„Die Musik berührt mich einfach.“ Tilo Weber im Klangverführer-Interview – klangverführer | Musik in Worte fassen
„Die Musik berührt mich einfach.“ Tilo Weber im Klangverführer-Interview

„Die Musik berührt mich einfach.“ Tilo Weber im Klangverführer-Interview

„Die Musik berührt mich einfach.“ Tilo Weber im Klangverführer-Interview

VSz: Dein letztes Quartettalbum hieß „Four Fauns“ …

TW: Ja.

… das aktuelle „Faun Renaissance“. Warum der Faun, was fasziniert dich am Wesen des Waldgeistes?

Das wurde ich schon einmal gefragt – und auch da bin ich in die Bredouille gekommen, das erklären zu müssen. Die bittere Wahrheit ist die, dass ich durch Oliver Potratz, dem Bassisten von Clara (Haberkamp, Anmerkung v. VSz), auf Arno Schmidt aufmerksam geworden bin. Schon vor ein paar Jahren. Oli hat mir die Bücher von ihm gezeigt, die haben mich sofort total infiziert. Und da gibt es diese Geschichte „Aus dem Leben eines Fauns“, wo er so ein bisschen autobiografisch – also, es ist ja fast alles so ein bisschen autobiografisch bei ihm – schreibt von diesem Herren, der irgendwie ausbrechen will. Aus den Konventionen. Aus der Gesellschaft. Aus diesem Kriegsdeutschland, natürlich auch. Und dann so klischeemäßig auch im Wald eine Hütte hat und sozusagen der Faun ist. Und für diese Musik, dachte ich, passt das Bild von diesem Wesen, das so ein bisschen außerhalb steht, ganz gut. Weil es vier Personen sind, die Musik machen und auf der einen Seite natürlich einen Bandsound generieren, der schön zusammenklingt, aber auch jeder oder jede für sich steht. Wie ein Faun, eigentlich. Und dann dachte ich, warum nicht Four Fauns?

Wo du es gerade ansprichst, jeder steht für sich … Jeder hat auch für sich eine recht lange Diskografie! Sind die Four Fauns eine Art All-Star-Quartett?

Für mich ist das ein All-Star-Quartett, absolut! Also, heute ist ja auch Almut mit dabei, Almut Kühne am Gesang, und nicht Claudio Puntin, der leider nicht da sein kann.

Ist Richard Koch heute dabei?

Richard ist dabei, ja.

Ich kenne ihn sehr gut von seinen anderen Projekten, und war ganz überrascht, dass sein typischer Signature-WahWah-Sound nur ganz zum Schluss auf dieser einen Swing-Nummer auftaucht und er sonst auf deiner Platte völlig anders klingt, als er sonst klingt.

Ja, genau! Ich habe, glaube ich, Richard am meisten bearbeitet. Was heißt bearbeitet. Ich glaube, ich habe Richard mit der Musik am meisten aus seiner Komfortzone rausgelockt. Claudio hat ja einen klassischen Background; und auch James (Banner, Anmerkung v. VSz) hat sich damit auseinandergesetzt. Wobei man sagen muss, dass Richard aus einem Elternhaus kommt, wo Alte Musik gespielt wurde. Der ist also durchaus damit sozialisiert. Sein Vater ist da auch Experte. Der kam mal nach einem Konzert zu mir und meinte, das hast du jetzt aber falsch angesagt. Ich habe … ich weiß gar nicht, irgendwie habe ich einen Komponisten in eine Epoche gesteckt, bei der Ansage, die nicht korrekt war. Das kann man nicht sagen, meinte er, Machaut – das ist Mittelalter, da kannst du nicht sagen, das ist Renaissancemusik. Oder irgend so etwas.

Und der Klarinettist, der hat einen echt klassischen Background?

Ja.

Und der Bassist?

James nicht, aber James ist jemand, der auf jeden Fall einen soundästhetischen Background hat. Und den Background, dass er auch Komponist ist. Also, er hat sich einfach mit viel Musik auseinandergesetzt – und wenn man das macht, dann macht man das ganz automatisch auch mit klassischer Musik. Ich hab mal ein Stück mitgebracht, wo ich meinte, es wäre schön, das im Duo zu spielen, dann meinte er, ah okay, er checkt das aus, und dann hat er die stilechten Basstöne durchgängig ausgecheckt – und das war schon cool.

Wir haben die klassische Musik gerade schon angesprochen. Weil: Faun Renaissance ist ja nicht nur im Sinne von Nachfolgealbum des ersten Fauns-Albums zu verstehen …

Ah, okay! Ja …

… sondern es handelt sich tatsächlich um Neuinterpretationen von Melodien der Renaissance. Warum gerade diese Epoche?

Diese Epoche ist ja eine sehr, sehr große Epoche. Wir haben Stücke von Machaut und Solage, das ist noch Mittelalter, dann haben wir Palestrina und Gesualdo und Ockeghem, das ist, insgesamt betrachtet, eine sehr lange Zeitspanne. An dieser Musik fasziniert mich, dass da eine Essenz drin ist, die immer noch wahnsinnig aktuell ist. Also, ich finde, die Musik ist tiefgründig und hat einfach eine sehr starke Stimmung. Die Musik berührt mich einfach.

Und es ist ja nun alles andere als so eine Klassik-meets-Jazz-Platte …

Nee, auf keinen Fall!

Die Sachen sind ja jetzt nicht „verjazzt“ – was ohnehin ein Wort ist, das ich hasse! –, sondern es entsteht etwas total Neues, das sich, wie ich finde, auch so ein bisschen der herkömmlichen Begrifflichkeit entzieht. Ich selbst suche noch nach Worten dafür. Wie würdest du’s denn beschreiben, wenn du denn gezwungen wärst?

Wenn ich gezwungen wäre. Das ist die Frage, die jeder hasst.

Ich weiß. Ist ja auch unser Job, nicht eurer.

Ja.

Aber dennoch!

Ich … Ich … ja. Es ist … puh! Vielleicht kommt man dem mit „kammermusikalischem Jazz“ am nächsten. Zumindest steht das so auf dem Rider. Ich glaube, das stärkste Charakteristikum ist einfach der Sound. Und in dem Sound hört man natürlich ganz klar Jazz. Ich glaube, ein klassischer Musiker oder ein Popmusiker, die würden sagen, das ist Jazz, das ist doch vollkommen klar. Aber trotzdem würde man beim zweiten Hinhören merken, dass wir eine andere Ästhetik verfolgen als so eine normale Jazzästhetik. Wobei … Was ist schon so eine „normale Jazzästhetik“?

Es gibt ja dieses Stück, „Mesomedes’Hymn to the Muse“, das ist für mich so ein klassisches Jazz-Jazz-Stück, wenn ab 1:45 der Bass übernimmt und dann die ganze Band dazukommt, besonders dann ab Minute drei. Wo du wirklich die Ästhetik hast, die jeder gemeinhin als Jazz bezeichnen würde.

Dieses Swingmäßige darauf?

Hm, ein Dark Swing vielleicht … Aber eigentlich schwingt für mich „Ma fin est mon commencement“ am meisten. Wenn es die Störgeräusche hinter sich gelassen hat.

Interessant! Ja, dann gilt das so! (beide lachen)

Wir haben uns jetzt auf „kammermusikalischen Jazz“ geeinigt?

Ja. Und „Ma fin est mon commencement“ mit diesen Geräuschen am Anfang …

… ja, das hat sowas von Electro Clash …

Ja, genau!

… und du denkst zunächst, dass da ein Synthesizer dabei ist, was ja nicht stimmt, weil es ein akustisches Quartett ist … Ich weiß gar nicht, von wem das Distortion kommt!

Das ist ein kleines Megaphon.

Und wer spielt das?

Claudio, die Klarinette. Aber stimmt, es ist da nicht konsequent. Es ist da nicht akustisch, sondern ist ein kleines elektronisches Intermezzo.

Und dann wird das so ein Tanz, ein munterer, pastoraler Tanz, und der gerät dann zum Swing – wirklich ganz klassischer Gypsie-Swing!

Okay! So gesehen, ja.

Und dann zum Schluss haben wir die Koch’schen WahWahs und wieder viel Distortion.

Genau, ja. Das ganze Stück ist auf jeden Fall eine Reise. Das ist Machaut – das ist eigentlich Mittelalter, ganz klar Alte Musik, und ich hab das einmal durch den Wolf gedreht. Ich habe bis jetzt noch keine Rückmeldung von Klassikern, ob die das gräuselig finden oder interessant, wenn man die Musik so arrangiert.

Ich finde, du merkst erst ab dem zweiten Stück, dass es barocke – oder renaissancistische, weil ja dieser Takt, dieses Metronom da immer mitläuft – Originale sind. Beim ersten kannst du noch denken, es ist eine Eigenkomposition.

Das erste ist keine, das ist tatsächlich das Gesualdo-Stück „Se la mia morte brami“. Aber das hab ich auch so verändert, dass es eigentlich nicht mehr erkennbar ist.

Du hast vorhin gesagt, dass heute der Klarinettist nicht dabei ist – stattdessen Almut Kühne als Sängerin. Kommt ein anderes Blasinstrument dazu oder bleibt es beim Quartett, nur eben mit Stimme, Trompete, Schlagzeug und Bass?

Ja, ganz genau. Auch die gleichen Stücke.

Sie übernimmt quasi den Part des einen Blasinstruments, kann man das so sagen?

Ja, auf der einen Seite übernimmt sie den Part, auf der anderen Seite ist das eine neue Band. Also, als klar war, Claudio kann nicht dabei sein, hab ich kurz überlegt, ob ich jemanden frage, der auch Klarinette spielt, und hab gemerkt … Um auszuholen: In der ersten Band war Hayden Chisholm am Altsaxophon. Und Hayden hat einen ganz, ganz tollen Saxophonsound, das ist für mich *der* Altsaxophonist, eigentlich. Wenn ich an Altsaxophon denke, dann denk ich an Hayden. Und so war’s bei Claudio auch. Wenn ich an Klarinette denke, dann denke ich an Claudios Sound. Und deswegen war ich total happy, dass Claudio mit dabei war, mit dabei ist. Genau. Und deswegen hab ich jetzt nicht einfach einen Sub geholt, der auch Klarinette spielt – es gibt ja auch andere Klarinettisten! –, sondern ich wollte dieses Konzept weiterführen. Ich hab mir gedacht, mit Almut ist es einfach eine neue Band, es ist ein neuer Sound, der ist ähnlich wie der alte Sound, aber … Ich wollte sie immer schon irgendwie in die Band integrieren. Gern, dass wir dann zu fünft sind. Jetzt sind wir wieder zu viert, das passt auch super.

Ich habe Almut vor ein paar Jahren hier auf der jazzahead! im Duo mit Gebhard Ullmann gehört, und das geht ja gern auch mal in eine sehr fordernde Richtung. Wird auch euer Sound dadurch … fordernder?

Würde ich nicht sagen. Nee. Ich empfinde das nicht so. Sie kann ja auch einen sehr klassischen Sound haben, sie singt ja auch in Chören … Ich habe sie eigentlich, interessanterweise, meistens in klassischen Settings gehört. Bei dem Duo mit Ullmann, da geht es um Sounds, um freie Impro – das find ich auch spannend; in unserer Band macht sie das aber nicht. Das klingt ganz natürlich. Es geht darum, diese Linien zu singen, und – das klingt jetzt so trocken, aber – sie hat auf jeden Fall den Background dazu und macht das ohnehin auch in Chören, und genau diesen Sound wollte ich in der Band haben.

Wie ist das eigentlich … Ich war gestern bei dem letzten Konzert dabei, in einer Halle, die für 14.000 Leute ausgelegt ist … Es waren drei Journalisten im Publikum, drei von der Messe, eine Kamerafrau, ein Kameramann, Licht und Ton – fertig. Hattest du schon Soundcheck?

Wir hatten schon Soundcheck, ja.

Wie fühlt sich das an? Wie wird sich das anfühlen?

Also … Ich war überrascht, wie gut es sich tatsächlich anfühlt. Weil das Team sehr eingespielt ist, alle sind supernett, und der Bühnensound war gut – wir haben von vornherein gesagt, wir wollen möglichst ohne Monitor spielen …

Saalsound ist auch sehr gut!

Ja, Saalsound ist auch gut, das ist immer so schwer einzuschätzen von der Bühne aus, aber … Ja, klar. Ich mein, dass das komisch ist, in einer Riesenhalle vor keinem Publikum zu spielen, das ist klar. Das ist total komisch. Man ist ja jetzt erschreckenderweise schon ein bisschen daran gewöhnt.

Es ist nicht dein erstes Mal, dass du in einen leeren Saal hineinspielst.

Nee. Also, ich glaube, wir alle sind natürlich schon so ein bisschen müde, dass es jetzt immer noch so ist, aber es ist einfach nicht … Wir können’s nicht erzwingen. Wir können weiter das machen, was wir tun, das ist in unserem Fall eben Musik machen. Vielleicht berührt es ja die Entscheiderinnen, die Entscheider da oben irgendwie oder sie merken selbst, dass es durchaus eine Notwendigkeit hat.

Hast du perspektivische Szenarien, Vorschläge, wie das …

… politischer Art?

Ja.

Ich habe ja am Mittwoch schon ein Interview gegeben für 3Sat und Arte, das gestern ausgestrahlt wurde. Und auch da habe ich gesagt: Es ist immer wahnsinnig schwierig, etwas dazu zu sagen. Ich glaube, was nicht gut ist, aber gern mal gemacht wird, ist, die Jazzmusikerinnen und Jazzmusiker in so eine Ecke zu drücken: die armen Schlucker, die eh nichts haben. Und diese ganzen Klischees zu bedienen. Das Leben steht eh Kopf, da passt der Jazz wunderbar rein. Aber ich persönlich möchte das auf jeden Fall nicht haben. Es geht mir nicht darum, kommerzielle Musik zu machen oder irgendwie den Jazz zu verleugnen, auf gar keinen Fall, aber ich möchte nicht diese komischen Klischees bedienen. Dass wir arm dran sind und dass wir leiden müssen …

… um Kunst machen zu können?

Um Kunst machen zu können. Ich glaube, diese Tiefgründigkeit, die Tiefe in der Musik, die kommt durch andere Dinge. Die kommt durch Hingabe, durch Arbeiten mit dem Material, dass man richtig darin wühlt und richtig daran arbeitet. Und das muss reichen. Deswegen habe ich schon den Appell, dass es nicht in Ordnung ist, was gerade abläuft. Dass die Kulturbranche, die ganze Veranstaltungsbranche einfach lahmgelegt wird. Die Wirtschaft dagegen läuft, soweit ich das beurteilen kann, einfach weiter. Frau Merkel hat auch letztes Jahr schon gesagt, wie die Kosten der Pandemie wieder eingeholt werden: durch Wirtschaftswachstum. Also, die politisch-wirtschaftliche Marschroute ist total klar, nach wie vor: Exporte raushauen. Und da ziehen wir natürlich den Kürzeren mit unserer Branche. Wir sind einfach nicht darauf ausgerichtet – so funktionieren wir nicht! Ich meine, Till Brönner hat das auch angesprochen, wir haben ja sogar eigentlich belegbare Zahlen, was wir umsetzen. Wie groß oder klein die jetzt sind, ist aber fast unerheblich.

Wobei es schon eine nennenswerte Größe war!

Das war eine nennenswerte Größe! Ich kann die Zahlen jetzt nicht zitieren und weiß auch nicht, ob die nun genau stimmen oder ob es ein bisschen weniger ist oder ein bisschen mehr ist, aber auf jeden Fall war mir eigentlich schon vorher klar, dass es nicht so wenig sein kann. Aber es hat auch für mich noch mal bestätigt, dass es – selbst, wenn man Zahlen auf den Tisch legt – selten genau darum geht. Es geht oft darum, „Ja, das ist ja nur Kultur …“ Und wir wiederholen das so mantramäßig: Kultur und Kunst, das sind keine Accessoires, das ist wichtig. Das ist nicht einfach nur ein Luxusgut. Das ist wichtig für die Gesellschaft. Dass wir als Gesellschaft bestehen. Das wiederholen wir mantramäßig. Aber mehr als das zu wiederholen, als das zu zeigen, können wir nicht. Wenn es nicht wirklich verstanden wird, von den Menschen, die das entscheiden, dann haben wir keine Chance.

Und dann läuft Jazz ja ohnehin noch unter ferner liefen, unter Nischenkultur …

Ja, es ist eine Nischenkultur. Jazz ja sowieso. Genau. Aber es gibt ja auch viele andere Sachen, die eigentlich keine Nischenkultur sein sollten. Und da wird es sich dann zeigen: Geht die ganze Schlagermusik, mit dem Musikantenstadl, als erstes wieder ans Netz? Und wir als letztes? Was ich befürchte. Ich glaube, Almut meinte sogar, nein, wir werden die ersten sein, bei den großen Acts dagegen wird es schwierig. Vielleicht. Das wäre interessant.

Das ist eine interessante These. Aber ich fürchte, ich teile deine Befürchtungen.

Also, es ist ja … Ich glaube, der Pessimismus gehört schon fast so ein bisschen dazu. Aber nichtsdestotrotz sind wir ja hier. Wir machen unsere Musik, jazzahead! stellt das hier auf die Beine, was toll ist, es sind alle da, es haben auch alle Bock – und das ist das Wichtige.

Ich bin gespannt, wie das Format digital funktionieren wird. Wir haben jetzt viel über den Lockdown gesprochen …

Ja.

Kann man sagen, dass „Faun Renaissance“ ein Lockdown-Album ist?

(überlegt kurz) Von der Stimmung, ja. Aber vom Konzept her, nein. Konzipiert wurde es …

… länger her?

Ja. Auf jeden Fall. Also, wir haben es tatsächlich in der Märzwoche aufgenommen, wo am Freitag dann die ersten Maßnahmen beschlossen wurden.

Im März 2020.

Ja. Und geprobt und erarbeitet haben wir das schon Ende des Jahres davor, 2019. Ewig her! Und deswegen ist es vom Konzept her kein Lockdown-Album. Aber es ist sehr interessant, dass mich viele darauf angesprochen haben, ey, du musst das jetzt schon im Winter, im Herbst 2020 rausbringen, das ist so eine starke Musik für diese komische Zeit, in der wir sind … Und das stimmt auf jedem Fall! Aber ich würde mal kühn behaupten, dass ich die Musik auch genauso gemacht hätte ohne Lockdown, mit einem fröhlichen Sommer – weil es einfach die Musik ist, die ich gerne mache.

Die raus musste.

Ja, die musste raus.

Das nehm ich gern als Schlusswort. Vielen Dank für das Gespräch.

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