Sisters gar nicht mehr vorstellen kann. Was für die 2010er-Tour galt, gilt auch hier: Endlich, endlich haben die Stücke Leonard Cohens die Arrangements bekommen, die sie schon immer verdient hatten. Cohen hat mit seinen Musikern gewissermaßen nichts Geringeres als den finalen Aufbau, die definitive Ordnung seines Werkes gefunden. Wie bin ich froh, den Stücken in dieser Phase begegnet zu sein – andernfalls wäre ich vielleicht nie solch ein glühender Cohen-Fan geworden!

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Lover Lover Lover (Come back to Me) schließt das erste Set ab, und viele mittelalte Damen im Publikum fühlen sich persönlich angesprochen und kreischen inbrünstig mit. Dennoch bleibt nach diesem erste Set ein irgendwie unbefriedigtes Gefühl: Das soll es jetzt gewesen sein? Wo ist der Funke geblieben, der 2010 so schnell übersprang? zugegeben: Die Stücke des erstens Sets haben alle eine recht ähnliche musikalische Diktion; und auch die ersten Songs von Set zwei – Tower of Song, Suzanne, Chelsea Hotel #2, Sisters of Mercy – klingen alle so, als hätte man ihnen einen eher rockigen, vor allem aber sehr gleichförmigen Anstrich verpasst.

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Bei The Partisan rasten die Leute regelmäßig aus – so auch hier. Selbst, wenn ich die Geschichte des Songs kenne und schätze – ich weiß nicht, für mich ist die Begeisterung über ihn zum Gutmenschenlippenbekenntnis bekommen und ich fange an, mich über einige Altachtundsechziger im Publikum freumdzuschämen. Was nicht an Cohen liegt. Der imponiert mir. Und das umso mehr, wo er während Sharon Robinsons Solo-Ballade Alexandra Leaving andächtig lauschend neben ihr stehen bleibt. Wo die Streisand die Nummern ihrer Mitmusiker nutzte, um hinter der Bühne zu verschwinden, zeigt der 79-jährige – der übrigens immer noch sexy wie die Hölle ist – respektvolle Präsenz. Und Präsenz hat auch die Grabesstimme des Dichtersängers, die mit voranschreitender Zeit immer besser zu werden scheint – nicht nur mit den Jahren, wie ein guter Wein, sondern auch im Verlauf des Konzerts selbst. I’m your Man konstatiert er – und vermutlich gibt es mittlerweile kaum noch jemanden im Saal, der das nicht glaubt.

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Und dann singt, nein: predigt Cohen sein Hallelujah, und auch ich bin erstmals an diesem Abend erfüllt von stillem Glück. Wenn nur wegen dieses Liedes – der Abend hätte sich gelohnt. Er muss ihn schon tausende Male gesungen haben, seinen Signature-Song, und immer noch gelingt es ihm, Ergriffenheit hervorzurufen – nicht zuletzt bei sich selbst. Da ist im Publikum kein Halten mehr, und zu den Klängen von Take this Waltz pilgern die Glücklichen, die ihren Platz nicht auf den Rängen, sondern im Innenraum haben, in Scharen zur Bühne, laufen ihrem Priester zu wie einst die ersten Jünger bei der Bergpredigt.

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Dass das zweite Set und damit das Konzert offiziell eigentlich beendet ist, will weder das Publikum noch Cohen selbst einsehen. Es folgt Zugabe Nummer eins. Wer über ein fast fünf Jahrzehnte umfassendes Hitrepertoire wie Leonard Cohen verfügt, kann es sich leisten, Publikumslieblinge wie So long, Mariann erst jetzt zu bringen. Unter uns: Ich hätte lieber noch etwas aus Old Ideas gehört, und auch die Solo-Nummer der Webb-Sisters If It Be Your Will vermisse ich schmerzlich. Ganz unter uns: Bis jetzt hat mir das 2010er-Konzert besser gefallen. Dann aber spielt er als zweite Zugabe zu meiner grenzenlosen Freude mit Going Home aus Old Ideas meinen aktuellen Cohen-Favoriten. Und wie er den spielt! Going home without my sorrow/Going home sometime tomorrow/Going home to where it’s better than before//Going home without my burden/Going home behind the curtain/Going home without the costume that I wore symbolikt er und erschafft damit einen wunderschönen Abschluss dieses Abends.

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Doch was heißt hier Abschluss? Für mich in meiner Going Home-Seligkeit wäre der Uptempo-Rausschmeißer First We Take Manhattan nicht nötig gewesen, aber in der deutschen Hauptstadt fährt man auf den Song ob seiner Zeile Then We Take Berlin total ab. Klar, dass er den hier spielen muss, angestachelt von einem Publikum, das ich im Grunde für recht empfindsam halte, unter dem sich aber auch ein überraschend hoher Anteil von Kirmestechnodeppen zu verbergen scheint, für die es ordentlich rumsen muss. Alles rast. Mir selbst ist die spirituelle Stimmung, die Going Home – ebenso wie Hallelujah – heraufbeschworen hatte, gründlich kaputtgemacht worden und ich komme mir vor wie am Ballermann.

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Glücklicherweise hat Cohen mit den sensibleren unter seinen Anhängern ein Einsehen und spielt noch eine vierte Zugabe, die nichts von der Außer-Rand-und-Band-Atmosphäre ihres Vorgängers hat: Famous Blue Raincoat von Cohens 1971er Songs of Love and Hate haben wohl schon viele in ihrer Jugend gehört, die sich auch jetzt paarweise zum Tanze wiegen, und auch ich bin wieder ganz versöhnt. Umso mehr, als dass jetzt doch noch If It Be Your Will gespielt wird, das ich so sehr habe hören wollen. Wenn man sich etwas so sehr wünscht und dann passiert es – das ist zunächst ganz unwirklich. Aber schön. Und dann spielt der alte Sack, der auch ohne seine Band nur mit der Gitarre in der Hand in der Großraumarena bestehen kann, tatsächlich noch Closing Time von seinem 1992er-Studioalbum The Future, und besser könnte er den Abend nicht ausklingen lassen:

    • Ah we’re drinking and we’re dancing
    • and the band is really happening
    • and the Johnny Walker wisdom running high
    • And my very sweet companion
    • she’s the Angel of Compassion
    • she’s rubbing half the world against her thigh
    • And every drinker every dancer
    • lifts a happy face to thank her
    • the fiddler fiddles something so sublime
    • all the women tear their blouses off
    • and the men they dance on the polka-dots
    • and it’s partner found, it’s partner lost
    • and it’s hell to pay when the fiddler stops
    it’s closing time!

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Aber von wegen Sperrstunde, denn Cohen scheint nicht nur über schier unerschöpfliche Energievorräte zu verfügen – er wird mit jeder Zugabe munterer und präsenter, als hätte er sich erst jetzt so richtig warmgesungen. Es ist so richtig Stimmung in der Bude. Heilig ist die Atmosphäre jetzt zwar nicht mehr, aber das macht überhaupt nichts, denn Cohen wird immer besser. Go, Lenny, go! Und das tut er, er springt und hüpft und singt und scherzt – gehen lassen wollen wir den nicht mehr! Passenderweise beginnt Zugabe Nummer sieben mit der Zeile I tried to leave you. Das nennt man dann wohl dramaturgischen Humor, und das Publikum liebt es, auch wenn die Gitarre hier ganz schön Gary Moore-t. Jeder soliert noch einmal, auf dass wir uns aber- (und hoffentlich nicht letzt-)malig an dem grandiosen Line-up erfreuen können. Cohen ist in Hochform, dennoch kommt man nicht umhin zu denken: Der arme Mann! Lasst ihn doch endlich nach Hause gehen! Und das tut er, nachdem er uns mit dem Drifters-Millionenseller Save the last Dance for Me aus dem Jahr 1960 bittet, den letzten Tanz den Abends für ihn zu reservieren. Keiner, der sich dem verweigert. Auf den Rängen tanzt gar ein altes Paar, das vermutlich schon vor mehr als fünfzig Jahren zu dieser Nummer in inniger Umarmung versank. Und wo andere Künstler schon längst mit Kamillentee und Halswickel im luxuriösen Hotelbett lägen, gibt Cohen noch einmal alles. Es ist unwahrscheinlich, dass er noch einmal wiederkommen wird.

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