Der Popkomm neue Kleider: Über eine Musikmesse, die alles anders machen möchte als bisher
Das geht ja schon mal wieder gut los. Statt der angekündigten 10:00 Uhr öffnet der Presse-Akkreditierungs-Counter kurz vor elf. Die wartende Journaille, die über die Gründe der Verzögerung zu informieren man erst auf Nachfrage für nötig befindet, wird lapidar mit „technische Probleme“ beschieden. Als es endlich los geht, stellen wir allesamt fest, am falschen Counter gewartet zu haben. Dieser war nur für das Berlin Festival, nicht für die Popkomm. Zwar kommt man mit Popkomm-Badge auf das Berlin Festival, umgekehrt jedoch nicht. Weshalb dann ausgerechnet dieser Counter mit großen Presse-Akkreditierungs-Schild vor dem Eingang aufgebaut ist, bleibt ein Geheimnis. Meine Kollegen und ich fragen uns durch zur Popkomm-Akkreditierung, und einmal gefunden – was so einfach nicht ist, da jeder Security-Mensch seine eigene Vorstellung davon hat –, räumt die Popkomm-Presseverantwortliche sekundenschnell und unbürokratisch letzte Hindernisse, geschuldet einer geistig etwas schwerfälligen Hostess, aus dem Weg. Da kann man nicht meckern, würde der Berliner sagen, wenn man sich erstmal zur Presseverantwortlichen vorgearbeitet hat, ist die Betreuung vorzüglich. Das Chaos bezüglich des Was-ist-wo? bleibt allerdings. Garderobe? Weiß niemand. Auch am dritten Messetag nicht. Jazzkomm? Keine Ahnung, man solle einfach mal auf den Plan schauen. Ich spreche mit Mitarbeitern und Ausstellern, und alle halten die neue Location im ehemaligen Flughafen Berlin-Tempelhof für, gelinde ausgedrückt, „unglücklich“ gewählt. Niemand versteht das Gelände, die Wege sind lang, eine Ausstellerin vertraute mir an, sie habe es gesehen und spontan „Oh Gott“ gedacht. Wo der Eingang zum Fachbesucherbereich ist, wird nur im Trial-and-Error-Prinzip klar.
Die Location mit ihrem 30er-Jahre-Charme ist erst einmal gewöhnungsbedürftig.
Endlich drin, treffe ich sogleich auf den Wettbewerb, wie man neuerdings so schön formuliert. Früher hätte man gesagt: die Konkurrenz. Ronson Jonson, ebenfalls Musikwissenschaftler, ebenfalls Autor bei einem Hifi-Magazin und obendrein auch noch Musiker, der – und hier kommt jetzt doch ein Fünkchen Neid auf – im Gegensatz zu mir auch aktiv ist. Er drückt mir seine letzte Produktion in die Hand: Natascha Leonie, Forget Humble. Die CD der Frankfurter Indie-Folk-Sängerin/Songwriterin mit Hang zur Melancholie hat ein hübsches Artwork, ich bin gespannt, ob sie hält, was es verspricht. Beim Hören zu Hause soll sich das Album über „Leben und Lieben und Verlassen und Verlassenwerden“ als ganz zauberhaft erweisen und, das wird sich viel später herausstellen, zudem als eines der besten, die ich von der Popkomm mitgenommen habe.
Bei der Fortsetzung meines Streifzuges stoße ich auf Ulrich Sourisseau, den Macher des Vinylrecorders T-560 – einem Gerät, welches es ermöglicht, eigene Schallplatten in Kleinst- oder gar Einzelauflage ganz ohne Presswerk herzustellen, sprich: zu schneiden. Ein speziell beschichteter Diamantschneidestichel fräst tiefe Rillen in eine sich in Abspielgeschwindigkeit drehende Leerplatte, indem er von Spulen, an denen das verstärkte Mono- oder Stereosignal anliegt, vertikal bzw. horizontal zur Plattenoberfläche bewegt wird. Das Besondere am T-560 nun aber ist die um 45 Grad gedrehte horizontale wie auch vertikale Modulation, die ein Stereosignal in einer einzigen Rille ermöglicht – die Piktogramme hier veranschaulichen den Vorgang besser als ich ihn beschreiben kann! Warmen Vinylsound verspricht das Ergebnis. Dann zeigt mir einer der beiden seinen ganzen Stolz, den Vakuumabsauger, der dafür sorgt, den aus der Rille herausgeschnittenen Span gleichzeitig mit dem Schneidevorgang zu entfernen.
Auf Sourisseaus Webpräsenz www.vinylrecorder.com gibt es neben anschaulichen Infos rund um den T-560 sogar so etwas wie Elektroakustikpoesie, beispielsweise eine Art Haiku zum Tod des Stichels:
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Der Stichel stirbt langsam,
Jede Schallplatte ein wenig!
Die Geräusche werden lauter,
die Höhen schwächer!
In einschlägigen DJ-Foren jedenfalls wird intensiv über Sinn oder Unsinn des T-560 debattiert. Fakt ist, dass mit ihm bislang unbezahlbare Dubplate Schneidemaschinen erschwinglich werden. Fakt ist aber auch, dass der Vorgang des Schallplatteschneidens nicht vergleichbar ist mit mal eben eine CD brennen – zu abhängig ist er von Peripherie und nicht zuletzt audiotechnischem Vorwissen – da kann es sein, dass man gute zehn Leerplatten verbrät, bevor man endlich die richtigen Einstellungen gefunden hat. Aber dann! Anschauen kann man sich die ganze Sache hier.
Vor dem VUT-Stand wird auch schon mal lebhaft diskutiert.
Wer sich dann doch lieber auf ein Kleinstauflagenpresswerk verlassen möchte, wird schräg gegenüber fündig – beim Gemeinschaftsstand des VUT, des Verbandes unabhängiger Musikunternehmen, dessen einem oder anderen Mitglied ich schon im Frühjahr bei der (Pop Up über den Weg gelaufen bin. Hier gibt es nicht nur wieder die Rohmasse Vinyl in allen Farben des Regenbogens zu bewundern, sondern auch die ziemlich martialisch anmutende Goldene Indie-Axt, mit der demnächst eine Person geehrt werden soll, die „die für den ideellen, kulturellen und/oder den wirtschaftlichen Erfolg der unabhängigen Musikunternehmen mutigen, unkonventionellen und wirksamen Einsatz gezeigt hat“. Auf der Popkomm ist der VUT unter dem Motto „Independent Business Class” mit 64 Musikunternehmen aus ganz Deutschland vertreten, unter anderem alte Bekannte wie PIAS Germany oder Uwe Kerkau Promotion, und natürlich gibt es neben Informationen zum deutschen Independent Markt auch wieder eine Vinylproduktionsstraße, anhand derer Björn Bieber vom Vinylduplicationunternehmen Flight 13 erklärt, wie das „schwarze Gold“ der Musikindustrie von der Rohmasse zur fertigen Schallplatte wird.
Ein Schwerpunkt liegt auf Musikunternehmen aus Berlin und Brandenburg, und so verwundert es nicht, dass ich am Stand der Tonkooperative auch hier so manchen Bekannten der (Pop Up wiedertreffe, wie beispielsweise Eastblok Music mit ihren Balkan Grooves, die – was lange währt, wird gut – jetzt aber wirklich in der kommenden Ausgabe von Victoriah’s Music besprochen werden (sollen). Neben dem ebenso engagierten wie sympathischen VUT wird Deutschland auf der Popkomm von einem Stand Baden-Württembergs vertreten, der beweist, dass man im Ländle Wert auf eine solide Ausbildung legt. Mit dem Slogan Wenn schon Popstar, dann mit Abschluss wirbt das „Bundesland der Superlative“ für die Mannheimer Pop-Akademie, wo sich ein Bachelor in Studiengängen wie Musikbusiness oder Popmusikdesign (Claim: „Musikalisches Talent entwickeln, Kreativität wecken, Potenzial beschleunigen“) erwerben lässt. Bezeichnenderweise ist dies der größte Stand der ganzen Messe.
Gleich neben den deutschen Ständen finden sich unsere unmittelbaren Nachbarn, die Österreicher und Schweizer. Wo mir die ersten einen allzu kommerziellen Sampler bereit zu halten scheinen – wo sind so großartige Österreichische Musiker wie beispielsweise die Wiener Tschuschenkappelle, wo Electric Poetry & Lo-Fi Cookies? –, kann die Schweiz mit vier Compilations aufwarten, darunter jazz. made in switzerland. selection 2009/2010, die zu meiner großen Freude auch den Track It’s a Sonic Life von Rusconi featuret. Ich komme mit dem netten Schweizer Repräsentanten ins Gespräch, und er empfiehlt mir eine Art Schweizer My Space, welches sich als wahre Fundgrube in Sachen Schweizer Musikszene im Allgemeinen und Jazz im Besonderen erweisen soll: www.mx3.ch.
Was ansonsten von dem Trend zu halten ist, dass die verschiedenen Länder – allen voran die Nordlichter, neben Kanada die Iren, Dänemark, Schweden und natürlich Norwegen und Finnland – ihre staatlich subventionierten Musikexportbüros auf die Messe schicken … darüber soll lieber geschwiegen werden. Auch Südafrika, durch die WM dieses Jahr ein Must, ist mit einer „Collection of South African Songs“ vertreten. Ich denke Vuvuzela und mache mich aus dem Staub. Vielleicht bin ich ignorant, aber ich halte es für ohnehin nur schwerlich vorstellbar, dass die in den Büros zur Förderung des Musikexportes ausgewählte Musik wirklich dem Neuen, Überraschenden oder gar dem ein oder anderen Geheimtipp des jeweiligen Landes gerecht werden kann. Experimentelles? Fehlanzeige! Kein Wunder, dass viele Länderrepräsentanten im persönlichen Gespräch mehr als auf ihre Musiksampler verschämt auf einschlägige Internetadressen verweisen, wo man dann die „wirklich gute“ Musik findet. Und so lebt der Export dann auch eher von Mundpropaganda und Myspace als vom Musikexportbüro. Doch das nur am Rande.
Einen der beiden Seitengänge, die den Besucher nach Durchquerung eines schier unendlich langen Flughafenflurs in Form einer T-Gabelung erwarten, habe ich abgelaufen und kann eine aufkommendes Gefühl der Enttäuschung über das Angebot der Popkomm nicht unterdrücken. Deshalb die Stunde Anstehen am Morgen? Na, ich weiß nicht. Zufällig schnappe ich dann im Vorbeigehen auf, wie ein junger Mann und eine Frau einem Popkomm-Mitarbeiter die richtige Aussprache eines ungarischen Wortes nahebringen wollen. Es stellt sich heraus, dass es sich um den 1980 in Ungarn geborenen, aber in Deutschland aufgewachsenen Chansonnier Ivan und seine Managerin handelt. Der junge Barde versucht, enttäuscht von seinem Vaterland („Ungarn sprechen keine Sprachen“) von Berlin aus im europäischen Musikmarkt Fuß zu fassen. Seine für die Popkomm zusammengestellte 5-Track-Promo-EP beeindruckt dann auch zunächst durch eine demonstrative Multilingualität. Ivan singt auf ungarisch, englisch, spanisch, französisch, die Musik bleibt aber trotz eines Édith Piaf Covers sehr im Euro-Beat-Bereich mit überladenen Backgroundchören und Plastikschlagzeug verhaftet, genau so wie das mit Meer und Sonnenuntergang kein Klischee auslassende Video. Leider hört man für meine Begriffe den gelernten Musical- bzw. Operettensänger allzu deutlich durch, in der Eurovision Song Contest Ecke könnte jemand wie Ivan allerdings funktionieren – zudem der Sänger neben seinem weichen lyrischen Tenor über ein äußerst ansprechendes Äußeres verfügt. Wenn Berlin ihm jetzt noch ein paar Ecken und Kanten verpasst – und welcher Zuzügler ist davon je verschont geblieben? –, dann könnte das etwas werden. Allerdings eher auf der Musiktheater- denn der Rock-Bühne. Und das ist durchaus legitim, schließlich hat bei uns ein Alexander Klaws seine musikalische Heimat auch im Musical gefunden. Zwei Tage später bemerke ich allerdings, dass mir die weiter oben bemängelten Chöre von Új vágy ébred bennem nicht mehr aus dem Kopf gehen, dessen englische Übersetzung A new day is dawning es nur sinngemäß trifft – wortwörtlich genommen bedeutet der Titel soviel wie „ein neues Verlangen erwacht in mir“, und hierzulande denkt man dann natürlich an das ach-so-feurige Gulasch-Paprika-Csárdás-Puszta-Klischee, an gefährlich-edle Hunnen, halbwilde Reiterhirten oder glutäugige Zigeuner. Sorry, aber für irgendetwas muss so ein Hungarologie-Studium ja gut sein! Also, Ivan erweist sich am Ende des Tages als formidalbler Ohrwurm, obwohl er so ganz und gar nicht „meine“ Musik macht.
Mittlerweile bin ich vom Laufen, Hören und Reden schlicht platt. Ich brauche eine Pause und vor allem neue Energie. Die wird auch hier bevorzugt durch veganes bzw. organisches Essen geliefert – das war ja schon auf der (Pop Up so und bestätigt wieder einmal die These des Musikers als ziemlich heiklem Esser. (Wer einen wirklich heiklen Esser erleben möchte, ist herzlich eingeladen, sich einmal Kopfhörerhund anzuschauen: der ist das, was man einen „Futtermäkler“ nennt und treibt mich damit regelmäßig an den Rand des Wahnsinns, aber das nur nebenbei.)
Völkerverständigung der besonderen Art: Jamaikanische Gemüse-Reis-Pfanne trifft
auf bayuwarische Bierzelt-Tischdecke. Und ja, das schmeckt bedeutend besser als es aussieht.
Frisch gestärkt widme ich mich dem zweiten Gang der T-Gabelung, der mit Ausstellern aus der privaten Musikwirtschaft aufwartet. Universal Music beispielsweise ist dort. Machen indessen tun sie nichts. Sie sind einfach nur da. Allerdings hat man vom ganz in blau gehaltenen Universal-Stand einen hübschen Ausblick auf das Rollfeld. Der Blick ins Schaufenster des H’Art-Standes ist auch hübsch und lässt mich schmunzeln. Die Compliation-Reihe Chill n’ X (also Chill n’ Flamenco, Chill n’ Jazz, Chill n’ Lounge etc.) wurde um Chill n’ Michael – ein “Chill Out Tribute to Michael Jackson” ergänzt. Die nette Dame von H’Art versichert mir auf meine zaghaft hervorgebrachten Zweifel, dass das Konzept aufgehe und „keine Blasphemie“ sei. Zu Hause stellt sich heraus, dass sie Recht behalten soll. Schon der erste Track, eine Neueinspielung von Thriller durch Jingo feat. Lafemme, funktioniert. Ebenso Billie Jean von Hypnomusic. Großartig ist das schon fast ins Reggae-artige verschleppte Wanna Be Startin’ Somethin’ von Funky Rhythm Affair, die klar machen, dass hier gar nichts gestartet, sondern erst einmal gepflegt abgehangen wird! Heal The World, einer der wenigen Jackson-Tracks, die ich schon in der Originalversion nicht mag, hätte meiner Meinung nach nicht sein müssen – schon das weltverbesserische Thema eignet sich nicht zum Loungen. Ansonsten aber bin ich von dem Album sehr angetan. Auf Chill n’ Michael will man Michael Jackson nicht covern – was ja auch zwangsläufig schief gehen müsste! –, sondern seine Musik ins Chill-Out-Idiom übersetzen, was sie klingen lässt wie eine neue Platte von Sade. Laszive Frauenstimmen singen Jacksons Kompositionen in Zeitlupentempo – das ist tatsächlich schön.
Neben der Chill n’ X und Bossa n’ X (also Bossa n‘ Stones, Bossa n‘ Roses, Bossa n‘ Ramones, Bossa n‘ Marley etc.) habe ich den H’Art-Vertrieb bislang vor allem für seine Beginner’s Guide To-Serie geschätzt. Der Beginner’s Guide To Eastern Europe beispielsweise bietet – ganz im Gegensatz zu den Zusammenstellungen der Länderbüros – einen wirklich guten und fundierten Querschnitt durch Balkan Club, Balkan Brass & Gypsy wie Eastern Rock&Fusion – ein idealer Ausgangspunkt für alle, die vorhaben, sich in das Genre zu vertiefen. Ich selbst habe damals den Beginner’s Guide to Tango zum Ausgangpunkt meiner Recherchen genommen, als ich zu der rioplatensischen Musik gefunden hatte. Tango gibt es bei H’Art auch jetzt noch, nur diesmal in Form eines „essenziellen Samplers“, der auch vor der Elektronisierung des Genres nicht die Augen verschließt und so auch neben klassisch agierenden Tango-Orchestern und -Sängern einiges an Electrotango bereit hält.
Am H’Art-Stand gibt es CDs, CDs, CDs … ach ja, und Dosenbier!
Wirklich überrascht bin ich allerdings, dass der Vertrieb auch Solokünstler bzw. Bands jenseits der hundertsten Remastering-Serie im Programm hat. Beispielsweise Joyce, allerdings nicht mit der jüngst erschienenen Slow Music, sondern mit einer Kollaboration mit einem meiner Lieblingskünstler, Bugge Wesseltoft (Ja, der Herr am Norwegen-Stand hat mir beigebracht, den Vornamen auszusprechen. Und ich habe es schon wieder vergessen.) Oder das Zürcher Trio My Heart Belongs To Cecilia Winter, das sich in den letzten zwei Jahren den Ruf als „die neuen Arcade Fire“ erspielen konnte. Oder eine deutsch-kanadische Jazzsängerin namens Mystéfy, die man mir mit besonderem Nachdruck ans Herz bzw. Ohr legte. Ihr Showcase im Rahmen der Jazzkomm am Vorabend hatte ich leider verpasst, und als ich das Album zu Hause zum ersten Mal hörte, dachte ich, sehr schön, aber nichts Besonderes, live hingegen bestimmt ganz zauberhaft. Aber je öfter ich es hörte, desto mehr zog es mich in seinen Bann. Schließlich wurde Mystéfy Me zum Soundtrack einr durcharbeiteten Nacht – bislang leistete mir in diesen Fällen stets Buster Williams’ Griot Liberté zuverlässige Dienste –, und ich bin überzeugt, dass es keinen besseren hätte geben können. Zu später Stunde entfaltet dieses Album, was anfänglich sehr nach Standards und tausendmal gehört klingt, seine ganz spezielle Mystik. Endlich ein Stand, wo es das gab, weshalb ich hierher gekommen bin: gute neue Musik.
Enttäuschung und Verzweiflung weichen nahezu vollständig, als ich – jenseits der Fachbesucherzone, gewissermaßen auf der Empore der Haupthalle – die kleinen feinen Jazz-Stände entdecke, namentlich jene vom Jazz-NuJazz-Lounge-Electro-Label Ozella Music, das bei Jazz-Heads mit Künstlern wie Karl Segem, Randi Tytingvåg oder dem Helge Lien Trio reüssiert, dem breiteren Publikum aber eher durch Produktionen wie Henschkeschlotts Café Thiossane, dem „Kind of Blue der Lounge Generation“ oder seine The Sound-Reihe bekannt sein dürfte. Ich habe die Möglichkeit, mit Labelgründer Dagobert Böhm ins Gespräch zu kommen und freue mich darauf, in den kommenden Ausgaben von Victoriah’s Music einige seiner Kleinode zu besprechen. Ozella teilt sich den Stand mit dem Verein Jazz&World Partners, der jedes Jahr die kleine, aber sehr feine Compilation Hörvergnügen (nicht zu verwechseln mit Schöner Hören vom Kultur Spiegel) herausgibt. Verbindendes Element ist Randi Tytingvåg, die sich auf dem diesjährigen Sampler findet. Aber auch sonst gibt es im siebten Jahrgang Musik(er) jenseits des Mainstreams zu entdecken. Besondern gut gefällt mir diesmal Daniel Stelter, der mit seinen Homebrew Songs eine „Gitarrenplatte der anderen Art“ vorgelegt hat und dessen hier zu hörender Track Flutter groovt wie nichts Gutes – ebenso wie die Circles des Samuel Jersak Trios, eine klassische Soulnummer à la Anita Baker mit Debby Van Dooren an den Vocals. Der Klezmer’s Freilach von Ausnahmegeigerin Martina Eisenreich kommt in seinem aberwitzigen Tempo einem Ritt durch Paganinis Capricen gleich, James „Blood“ Ulmer überzeugt mit kompromisslosem, zeitgenössischen Blues. Oder gefällt mir am Ende doch The Gaze vom Tord Gustavsen Ensemble am besten, was auf leisen semi-orientalischen Sohlen heranschleicht? Es gibt in jedem Falle viel zu entdecken, und selbst Liebhaber von Außereuropäischem, Progressivem oder Free Jazzigem werden mit Hörvergnügen 7 auf ihre Kosten kommen.
Ozella bringt seine Schätzchen auch auf Vinyl heraus. Ganz groß: Edgar Knecht mit Good Morning Lilofee, wo urdeutsches Liedgut einer jazzigen Frischzellenkur unterzogen wird.
Vernachlässigt man mal den Stand der Russen, die mit einer vermeintlich an die gute alte Zarenzeit gemahnenden Schnörkelmöbeleinrichtung und vorgeschaltetem Video mit zwei Silikon-Blondinen à la Donatella Versace und einem Belusconi-Verschnitt – recht eigentlich handelt es sich um das TV-Projet Moscow Star – schon so sehr nach postsozialistischem Hinterzimmergeklüngel aussehen, dass ich mich gar nicht hinein traue, bietet die Empore nur Highlights für die Nujazz-Fraktion: Ich entdecke nämlich den Stand der Holländer und ihr Dutch NuJazz Movement, außerdem das kammermusikalisch anmutende Berliner Duo Piadeux, bestehend aus Silva Finger an der Violine und Gerhard A. Schiewe am Akkordeon, das seine musikalische Verwandtschaft zu Piazolla nicht verhehlen kann. Jepp, hier oben sind ganz klar „meine“ Stände, hier bin ich richtig.
Zum Schluss schaue ich in der Haupthalle des Flughafens noch bei tape.tv und den Merchandisern von Trashmark vorbei, und lasse den Messetag bei einem DJ-Set vor der Musikbox, einer Art von der Berliner Clubcommission organisiertem interaktiven Club in der Box, ausklingen. Der amtierende DJ spielt eine housige Version von Sexual Healing, und gerade, als ich mich frage, wer denn da auflegt, fällt einem Musikboxmitarbeiter auf, dass ja, oh Schreck, ein falscher Name im Hintergrund prangt. Und so werde ich Zeugin eines lustigen DJ-wechsel-dich-Spiels:
Huch, dass ist ja gar nicht SQIM …
… fällt einem Mitarbeiter auf!
Wenn man aber das „M“ stehen lässt …
… kommt DJ &ME schneller zu seinem richtigen Namenszug an der Wand!
So ein Messetag hat es immer in sich – weshalb tut man sich das eigentlich an? Die Kataloge und CDs in meinen Taschen werden nicht leichter, meine Füße sind platt und kurzzeitig spiele ich mit dem Gedanken, die vor Ort angebotene Shiatsu-Massage in Anspruch zu nehmen, entscheide mich aber dann ob der Länge (20 Minuten) doch dagegen. Tütenbepackt mache ich mich auf den Heimweg. Und jetzt, auf dem Weg nach draußen, sehe ich auch die Garderobe.
Da Kopfhörerhund erst später abgeholt wird, muss solange seine Ziehtochter, Rottweiler Lieselotte, beschmust werden.
Apropos Kopfhörerhund: Im Gegensatz zur (Pop Up halten sich die musikalischen Hunde auf der Popkomm bis auf Simon White’s White Dog Media Ltd mit dem selbstformulierten Anspruch, „der Body Shop der Musikindustrie“ zu werden, sowie einer Ozella-CD, die nach Auskunft des Label-CEOs „groovt wie Hund“, eher bedeckt. Dafür gibt es einige zwischenmenschliche Begegnungen, die einem schon fast wieder den Glauben an die Musikindustrie zurückgeben können – bezeichnenderweise gehen diese Impulse eher seltener von den Multis und den staatlichen Einrichtungen aus, sondern wie gehabt von jener handvoll Enthusiasten, die trotz aller widrigen Umstände ihre Ideale hochhalten, an eine kompromisslose Musik glauben und ihren Traum nicht aufgeben. Dafür gebührt ihnen allen Respekt und Dank.
Und so sieht das dann aus, wenn man frisch von der Messe kommt. Das muss jetzt alles nur noch gehört und verarbeitet werden … Von den Highlights, die ich sicherlich darunter finden werde, lesen Sie zuverlässig in Victoriah’s Music auf fairaudio.de