Klangverführer-Konzertkritik:
A Glezele Vayn machen im Zimmer 16 schönen Unsinn und nebenbei auch noch gute Musik
Eigentlich steht der Abend des 10. Juli unter keinem guten Stern. Deutschland spíelt gegen Uruguay um Platz drei bei der Fußballweltmeisterschaft. Es sind immer noch schwüle Über-Dreißig-Grad. Und zu allem Überfluss ist auch noch Schienenersatzverkehr. Als ich beim Zimmer 16 ankomme, sitzen, abgesehen von den Betreibern, gerade einmal nicht wirklich vielversprechende sechs Mann im Zuschauerraum. Ich treffe die Akkordeonistin der Gruppe, die in Ungarn geborene Szilvia Csaranko, vor der Damentoilette beim Umziehen. Auch ihr ist warm. Gestern hätten sie ein großartiges Konzert in der ausverkauften Petruskirche gespielt, erzählt sie voller Euphorie. Eigentlich klar, dass der heutige Auftritt damit nicht mithalten können wird. So richtig motiviert die Kombination aus Hitze und einer handvoll Publikum jedenfalls nicht zum spielen.
Wir stellen fest, dass wir beide eher schlecht Ungarisch sprechen und wechseln ins Deutsche. Szilvia stellt mich der Band vor, drei sympathischen Jungs, die mir allesamt irgendwo leid tun, dass so wenige gekommen sind sie zu hören. Andererseits kann gerade aus solch familiären, nahezu intimen Situationen ein ganz besonderer Zauber entwachsen. Denn die, die gekommen sind, wollen die Band dann wirklich hören! Ich bin sehr gespannt.
Und tatsächlich ist die Stimmung vom ersten Augenblick an da, als Klarinettist und Zeremonienmeister Achim Rinderle aka Sonic Ahmed das Programm vorstellt: Man wolle ein Best-of-Fangesänge darbieten, begonnen mit traditionellen Südkurven-Liedern der 50er-Jahre, um sich dann zum furiosen Finale mit britischen 80er-Jahre-Hooligan-Songs vorzuarbeiten. Aus dem Publikum ertönt ein gutgelauntes Trööööt. „Vuvuzelas bitte erst ganz zum Schluss“, kommentiert Rinderle trocken, „die sind noch zu Avantgarde!“ Spätestens jetzt hat er uns, und wir bereuen keine Sekunde mehr, für A Glezele Vayn das Spiel sausen gelassen zu haben.
Den Auftakt macht ein rasanter Freylekh, gefolgt vom Anzünden der Sabbatkerzen und Papirossen – alles Klassiker des traditionellen Klezmer-Repertoires. Bei Letzterem wechselt Multiinstrumentalist Jacobus Thiele vom Schlagwerk an die Gitarre und erweist sich als formidabler Gitarrist.
Als Schlagzeuger ohnehin auf den Punkt, hat er mit der ganzen Spielweise an Geschnassel, die ihm zur Verfügung steht, etwas von Adrian Huge von den Tiger Lillies, ich kann mir nicht helfen, er gefällt mir von den Vieren bislang am besten.
Szilvia macht im Moment gemeinsam mit Bassisten Michael Tuttle mehr oder minder die Rhythmusgruppe. Was ich allerdings vom Spiel des Klarinettisten halten soll … Ich weiß es nicht. Er spielt das klassische Repertoire „mit harts un mit gefil“, jedoch ohne krekhs, den zu erwarten mir spätestens Klezmerklarinettist und -dozent Joel Rubin beigebracht hat. Respekt gebührt ihm allerdings allein schon dafür, dass es unter diesen widrigen Umständen überhaupt spielt. Da gibt es andere, die wären gar nicht erst angetreten! Rinderles Konzession an die Hitze allerdings: Der Klezmer-Hut fiel ihr zum Opfer.
Überhaupt der Hut: Der dient bei A Glezele Vayn als eine Art Genre-Indikator. Angetan mit wollenem Alpenhut, gibt es jetzt einen alpenländischen Zwiefachen mit Maultrommelintro und Löffelbegleitung. Mittlerweile sind wir zu siebt, acht, ja: neunt im Publikum, um der „traditionellen alpenländischen Löffel-Battle“ zwischen Rinderle und Thiele beizuwohnen. Es steht Klezmer – Allgäu 3:1, Deutschland – Uruguay besorgniserregende 1:2
Inzwischen hat auch das Akkordeon zum ersten Mal eine tragende Rolle eingenommen, und der vorhin noch vermisste Klarinetten-Krächz hat sich auch eingestellt. Ob die FC-Balkan-Mütze Schuld daran ist?
Mit Song Nummer sieben folgt ein „heißer Bulgar“, und auch wenn Bassist Michael Tuttle erst zum dritten Mal mit den AGV-lern spielt, ist die musikalische Kommunikation zwischen ihm und dem Akkordeon ganz erstaunlich, als wäre er längst Teil des eingespielten Teams, welches A Glezele Vayn wahrhaftig sind! Auch der Sound ist bemerkenswert gut, der Zimmer-16-eigene Tonmeister versteht sein Handwerk.
Eingesprungen: Bassist Michael Tuttle
„FC Odessa gegen Schtetl Amsterdam“, lässt sich Rinderle den Kalauer nicht nehmen, um gleich darauf relativierend nachzusetzen, „wenn das mit dem Fußball nervt, bitte Bescheid sagen.“ – „Bescheid“, tönt es aus den eigenen Reihen, und das aus mittlerweile immerhin elf Mann bestehende Publikum tobt.
Pause. Deutschland schießt das 3:2 und hält es bis zum Abpfiff. Jetzt können A Glezele Vayn getrost weiterspielen! Wobei die Einbeziehung der Live-Stream-Ergebnisse in die Show durchaus auch etwas für sich hatte … Wenn man mal darüber nachdenkt, wie sich auch Bühnenprogramme durch die unmittelbare Reaktion auf Live-Ereignisse verändern! Die Pause wird natürlich auch zum CD-Verkauf genutzt, man will den gestrigen Tag noch toppen, wo siebzehn Exemplare abgesetzt wurden. Mein vorsichtiger Einwand, „Ähem … wir sind aber nur elf“, wird cool gekontert mit einem „Schon an Weihnachten denken, man kann ja auch zwei Exemplare kaufen“; zudem sollte ich mich irren, denn zwischenzeitlich ist das Publikum auf dreizehn Mann angewachsen. Dazu vier Zimmer-16-ler (Oder sind es drei plus ein Lokalreporter? Man weiß es nicht.), vier AGV-ler, und irgendwo muss auch noch ein Hund sein, konnte man zur Pause doch den Ruf vernehmen, „ich muss mal schnell mit dem Hund raus“. Hätte ich Kopfhörerhund also mitbringen können – wenn es ihr nicht zu warm gewesen wäre. Die war heute so geschafft, dass sie sich im Garten ein kühles Erdloch gebuddelt hat und sich weigerte, es wieder zu verlassen.
Da auch uns allen warm ist, wird jetzt die Balladensektion eingeleitet. Bei Jiddishe Hora gibt es mal wieder ein Solo für Akkordeon, und endlich merkt man Csaranko die studierte Pianistin an! Allein ich persönlich bin etwas irritiert: Wir tragen die gleiche Brille und Frisur, haben die gleiche Figur – gibt es etwa ein ungarisches Musik(wissenschaftl)erinnen-Gen? Wie dem auch sei, bei den Balladen ist es mithin so still, dass man das Klappern der Akkordeontasten und der Klarinettenventile hören kann – schön ist das! Jetzt heißt es aufpassen, sonst verliebt man sich in alle vier, möchte sie schrumpfen und im Hosentaschenformat mit nach Hause nehmen, um sie bei Bedarf spielen zu lassen! Dem Publikum aber, das mittlerweile 15 Mann zählt, ist das alles zu traurig. „Spielt was Fröhlicheres!“, fordert es. Und wird prompt mit einer wilden Mitmachnummer samt Kuhglocke belohnt – einem Erbstück von Rinderles Großvater, so die Legende.
Nach einer Nummer Sonic Ahmends, der dort, wo Rinderle ist, natürlich auch nie fehlen darf, gibt es als vielbeklatschte Zugabe das grandiose Stück Klarinettenhass, eine Eigenkomposition Rinderles.
Würde Kreisler Reggae mit Speedpolka machen, dann klänge das genau so:
Mir wird schnell übel von dem Ton
wenn ich ihn höre kotz’ ich schon
es ist der schrille blanke Hohn
ich wär’ so gern ein Saxophon
Wenn ich deinen schwarzen Körper seh’
tun mir die Ohren höllisch weh
ich werf’ dich bald in einen See
weil ich nunmal nicht auf dich steh
Ich spiel viel lieber Saxophon,
das hat nen schönen warmen Ton
und dabei doppelt soviel Phon
da hat der Bauch auch was davon
Doch seit ich diesen schwarzen Stengel hab
da macht mein Ego völlig schlapp
ich krieg auch keine Frauen mehr ab
ich hab das Spielen endgültig satt!
Ich hasse Klarinette
wenn ich bloß keine hätte
Und immer wenn ich spiel
Sagt alles das hat Stil
Ich krieg zu viel, ich krieg zu viel, ich krieg zu viel!
Ich hasse Klarinetten
das gibt’s nix mehr zu retten
Und immer wenn ich Soli mach
Werden primär alte Männer schwach
Was für ’ne Schmach, was für ’ne Schmach, was für ’ne Schmach!
Fazit: Den Abend mit A Glezele Vayn habe ich mir gewissermaßen selbst zum Geburtstag geschenkt. Und es nicht bereut. Im Gegenteil, ich hatte lange nicht mehr soviel Spaß! Wenn Sie also demnächst irgendwo lesen sollten – und mehr als hierhin zu klicken müssen Sie dafür nicht tun –, dass die Kapelle in ihrer Nähe spielt, dann lassen Sie Ihre ursprünglichen Plänbe sausen (ja, selbst wenn es sich dabei um das WM-Endspiel handeln sollte) und gehen Sie hin! Und inzwischen kaufen Sie die CD – die lohnt sich! Da nämlich gibt es den Klarinettenhass mit Quietscheentenbegleitung!
Die CD Feynherb bekommen Sie per E-Mail in der Plattenhandlung von flowfish records – übrigens auch dem Label von Di Grine Kuzine.
Comments (6):
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