Cohen sehen und sterben — eine Klangverführer-Konzertkritik — – klangverführer | Musik in Worte fassen

Cohen sehen und sterben
— eine Klangverführer-Konzertkritik —

Pop-Guru Frank Laufenberg irrt sich. Und mit „irren“ meine ich nicht: „liegt so ein bisschen daneben“, nein, ich meine: „irrt sich gewaltig“. In seinem Standardwerk Frank Laufenbergs Rock & Pop Lexikon nämlich heißt es im Artikel zu Leonard Cohen, Autoren eines Titels müssen nicht unbedingt auch dessen beste Interpreten sein. Immerhin gelte Cohen vielen als „singendes Valium“, während es „sehr ansprechende“ Interpretationen seiner Titel durch andere Künstler gebe. Zugute halten muss man Laufenberg, dass zu der Zeit des Erscheinens der von mir zitierten vierten Auflage seines Buches (1998) der 1934 in Montreal, Kanada geborene Cohen als für die irdische Musikwelt verloren galt – immerhin hatte er sich Mitte der Neunzigerjahre in ein buddhistisches Kloster zurückgezogen, wo er Zen-Meditation betrieb und später zum Mönch ernannt wurde. Von der grandiosen Comebacktournee ab Mai 2008, die Cohen und seine Band zwei Jahre lang durch Kanada, die USA, Australien, Neuseeland und Europa führen sollte, konnte Laufenberg noch nichts wissen. Auch nichts davon, dass seinen Songs hier endlich jene Gestalt zuteil wurde, die sie schon immer haben sollten. Da reicht keine Interpretation mehr heran. All jene, die nicht bei seinen Konzerten dabei waren, konnten sich auf der Live in London betitelten Aufnahme des Konzertes in der Londoner O2-Arena vom 17. Juli 2008 davon überzeugen: Hier ist alles genau so, wie es sein soll, wie es schon immer sein sollte. Und das war es auch gestern, denn das Programm der 2010-er Unified Hearts-Tour ist nahezu identisch mit jenem der vergangenen beiden Jahre.

Zu verdanken ist diese – hoffentlich – endgültige und alle Coverversionen in ihre Schranken verweisende Form des Cohen’schen Werkes wohl auch dem Bassisten Roscoe Beck, der nicht nur langjähriger Begleiter Cohens, sondern auch musikalischer Direktor des Unterfangens ist. Überhaupt ist auffällig, wie häufig Spieler der abfällig als „Rhythmusgruppe“ zusammengefassten Instrumente das musikalische Geschehen bestimmen. Bassisten und Schlagzeuger, lassen Sie sich das gesagt sein, haben zumeist weitaus mehr Gespür für Harmonie und Arrangement, als gemeinhin angenommen wird. Beck bestätigt wieder einmal meine „Schäferhundtheorie“: Ein guter Bassist (Schlagzeuger) hält die ganze Herde zusammen, während ein schlechter eine Plage, ja Gefahr für seine Umwelt ist.

Doch zurück zu gestern Abend. Eine Dame fasste in der Halbzeit am Handy zusammen, was wohl alle im Publikum dachten: „Da spielt und singt dieser alte Zausel seit 18 Uhr 30, voller Energie, tänzelt rum … unglaublich!“ Da war es zwanzig Uhr und niemand ahnte, dass der „alte Zausel“, besser bekannt als Prince of Pain, Master of Melancholy, Godfather of Gloom und Prophet of Despair, mit unfassbaren sechs Zugaben (oder waren es sieben?) ein weiteres 90-Minuten-Set ranhängen sollte. Ich meine, stellen Sie sich das doch einmal vor: Dieser anbetungswürdige alte Herr wird im September 76 Jahre alt und reißt einfach mal so ein drei-Stunden-Konzert ab! Vielleicht ist an dieser buddhistischen Meditationssache und ihrer Wirkung auf die menschliche Vitalität doch mehr dran, als sich der gemeine Abendländer vorstellen kann …

Und erst die Lieder! Nur um einige zu nennen: Suzanne, Where’s My Gipsy Wife Tonight, So Long Marianne, Back on Boogie Street, Lover Lover Lover, First We Take Manhattan, The Future, Take This Waltz, If It Be Your Will oder auch The Partisan, welches ich zuletzt im April in der Version von Karsten Troyke gehört habe, und natürlich Hallelujah, bei dem das Amphitheater in ein Wunderkerzenmeer gehüllt ist – er spielt sie im zweiten Teil alle, all meine Lieblingssongs, all die des übrigen Publikums, von denen jeder, aber auch jeder einzelne seine ganz persönliche Beziehung zu dem ein oder anderen Cohen-Klassiker hat. Und natürlich ist in der Hauptstadt First We Take Manhattan (Then We Take Berlin) der absolute Burner, 12.000 Menschen singen den Refrain aus voller Kehle mit, und Cohen ist sichtlich gerührt, zieht den Hut vor seinem Publikum, das sich jetzt auch durch die gestrengen Ordner der Waldbühne nicht mehr daran hindern ließ, anstatt brav auf den zugewiesenen Plätzen auszuharren, in Richtung Bühne zu drängen, auf und nieder zu hüpfen, sich heiser zu brüllen. Der greise Entertainer hat es geschafft, die Hintern der Leute von ihren Stühlen zu reißen, und gar ein „We Lover Lover Lover You“-Plakat zu schwenken. Das Publikum ist selig, es schwelt und huldigt – und ist nicht zuletzt in solchen Scharen erschienen, von denen heutige Stars wie Rihanna oder Christina Aguilera nur träumen können – wurden Tourneen dieser beiden nicht jüngst aufgrund mangelnder Ticketverkäufe verschoben? Jedes einzelne Ticket sei ihm von Herzen gegönnt, denn immerhin hatte sein Comeback profane, sprich: monetäre Gründe: Während seiner Zeit im Kloster brachte seine Managerin und zeitweilige Lebenspartnerin sein gesamtes Vermögen durch, mehr als fünf Millionen Euro, munkelt man. Die Altersvorsorge, alles dahin. Das klingt wie aus einer schlechten Seifenoper, hat uns aber den wohl großartigsten Cohen aller Zeiten beschert. Wer weiß, ob er sich noch einmal auf eine Bühne hätte locken lassen, hätte er das Geld nicht gebraucht.

Und auch er selbst scheint Spaß an seinen Auftritten zu haben, lächelt oft, nennt das Publikum „seine Freunde“. Immer wieder geht er in die Knie, vor dem Publikum, der Schönheit der Musik und nicht zuletzt seiner einmaligen Begleitband, die neben dem schon erwähnten Roscoe Beck am Bass aus dem Gitarristen Bob Metzger, dem Flamenco-Lautisten Javier Mas, Hammond-Organisten Neil Larsson, Saxofonisten Dino Soldo und Schlagzeuger Rafael Gayol besteht. Das I-Tüpfelchen aber sind die göttliche Sharon Robinson, ihres Zeichens Souldiva und Co-Autorin vieler Cohen-Songs, sowie die ätherischen Webb-Sisters Charley und Hattie mit ihren Engelsstimmen, die für eine kollektive Gänsehaut sorgen.

Wenn dies hier kein „musikalisches Hochamt“ (Peter E. Müller in der Berliner Morgenpost) ist, dem alten Priestergeschlecht der biblischen Kohens gerecht werdend, was dann?

    If it be your will
    That I speak no more
    And my voice be still
    As it was before
    I will speak no more
    I shall abide until
    I am spoken for
    If it be your will
    If it be your will
    That a voice be true
    From this broken hill
    I will sing to you
    From this broken hill
    All your praises they shall ring
    If it be your will
    To let me sing
    From this broken hill
    All your praises they shall ring
    If it be your will
    To let me sing

    If it be your will
    If there is a choice
    Let the rivers fill
    Let the hills rejoice
    Let your mercy spill
    On all these burning hearts in hell
    If it be your will
    To make us well

    And draw us near
    And bind us tight
    All your children here
    In their rags of light
    In our rags of light
    All dressed to kill
    And end this night
    If it be your will

    If it be your will.

Zu guter Letzt gab Cohen seiner Gemeinde mit auf den Weg, vorsichtig zu fahren und sich keine Sommergrippe zuzuziehen – wobei selbst der Wettergott ein Fan des Songpoeten sein muss, denn es hat während des dreistündigen Konzertes nur ein paar Mal leicht getröpfelt, was die Widrigkeits-erprobten Berliner lässig mit dem Überziehen ihrer Kapuzenpullis konterten. Auf dem Rückweg inmitten einer befriedeten Masse schnappte ich einzelne Gesprächsfetzen auf. „Komisch, dass bei dem Konzert auch junge Leute dabei waren“, sagte da einer zum anderen, „die finden doch mit ihrer Musik, die sie heutzutage hören, gar keinen Zugang mehr zu Cohen!“ Doch, wollte ich erwidern. Es gibt in jeder Generation einige Gute. Und Sie können dazu beitragen, dass Leonard Cohens Lieder auch in Zukunft lebendig gehalten werden: Ermöglichen Sie Ihren Kindern Zugang zu Ihrer Plattensammlung (ich gehe stark davon aus, dass Sie als mein Leser so etwas haben). Schicken Sie sie auf eine musikbetonte Schule, so etwas gibt es. Und: Nicht jeder muss BWL studieren. Vielleicht haben Ihre Kids dann später weniger Geld. Aber sie werden glücklich sein.

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