Denn sie wissen, was sie tun.
Zur Abgrenzung begründeter Kritik von bloßer Meinung im Musikjournalismus – und weshalb es in Zeiten von Algorithmen, KI & Co. den Musikkritiker mehr denn je braucht
Victoriah Szirmai
„Musikkritik ist doch nichts anderes als die persönliche Meinung des Kritikers“, heißt es gern – und zwar von Musikern, mit denen die Kritik nicht wirklich schmeichelhaft umgesprungen ist. Gelobte Künstler lassen diesen Anwurf dagegen höchst selten verlauten. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! Nichtsdestotrotz wird auch der wohlmeinendste Musikkritiker nicht umhinkommen, sich von Zeit zu Zeit deutlich dagegen zu verwehren, dass er lediglich seine Privatmeinung in Fachtermini kleide. Immerhin schwingt hier der Vorwurf von Unprofessionalität mit und kratzt somit letztlich an der Ehre eines ganzen Berufsstandes.
Glücklich also, wer beizeiten Argumente zusammengeklaubt hat, weshalb eine fundierte ästhetische Urteilsbildung – und zwar nicht nur bezogen auf Musik, sondern im Grunde auf alle Künste, seien sie darstellender, bildender oder wie auch immer gearteter Natur – weit mehr ist als die Wiedergabe bloßer Meinung. Sie ahnen es schon: Im Folgenden geht es um nichts Geringeres als die Verteidigung einer ästhetischen Objektivität.

Auch, wenn es mir im Grunde widerstrebt, persönliche Anekdoten in meine Texte, vor allem jene allgemeinessayistischer Natur, einfließen zu lassen, will ich mich dem Trend zum – wie ich ihn nennen möchte – „Ich-Journalismus“ nicht verschließen und an dieser Stelle eine solche teilen. Von Kindesbeinen an wurde mir beigebracht, ästhetische Urteile zu fällen. Aufgewachsen in einem Haushalt bildender Künstler war es insbesondere mein Vater, der mich mit verschiedenen Entwürfen für ein Plakat, einen Buchumschlag und dergleichen mehr konfrontierte: „Welcher davon ist der beste?“, fragte er. Und, nachdem ich einen ausgewählt hatte: „Warum?“
Es versteht sich von selbst, dass ein „Weil er mir nun einmal gefällt“ nicht als probater Grund galt. Besonders harmonierende, oder, wenn es das Thema erforderte, kontrastierende Farben, eine die Geschichte unterstützende Schriftart, eine bestimmte Art, ein Bild eher ins Auge springen oder subtil im Hintergrund wirken zu lassen, dagegen schon. All diese Faktoren sind realer Natur, sinnlich wahrnehm-, greif- und sicht- und damit letztlich objektifizierbar. Meinung ist es nicht.
Während der Kunsttheoretiker Konrad Fiedler bereits im 19. Jahrhundert diesbezüglich von einer „Welt der reinen Sichtbarkeit“ spricht[1], hat der Philosoph Richard Wollheim in seinen „Objekten der Kunst“[2] 1968 herausgearbeitet, dass ein Kunstwerk Eigenschaften besitzt, die unabhängig von unserer Wahrnehmung bestehen – „real properties“, die ent- beziehungsweise aufgedeckt und nicht erfunden beziehungsweise hineininterpretiert werden müssen. Aktuell ist es der Philosoph Daniel Feige, der die Flamme der „Ästhetischen Objektivität“ – seine gleichnamige hermeneutische Analyse wurde 2015 in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie publiziert[3] – hochhält.
Gemeinsam ist allen dreien das Einräumen einer echten Chance und damit der Daseinsberechtigung für jede Kritik, die mehr sein will als Stimmung: Sie kann die reellen Eigenschaften eines Kunstwerks ans Licht holen, sie sichtbar machen und zum Sprechen bringen, also gleichsam in Sprache übersetzen. Ästhetische Objektivität bedeutet demzufolge nicht Gefühllosigkeit, sondern vielmehr den Willen, den Dingen gerecht zu werden. Der Kritiker, der ästhetisch objektive Eigenschaften eines Kunstwerks benennt, ist kein Diktator des Geschmacks, sondern ein Übersetzer. Seine Aufgabe ist es, sichtbar, hörbar, spürbar zu machen, was da ist, auch wenn es dem schnellen Klick entgeht.
Die Millennials dagegen schätzen Subjektivität, um nicht zu sagen: persönliche Involviertheit im Journalismus. Was jahrzehntelang als Goldene Regel galt – mach dich nie mit deiner Sache gemein – ist heute nicht mehr Qualitätskriterium, sondern dessen Gegenteil. Weiß noch jeder Jurist, dass er sich in Fällen, die ihn direkt angehen, nie selbst verteidigen sollte, würde jeder Polizist oder andere Staatsdiener von einem Fall, der seine Lebensrealität betrifft, – zu Recht – wegen persönlicher Befangenheit abgezogen werden, gilt die Nichtbetroffenheit des Journalisten mittlerweile als Manko.
Wie kann, ereifert sich sinngemäß eine Leserin in einer entsprechenden Diskussion des Online-Nachrichtenmagazins Krautreporter, ein weißer Cis-Mann mit akademischem Hintergrund über das Großziehen von Kindern in einer lesbischen Partnerschaft mit Migrationshintergrund schreiben? Wie kann ein Journalist ohne einschlägige Vorerkrankungen einen Artikel über psychische Störungen verfassen? Die Fähigkeit, sich auch fremde, komplexe Sachverhalte zu eigen zu machen und dank Empathie die Sichtweise der Betroffenen darzustellen, scheint ohne eigene Beteiligung plötzlich nichts mehr zu zählen. Früher waren solche Texte aus gutem Grund mit „Meinung“ oder „Kolumne“ übertitelt. Heute verwischt die Grenze und öffnet der These, jeglicher Journalismus sei Meinung, Tor und Tür.
Oft wird mit der emotionalen Wirkung darstellender Kunst argumentiert. Aus einem Online-Kommentar in den sozialen Medien: „Filmkunst berührt jeden anders – so ist jede persönliche Meinung richtig.“ Dabei wird gern übersehen, dass es dem Kritiker nicht darum zu tun ist, dem Rezipienten seine individuelle emotionale Reaktion auf das Kunstwerk klein-, schlecht- oder gar falschzureden. Jede persönliche Meinung ist valide und einer anderen persönlichen Meinung gleichwertig. Aber eben nicht gleichzustellen mit der Äußerung eines Musikkritikers, der weiß, was er tut. Übrigens war dir Antwort auf obengenannten Kommentar: „Nach dieser Logik sind alle Filme gleichzeitig superklasse und scheiße.“
Ein weiteres Beispiel aus der Welt der Musik: Als der Musikkritiker Alex Ross im New Yorker einen Verriss über ein vielgehyptes Popalbum schrieb, wurde weniger über seine Argumente diskutiert als über seine Person – ob er als klassisch sozialisierter weißer Mann überhaupt das Recht habe, ein solches Werk zu bewerten. Der Diskurs drehte sich um den Menschen hinter der Meinung, nicht um die Sache selbst. Objektivität wird hier nicht nur nicht angestrebt, sondern gilt als Makel.
Das ist in vielerlei Hinsicht fatal, oder, wie vorgenannte Ich-Generation sagen würde: auf so vielen Ebenen verstörend. Legt man die Maßstäbe ästhetischer Objektivität nämlich nicht zu Grunde, hat man es folglich nicht mit Kunstkritik, sondern mit Produktbewertungen zu tun – und diese tummeln sich im Moment vermehrt auf den üblichen Bewertungsplattformen der großen Online-Warenhäuser, wo es etwa heißt, „zum Inhalt kann ich nichts sagen“, aber für den geringen Umfang sei das Buch zu teuer – denn klar sind 1.000 Seiten Buch in jedem Falle besser als nur 200. Kürzlich hat es auch das posthum veröffentlichte Soloalbum des schwedischen Pianisten Esbjörn Svensson erwischt, über das sich ein Bewerter empörte: „Musik und Aufnahmequalität sind ausgezeichnet, aber es sind nur 36 Minuten“ und die Platte – aus seiner Sicht konsequent – mit nur einem Stern bewertete. Auch, wenn hier der Unsinn, die Bewertung von Musik mit der Bewertung eines Produktes gleichzusetzen, augenfällig ist – er greift um sich. Doch kann man Kunst nicht bewerten wie einen Haarföhn. Kann man Musik bewerten? Aber natürlich! Kann man Musik bewerten wie einen Föhn? Aber natürlich nicht!
Gute Kunstkritik, heißt es, lässt etwas an den Gegenständen – auch, wenn sicher ist, dass „a work of art is not merely a thing“[4] – sehen, das der Betrachter (hier auch zu verstehen als: Leser, Zuschauer, Hörer) vorher nicht gesehen hat, nicht sehen konnte, weil er zu der Transferleistung der mit Sinnen wahrnehmbaren Qualität in Sprache ungeübt ist. Das macht den Job des (Kunst-)Kritikers als Übersetzer aus; und genau das ist unter Objektivität zu verstehen: dass der Kritiker etwas aufdeckt, von der Kunstform in Worte übersetzt, das dem Kunstwerk bereits ohnehin inhärent ist. Dass er seine Kritik am Gegenstand selbst, an dem zum Gegenstand gehörigen Eigenschaften ausrichtet, und ihm weder etwas aus seinem persönlich-aktuellen Befindlichkeitskosmos zuschreibt noch Deutungen suggeriert, die ihm zwar persönlich genehm wären, die das Kunstwerk an sich jedoch nicht hat.
Das ist die hohe Kunst der Kritik und entsprechend schwer. Schließlich haben wir durch die allergrundlegendste Kunsterziehung am eigenen Leibe erfahren: Man sieht nur, was man kennt. Für die Musikkritik bedeutet das: Man kann nur hören, was man weiß. Hat man einen besonders harten, ergo: guten Lehrer, wird er schon mal sagen: In Ihren Kompositionen höre ich all das, was Sie nicht kennen. Für die Musikkritik bedeutet das: Ohne entsprechend große Repertoirekenntnisse wird man nur schwerlich angemessene Einordnungen und Vergleiche treffen können.
Doch bedarf es dieser Einordnungen in Zeiten schnell, leicht und billig verfügbarer Information überhaupt noch?[5] Auf den ersten Blick mag es scheinen, als hätten sich solche Einordnungen erübrigt, weil alles Wissen nur einen Klick entfernt ist – doch ist bei näherer Betrachtung genau das Gegenteil der Fall. Das bedeutet: Nicht auch, sondern gerade in Zeiten der Allverfügbarkeit von Musik wird der Kritiker in seiner Funktion als Gatekeeper benötigt, der Spreu von Weizen trennt. Kam ihm früher die Rolle des Informationsbeschaffers zu, ist es heute jene des Informationsfilters. Zwar mag er im Gegensatz zu seinen Kollegen aus dem Politressort nicht mit einer Flut an Fake News zu kämpfen haben, dagegen jedoch mit einer Flut an Musik, denn ihre Allverfügbarkeit ist nur die Kehrseite der sich – auch monetär – enorm vereinfacht habenden Produktionsbedingungen. Jeder kann heute in seinem Schlafzimmer eine CD aufnehmen. Ich bin die Erste, die zustimmt, wenn es heißt: Es gibt zu viel Musik auf der Welt. Umso mehr bedarf es des Musikjournalisten, der mit seinem Stift machetengleich einen Pfad durch den Dschungel schlägt.
Und nicht nur mit einer Flut an Musik, sondern auch mit einer Flut an Laienrezensenten. Klick, klick – die Bewertung steht. Ob derjenige, der sie abgibt, nun Ahnung von Musik hat oder nicht. Ratings wie bei Amazon helfen anderen, im Meer der überwältigenden Möglichkeiten eine Art Orientierung zu bekommen. Nicht nur, welcher Pizzalieferservice es denn sein soll, sondern auch welche Platte. Von vielen für gut befunden? Gekauft. „Social Proof“ nennt sich das Phänomen. Menschen neigen dazu, sich besser und sicherer zu fühlen, wenn die Bewertungen anderer ihre geplante Wahl bestätigen. Nur ungern steht man mit seiner Entscheidung allein da. Platz für Experimente, Überraschendes gar? Fehlanzeige. Die Motivation der Bewerter hingegen speist sich aus der Ego-Überhöhung: Man könne sich einbilden, mit seiner Bewertung Einfluss auf andere zu haben und somit letzten Endes als eine Art Experte wahrgenommen zu werden, so der Internetsoziologe Grant Blank von der Oxford University.
Dazu gehört durchaus das – zumindest unbewusste, aber in jedem Falle tief verwurzelte – Empfinden einer Art von Bildungsauftrag, um nicht zu sagen: ein gewisses missionarisches Sendungsbewusstsein, wie ich den Teilnehmenden in meinen Seminaren und Workshops ebenso oft wie gern zurufe und damit hoffentlich einpräge: „Denn wenn Sie glauben“, sage ich ihnen, „Ihre Position ist nur eine unter vielen, wenn Sie glauben, alle ästhetischen Urteile seien subjektiv und damit relativ und also letzten Endes egal, merkt man das Ihrem Text auch an: Wenn Sie sich selbst nicht ernst nehmen, nimmt auch der Leser Sie beziehungsweise Ihren Text nicht ernst. Musikjournalismus lebt von Vermittlung, und vermitteln kann man nur, wovon man überzeugt ist!“
Wer hier eine gewisse Leidenschaft herausliest, irrt nicht. Denn genau deshalb braucht es ästhetische Objektivität: nicht als kalte Doktrin, sondern als sinnenwache Haltung der Aufmerksamkeit für die schönen und manchmal eben nicht so schönen Dinge dieser Welt. Wer sie verteidigt, verteidigt nicht nur den Beruf des Kritikers, sondern auch die Würde der Kunst. Denn wenn alles bloß Meinung wäre, gäbe es am Ende nichts mehr zu sehen, nichts mehr zu hören – und nichts mehr, das uns über uns selbst hinausführt.
[1] Wobei es sich nicht um ein wörtliches Zitat handelt. Vielmehr entwickelte Fiedler in seiner Schrift Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit (Leipzig: Hirzel 1887, digital im Volltext abrufbar unter https://www.deutschestextarchiv.de/book/show/fiedler_kuenstlerische_1887) die Theorie der „reinen Sichtbarkeit des Bildes“, welche besagt, dass Kunst nicht durch äußere Inhalte oder symbolische Bedeutungen bestimmt wird, sondern in ihrer Eigenständigkeit als visuelles Phänomen existiert.
[2] Richard Wollheim, Art and its Objects, New York: Harper & Row 1968, deutsche Übersetzung durch Max Looser als Objekte der Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp 192
[3] Daniel M. Feige, Ästhetischen Objektivität. Eine hermeneutische Analyse, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Band 63, Heft 6, Berlin: de Gruyter 2015, S. 1048–1071
[4] Alva Noë, Strange Tools. Art and Human Nature, New York: Simon & Schuster 2015
[5] Bangte 2017 noch ein ganzes Kompendium zu Aufsätzengewordener Interviewsum die Zukunft der Musikkritik, stellte sich spätestens ab 2022 die Frage: „Wozu noch Musikkritik?“ – eine Diskussion, die mithin als ebenso überholt gilt wie ihr Sujet, scheint man sich doch auf ihre Negation und damit darauf geeinigt zu haben, des Musikkritikers – ebenso wie der Musikpresse – nicht mehr zu bedürfen.
Gunter Reus/Ruth Müller-Lindenberg (Hrsg.), Die Notengeber: Gespräche mit Journalisten über die Zukunft der Musikkritik, Wiesbaden: Springer VS 2016
Paul Gorman, Totally Wired: The Rise and Fall of the Music Press, London: Thames & Hudson Ltd 2023
„Wozu noch Musikkritik?“, Berichterstattung zum gleichnamigen Dortmunder Symposium im Deutschlandfunk, www.deutschlandfunk.de/wozu-noch-musikkritik-100.html
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Dieses Essay ist die logische Fortsetzung von „Zeit zum Hören – Plädoyer für einen langsamen Musikjournalismus“, erschienen 2016 im Fachjournalist unter www.dfjv.de/publikationen/fachjournalist/zeit-zum-hoeren-plaedoyer-fuer-einen-langsamen-musikjournalismus
