Die Deästhetisierung des Jazz – Superhelden zum Anfassen
Ohne die Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst wäre die Welt um einige schöne Dinge ärmer. Beispielweise gäbe es Ihren Lieblingsklangblog nicht, denn schließlich haben sich meine Eltern als hoffnungsfrohe junge Studenten dort kennen- und liebengelernt. Keine Eltern = kein ich = kein Blog. Das wäre schade. Ohne die Leipziger gäbe es aber auch eine andere schöne Sache nicht, nämlich die American Jazz Heroes. Besuche bei 50 Jazz-Legenden von GHGB-Leipzig-Absolvent Arne Reimer. Und das wäre dann wirklich schade, denn in diesem Buch gelingt dem Fotografen nichts Gerinegeres als der Bruch mit der vornehmlich auf Stil und Eleganz bedachten, rauschschwadengeschwängerten Schwarzweißästetik der herkömmlichen Jazzfotografie. Herausgekommen ist ein Buch, das kein Zeug zum Couchtischbuch hat, denn Ppralle anderthalb Kilo Jazzgeschichte der Gegenwart warten hier darauf, gesehen, gelesen und (nach-)gehört zu werden.
Und obgleich ich mit diesem Begriff sonst eher vorsichtig umgehe, muss ich Vorwortschreiber Roger Willemsen unbedingt zustimmen, wenn er davon spricht, es sei an der Zeit, den Jazzmusiker „wahrhaftiger“ zu sehen. Bei Reimer besticht der Anspruch an eine größere Wahrhaftigkeit durch den Charme des Alltäglichen. Da drängt sich schon mal das ein oder andere ästhetisch fragwürdige Möbelstück ins Bild, das frisch getrimmte Haustier samt hühnerfüßigem Bringsel, das ungemachte Bett inklusive aktueller Bestsellerschmöker, die dann doch sehr private Nippessammlung oder das Renovierungszubehör samt Umzugskartons – und ganz groß: das mit allerlei Elektroden verkabelte, akkupunkturnadelgespickte Skelett von Milford Graves, Teil einer kompletten Laborausstattung, die sich der heilenden Wirkung von Musik widmet. Der Jazzer an sich in seinem natürlichen Habitat – das ist eben auch nur ein ganz normaler Mensch, der sein Fahrrad im Wohnzimmer stehen hat und Kühlschrankmagnete mag.
Neugierig geworden? Die ganze Buchrezension finden Sie auf fairaudio.de, wo Sie eingeladen sind, einen sich fast unerlaubt anfühlenden Blick in die Wohnzimmer all jener berühmten Sidemen zu werfen, die Musikgeschichte geschrieben haben. Diese Privatheit entmystifiziert – stellt aber nie bloß. Eine Gratwanderung, die hier mit traumwandlerischer Sensibilität gelungen ist.