Ach, Glück! – klangverführer | Musik in Worte fassen

Ach, Glück!

„Der heutige Beitrag soll mit einem Geständnis beginnen: Dass ich mich der Musik verschrieben habe, war so nicht geplant. In frühkindlichen Zeiten äußerte ich nämlich, beeindruckt durch eine extrem coole Besucherin meiner Eltern, den Wunsch, ebenso wie sie Modedesignerin zu werden. Meine Eltern, eine Fotografin und ein Graphiker, fanden das super. Dann würde ich ja gar nicht mal so aus der Art schlagen! Fortan war also mein zukünftiges Tätigkeitsfeld klar, und die Vorarbeiten begannen: Meine gesamte Kindheit und Jugend hindurch verbrachte ich in den verschiedensten Zeichenkursen, von Aktzeichnen über Holz- und Linolschnitt bis hin zu solch abgefahrenen Sachen wie Lithographie. Während meines Abiturs war dann auch schon die zukünftige Hochschule für mich gefunden, der Lette-Verein in Berlin. Am Tag meiner Aufnahmeprüfung allerdings – ging ich nicht hin, sondern stattdessen Musik studieren. Was daraus folgte, ist bekannt. Weniger bekannt ist, dass ich es zwar in letzter Zeit eher mit den HiFi-Leuten hielt und das anzog, was im Kleiderschrank ganz oben lag, nichtsdestotrotz aber einen heimlichen Hang zu Fashion & Style habe. Und den konnte ich gestern Abend ausleben.“

Soweit der Entwurf eines Textes, von mir angelegt am 13. Januar. Folgen sollte die schillernde Beschreibung einer für den Folgeabend geplanten rauschenden Nacht, die für mich ein edles Drei-Gänge-Diner, elegante Cocktails, amüsante Gesellschaft und eben auch eine exklusive Modenschau im Rahmen der Berlin Fashion Week bereit hätte halten sollen. Allein, es kam anders. „Plötzlich und unerwartet“, heißt es ja immer so schön. Unerwartet kam es zwar kaum, plötzlich indessen schon, denn wenn man über drei Jahre wartet, stellt sich des Wartens Ende umso abrupter ein, hatte man sich in seinem Warten doch schließlich so schön eingerichtet. Da gerät das eigene Leben schon einmal empfindlich aus dem Gleichgewicht. Was kann einen nach drei Wochen Rückzug ins Private dann besser locken als zwei Stunden pures Glück? Da will ich hin, dachte ich mir, das will ich auch!

Das Glück ist mir schon am Einlass hold. Eigentlich hatte ich nur eine Karte für den Rang erworben, da ich mir nicht wirklich sicher war, ob ich mich am Veranstaltungsabend in einem Zustand befinden werde, der ein abendliches Ausgehen zulässt. Er ließ, doch der Rang ist gesperrt. Und so sitze ich nun gespannt auf einem der mir zugewiesenen besseren Plätze im hübschen kleinen Kabarett-Theater Distel an der Friedrichstraße und harre gespannt der „äußerst schönen Musik“ und der „Unterhaltung von Wert“, die das Plakat verspricht. Beides ist dringend nötig, denn völlig in den gewohnten Bahnen läuft mein Leben indessen noch nicht wieder. Heute manifestiert sich mein Durchdenwindsein darin, dass ich die Hälfte meiner Arbeitsausrüstung, in diesem Falle: Foto- und Videokamera, zu Hause vergessen habe. Also zurück zur klassischen Art der Berichterstattung, die sich der Klangverführer nicht nur auf die Fahne, sondern sogar ins Logo geschrieben hat: Musik in Worte fassen. Ein ähnlich schönes Motto hat auch der Gastgeber des Abends: Musik ist Liebe. Aber lassen Sie uns erst noch einmal auf das Stichwort „schönes kleines Theater“ zurückkommen, das immerhin geschätzte einhundertzwanzig Leute – darunter etwa zehn der Musiker, die wir im Laufe des Abends noch als Gäste auf der Bühen sehen werden – vom allwöchentlichen Lieblingsritual der Deutschen, dem Sonntagstatort, weglocken konnte. Konsequenterweise begrüßt Mark Scheibe die Gäste seiner Berlin Revue dann auch als „elitäre Minderheit“, die den Weg zu ihm gefunden hat, und eröffnet mit perlenden Pianoarpeggien sein Lied über eine unerwiderte Liebe – die schöne Eisverkäuferin Annabella Totale.

Klamaukig wird es mit dem – stilecht in Rückenlage auf dem Flügel vorgetragenen – die Ernsthaftigkeit selbsternannter Performance-Poeten aufs Korn nehmenden Zweizeiler „Ach, könnt‘ ich doch nur fliegen/dann müsst‘ ich hier nicht liegen“, und dann entert auch schon das dreizehn Mann starke Berlin Revue Orchester die Bühne, das aus einem fünf-köpfigen-Bläsersatz (drei Saxophone, eine Trompete und eine Posaune), einem klassischen Streichquartett (zwei Violinen, eine Bratsche, ein Cello), einer Rhythmusgruppe (Schlagzeug und Bass) sowie einem Gitarristen und einer Harfenistin besteht. Wer will die nur alle bezahlen, schießt es mir spontan durch den Kopf, doch schnell weichen die wirtschaftlichen Bedenken der Freude am Vortrag. „Billy Jean“ auf „James Dean“ muss man auch erst einmal reimen! Zwar gefällt mir persönlich die Stimme von Scheibe wenig, doch seine Lieder, in diesem Falle die Autoscooterbahn, sind einfach lustig und versprechen einen kurzweiligen Abend. Zumindest könnte er das werden, würde die Live-Technik den Ton hinkriegen. Im Moment habe ich das Gefühl, dass die Trompete durchaus einen Dämpfer vertragen könnte – und das Solosaxophon auch. Die tun in den Ohren weh.

Doch schon der erste Gast des Abends macht beide Probleme, das der Scheibe’schen Stimme und das der überlauten Bläser, obsolet, denn der Bremer Singer/Songwriter Alexander von Rothkirch spielt nach eigener Aussage zwar „acousticfunkrock´n´roll“, schmeichelt seinen Reggae-lastigen Woke up this morning aber mit Akustikgitarre und sanftem Timbre so sanft in unsere Gehörgänge, dass zwei der drei Saxophonisten lieber Klarinette respektive Querflöte tirilieren lassen, während die Violinen zuckern, was sonst nur die Vöglein singen. Dem versprochenen Glück kommt diese Klangidylle jedenfalls schon sehr nah! Auch die zweite Rothkirch’sche Komposition des Abends, deren Titel Alright schon an sich Beruhigung verheißt, hat etwas vertraut Besänftigendes an sich, das sicherlich nicht zuletzt dem Umstand geschuldet ist, dass es ein bisschen an Kinderfernsehen à la „Sandmann, lieber Sandmann“ erinnert. Und auch die Trompete wartet hier endlich mit dem vermissten Dämpfer auf. Ja, so kann er weitergehen, der Abend.

Was er mit dem grandiosen Kreuzfahrtrevuestück Die Nachtigall auch tut, das einen in herrlichst-oberflächlicher Klangdekadenz schwelgen lässt, bis seine wirklich großartig böse Koda die Lachmuskeln erschüttert. Langsam, aber sicher, mutiere ich zum Scheibe-Fan. Auch der nächste Gast erfreut Ohr wie Seele, erweist sich Lili Sommerfeld doch als nichts Geringeres als die Kreuzberger Antwort auf Alicia Keys, wie sie sich da mit I’ve Changed die Seele aus dem Leib souljazzgospelt. Und auch, wenn die Bläser wieder das Lautstärkeproblem vom Anfang des Abends befallen hat – das Sommerfeld’sche Organ kann sich mit Leichtigkeit gegen die Blechwand durchsetzen. Das kann man von den vier Backgroundsängerinnen, die beim nächsten Stück zur Verstärkung anrücken, leider nicht behaupten. Erwartet man hier einen volumenreichen Chor wie den der Soulistics bei MisSiss, wird man arg enttäuscht. Merke: Wer eine derart stimmgewaltige Frontfrau wie Lili Sommerfeld hat, muss mit Backgroundsängerinnen aufwarten, die ihr wenigstens halbwegs das Wasser reichen können. Das dies hier nicht der Fall ist, ist umso bedauerlicher, als dass die Close-Harmony-Vokalsätze ähnlich schön wie bei En Vogue und Konsorten erklungen wären, hätte man sie nur hören können! Sommerfeld selbst läuft bei ihrer zweiten Nummer zur Aretha-Franklin-nahen Hochform auf, während ihr erstes Lied noch hier und da Anklänge an die bluesigen Erfolge von Marla Glen hatte.

Dann ist es aber auch schon Zeit für den Auftritt von Elias Gottstein und Carl Louis Zielke, besser bekannt als Duo „Guaia Guaia“, die in Stücken wie „Im Häuschen am Ostkreuz“ nicht nur moralmahnend (und dabei aber selbst Benz-fahrend und Brioni-tragend) über Obdachlosigkeit singen, sondern das Thema durch ihr Leben als Straßenmusiker im wahrsten Sinne des Wortes auch aus eigener Erfahrung kennen, was sie sympathisch und authentisch macht. Während das Häuschen aber noch lyrisch und freundeskreisig daherkommt, ist die … hm … lassen Sie mich sagen: bewegungsreiche Performance von Komm und tanz mit mir eine wilde Mischung aus Crunk, Dschingis Khans Horden und Cosmonautix, bei der sich Bratsche und zweite Violine ängstlich an ihren Notenpulten festklammern, und man weiß nicht genau, ob sie die Pulte nur vor dem Fallen bewahren wollen oder ob nicht viel eher die Pulte sie vor der Ohnmacht schützen sollen. Zum ersten Mal an diesem Abend bin ich ratlos. In der Pause auf der Damentoilette fragt die eine die andere: „Sagen Sie, waren die auf Drogen?“, wobei die andere erwidert: „Nee, ich glaube, auf Drogen geht noch anders“. Es ist Halbzeit bei Mark Scheibe und seiner Berlin Revue.

Das bedeutet, dass sich der Showmaster zu seinem berühmt-berüchtigten „Spontan Composing“ zurückgezogen hat, um aus im Publikum gesammelten Wörtern und Musikstilen während der Pause ein Lied zu kreieren, in diesem Falle eine Bossa mit Besenschlagzeug und Butterbass, kurz: „klingendem roten Licht“, wie die Anweisung des Maestros an sein Orchester lautet. Ich kann nicht umhin zuzugeben, dass – meine persönliche Stimmpräferenz hin- wie her – der Mann musikalisch genial ist. Ob das nun ausschließlich an Scheibe selbst liegt oder noch befeuert wird vom in der Pause genossenen Zweigelt: Erstmals an diesem Abend bin ich restlos begeistert. Diese Begeisterung legt sich auch nicht, als Michael Krebs mit Ich hatte keine Chance seine fabelhafte Satire über uns Arme in der falschen Zeit Geborenen zum Besten gibt, die nicht einmal RTL II hatten, nicht von der Supernanny erzogen, von Peter Zwegert von den Schulden befreit oder von Bohnen & Co. als Superstar entdeckt worden sind. Tragisch war so eine Jugend damals, wo es nur die Sendung mit der Maus gab! Und mit einem Mal ist auch der laute Bläsersatz einfach nur stimmig. Wie schon bei Rothkirch ist auch bei Krebs Jamaika eine gern gehörte Inspiration, was seinen Integrationssong mit mal locker schwingender, mal verschmitzt funkiger, aber immer punktgenauer Unterstützung der einzigen Frau unter dern drei Saxophonisten ungeahnt grooven lässt. Geile Zeile: „Atommüll endlagern im Kölner Dom/Mach mit – Integration!“

Und der Abend wird noch besser, nämlich mit der Solo-Scheibe, sorry, dem Scheibe-Solo Jazz gut finden, einer längst überfälligen Abrechnung mit allen Besserhörern, die sich auch als bessere Menschen wähnen. Verstehen Sie das nicht falsch, es geht hier nicht gegen die echten Jazzheads, die diese Musik nun einmal mit Leib und Seele lieben, sondern gegen die, die sie aus Lifestylegründen hören (müssen) und bei denen sie dieselbe Funktion einnimmt wie das „richtige“ Auto und der „richtige“ Innenarchitekt, bessergesagt: das „richtige“ Einkaufen (nämlich das einzig wahre, exklusive Olivenöl von einem obskuren kleinen Hof irgendwo in der Pampa) und das „richtige“ Bewusstsein (nämlich durch Ablehnung aller Massenunterhaltung offen zur Schau zu tragen, dass man nicht typisch deutsch ist, sondern kultiviert und weltgewandt und was-weiß-ich-was-noch-alles). Würde man diese demonstrativen Jazzhörer allerdings ganz allein und unbeobachtet lassen, man könnte wetten, dass sie die volkstümliche Terzseligkeit jedem FreeJazz-Geschwurbel vorzögen, das sie ja doch nicht verstehen, denn schließlich ist Jazz nie wirklich in ihren Herzen und Seelen angekommen, aber das nur als persönliche Nebenbemerkung von einer, die sich freut, dass hier ein Kriegsschauplatz eröffnet wurde, den sie ebenfalls beackert. Ganz groß auch , dessen eiskalte Synthpop-Stroboskopatmosphäre nur eines der vielen Achtziger-Klischees ist, die hier gekonnt verhackstückt werden. Und auf der Stelle werde ich zum glühenden Scheibe-Anhänger.

Dann kommt der Grund, weshalb ich – neben dem Glücksversprechen – eigentlich hier bin: Lisa Bassenge, deren aktuelles Album Wolke 8 für die nächste Ausgabe von Victoriah’s Music auf dem Stapel der zu rezensierenden CDs wartet. Schließlich bin ich seit dem Nylon-Album Die Liebe kommt (2004) ein großer Fan der Bassenge, und erst kürzlich habe ich die Micatone-12″ Gundog käuflich erworben, während in der Zwischenzeit weder die älteren Platten des Lisa Bassenge Trios – und hier vor allem das Kylie-Minogue-Cover Can’t Get You Out Of My Head von A Sigh, A Song (2002) noch Bassenges Live-Soloalbum Won’t Be Home Tonight von meiner persönlichen Playlist wegdenkbar waren. Guten Gewissens kann ich behaupten, dass die Stimme von Lisa Bassenge in den letzten zehn Jahren den Soundtrack meines Lebens geprägt hat. Ach, Lisa!

Was sie aber heute Abend zum Besten gibt, das electropoppt erst einmal so medioker vor sich hin. Der Megaphonshouter Dernier Cri (So verliebt war ich noch nie) reitet auf der neuen Neuen Deutschen Welle à la Puder, doch während ich dort durch die organische Wärme der Stücke, die Hammond, die nie wieder aus dem Kopf gehenden Melodien sofort hingerissen war, bin ich das hier – nicht. Bassenges zweites Stück ist zwar musikalisch wieder jazziger, der Text aber auch hier Hauptstadtbetont rotzig. Da geht es um auf Applaus pfeifen, die Nase bluten und die Erde beben zu lassen. Dagegen spricht aauch erstmal gar nichts. Schade an solch textlastigen Uptemponummern indessen ist, dass man nicht hört, wie wunderbar die Bassenge eigentlich singen kann. Es kommt mir vor, als stünde da jemand auf der Bühne, der sein Image als sinnlich säuselnde Sirene gewaltsam demontieren will. Und zum zweiten Mal an diesem Abend bin ich ratlos – und hoffe, dies ist kein Omen für Wolke 8. Vielleicht lerne ich die Stücke der Platte ja beim kleinen Promotionskonzert am Valentinstag schätzen – zumindest können dort meine Erwartungen nicht mehr gebrochen werden, denn das ist soeben schon geschehen. Ach, Lisa.

Dann ist es auch schon wieder Zeit für die nächste Solo-Scheibe, die mir den letzten Rest meiner Irritation mit einem eindrucksvollen Sexismus austreibt, das durch solch herrliche Reime wie „Es gibt wieder Propaganda/es ist wieder ein Tyrann da“ und einem tollen Flötensolo besticht. Der im Abgesang Berlin Revue gar nicht so verschämt versteckten Aufforderung, „die Botschaft in die Welt zu streuen“, sei hiermit Folge geleistet. Wenn Mark Scheibe mit seiner zwei Stunden Glück verheißenden Musikshow bei Ihnen in der Nähe gastiert – gehen Sie hin! Als Zugabe bekommen Sie dann auch noch ein glücksrauschintensivierendes What a diff’rence a day makes-Remake.


Muss für einen visuellen Eindruck eben das Fotohandy ran …

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