Bellen und Miauen im Postbahnhof – und mittendrin ein Regenschirm, -irm, -irm
Aufgrund der großen Nachfrage wurde das Konzert in den FritzClub im Postbahnhof verlegt – und der bietet immerhin bis zu 1200 Besuchern Platz. So viele sind dann zwar nicht gekommen, aber voll ist es doch, als Yael Naim um 21:05 Uhr die Bühne betritt und den Abend als storytelling, pianoplaying fräulein mit My Dreams eröffnet.
Besonders freue ich mich auf den zweiten Song des Abends: auf Yael Naims Version von Rihannas Umbrella. Schließlich hat sie im Klangverführer-Interview im April versprochen, ihn zu spielen. Ihr geniales Toxic noch im Hinterkopf, bin ich seitdem gespannt darauf, auch diesen Pop-Ohrwurm endlich naimisiert zu hören – und werde nicht enttäuscht. Wenn auch komplett anders als bei Toxic gelingt es Yael Naim, den Song bis zur Unkenntlichkeit zu verfremden und sich gleichzeitig zu eigen zu machen. Konnte ich Umbrella im Original nie leiden, wird er mir in Yael Naims Version auch tags darauf nicht aus dem Kopf gehen. Nicht zuletzt kommt schon hier der „Annett-Louisan-Effekt“ zum Tragen: Sängerinnen, die auf ihren Alben eine aus stilistischen Gründen eher zurückhaltende Vokalperformance hinlegen, entpuppen sich live als Besitzerinnen von wahren Chaka-Khan-Stimmen. Erstaunlich. Wer das im Falle von Yael Naim nicht glaubt, sehe sich bitte mal Minute 3:26 bis 3:33 an.
Come Home, die Single des aktuellen Albums, wird dem Berliner Publikum mit einem gutgelaunten David Donatien am Bass-Cajon im Happy-Go-Lucky-Arrangement mit Twist-Einlage präsentiert und gerät wie Händels Messias in der Quincy-Jones-Bearbeitung zu einer „Soulful Celebration“ mit dem Publikum als Gospelchorersatz – klar, dass Naim die Zuhörer spätestens jetzt vollends auf ihrer Seite hat, denn auch hier bewährt sich die alte Bühnenweisheit, dass das Publikum jene Stücke am meisten liebt, bei denen es mitmachen darf!
Allein beim Anblick der Lurex-Socken und wollenen Pulswärmer gerät man ins Schwitzen
Die nächste Nummer, Never Change, wird nicht nur von Naims Gitarristen mit einem klassischen Bluegrass-Intro eröffnet – auch die Sängerin selbst greift zur Gitarre und gibt überzeugend die Country-Bardin. She Was A Boy wiederum besticht – nicht zuletzt dank des schmachtenden Akkordeons – durch sein Pariser Flair mit orientalischen Anklängen. Auch die auf einem Barhocker vorgetragene Nummer Paris, der erste Song des Abends, der von Yael Naims 2008er-Album stammt, bleibt der französischen Leichtigkeit treu. Fast könnte man ihn als klassisches Chanson bezeichnen – wäre da nicht der hebräische Text.
Während sich die Band zurückzieht, intoniert Yael Naim solo am Roland Today, die Mörderballade des aktuellen Albums. Auch ihr 2008er-Album hatte mit Lonely seine ganz eigene Mörderballade – eine tragischer als die andere, was Naim sehr bewusst ist. „Don’t worry“, ruft sie in die Menge, „it will not be sad like this all the time“. Erst einmal aber kämpft der Bühnentonmann auf ziemlich verlassenem Posten mit einer fiesen Rückkopplung, die leider bis zum Konzertende nicht vollständig in den Griff gekriegt wurde. Dann aber hat der Bassist bei I Try Hard seinen großen, weil songtragenden Moment – ganz im Gegensatz zur Album-Version, wo die Nummer eher ruhig vor sich hinplätschert, verfeinert lediglich von ein paar Streichern. Im Live-Arrangement entpuppen sich Naims Songs aber allesamt als wahre Kracher; und wer nur wegen des zarten, plätschernden Albums gekommen ist, soll sich schon bald umgucken!
Die Live-Version von Go To The River beweist, dass ich mit meiner in der fairaudio-Rezension aufgestellten Behauptung nicht ganz Unrecht hatte: Dieser Song mit seinem treibenden „Go go go with the river flow“ ist eine Art Pump It Up für Intellektuelle; und auch Yael Naim kickt ihre Pumps weg.
Mit dem Pumps fallen auch die Haare …
Und wo sie schon einmal so schön am Rocken ist, macht Yael Naim aus Mystical Love ein klatsch-stampfendes We Will Rock You mit russischem Männerchor, das sich mit der Zeit unter Zuhilfenahme von zwei elektrischen Gitarren und vollem Körpereinsatz am Schlagzeug in eine krasse Hardrock-nummer ziemlich dicht an der Grenze zu Heavy Metal wandelt. Und wieder gucken die Plattenkäufer, die das Album in der Adult Contemporary-Ecke entdeckt haben und sich schon an einer ‚zweiten Norah Jones‘ erfreuten, ziemlich dumm aus der Wäsche. Der Gitarrist lässt es sich inzwischen nicht nehmen, den Eddi van Halen zu geben; und Naim selbst erweist sich als formidabler Shouter. Das Publikum tobt.
Auch bei Stupid Goal bleibt man im Metal-Modus – zumindest, was den Gitarristen betrifft. Und je mehr auf der Bühne gezappelt wird, desto augenfälliger ein sympathischer Anachronismus: Alle Mikros und Instrumente hängen noch an Stolperfallenkabeln. Nix mit Wireless, das ist schön! Schön ist auch, wie Stupid Goal zum Virtuosenstück gerät, an dessen Ende selbst die vor Energie berstende Sängerin fix und fertig und komplett außer Puste ist.
Sie sammelt sich bei einer Piano Interlude, die Atmen erst einmal obsolet macht, sich dann aber langsam zu Man of another Woman entwickelt, welches hier allerdings mit dem Text „man from another woman“ gesungen wird und so dem Ganzen noch einmal ein Mehr an Bedeutungsschärfe gibt. Yael Naims musikalischer Partner, der von Martinique stammende David Donatien, spielt die Hi-Hats mit bloßen Händen, als wären es Percussions, was einen großartig gedämpften Effekt hervorbringt. Nichtsdestotrotz glaube ich immer noch, in der zugrunde liegenden Rhythmusstruktur eine Bessarabische Hora zu hören – aber ich kann mich da auch irren.
Auf Game Is Over gibt es wieder ein bisschen Juke-Joint-Honky-Tonk-Klavier, das sich mit einer Elektromandoline paart. Und als Vokalistin beweist Yael Naim hier wieder einmal, dass sie glaszerberstende Höhen zu erreichen spielerisch in der Lage ist, ohne es nötig zu haben, eine Ich-habe-vier-Oktaven-Mariah-Carey-Show daraus zu machen. Wer sie als Sängerin aufgrund ihrer Platten bislang nicht ernst genommen hat, wird live in jedem Falle eines Besseren belehrt.
Von Find Us kursieren viele Ton- und Videomitschnitte im Netz, vor allem von der Ukulelen-Session. Auf ein Album scheint es dieser live schon lange gespielte Song bislang indessen (noch) nicht geschafft zu haben – schade eigentlich, denn Find Us ist ein schwingendes Ding, das mich an die russischen Elemente etwa bei Regina Spektor oder den Tiger Lillies erinnert, und spätestens beim furiosen Finale hat Yael Naim auch den Kritiker zum Rocken gebracht. Und gerade bei diesem Song, wo man die Musikerin in die Tasten greifen sieht, als gäbe es kein Morgen, versteht man auch, weshalb sie schon im zarten Alter von 18 Jahren mit einer Jazzgröße wie Wynton Marsalis auf der Bühne stehen konnte: Weil Yael Naim ein ungeheures musikalisches Talent besitzt, das sie auf ihren Platten im Sinne des Understatements eher verbirgt.
Der fünfzehnte Song des Abends findet sich auf keiner Setlist, denn er dient dazu, die ausufernd solierenden Musiker vorzustellen – ein Text oder Titel sind nicht erkennbar (auch Naim bedient sich ausschließlich nicht-bedeutungstragender Scat-Silben), weshalb wir ihn einfach das französische Ukulelen-Tambourin-Lied nennen wollen. Hier stellt sich heraus, dass der Keyboarder von Yael Naim nicht nur Akkordeon spielen kann, sondern sich auch noch ein eigenes Schlagzeug mitgebracht hat.
Offiziell ist der Abend nach dieser Nummer zu Ende, aber – na klar – es werden noch Zugaben fällig, und zwar in einem intimen Wohnzimmerrahmen. Die Stagehands bauen einen Miniflügel und Xylophone auf, denn NATÜRLICH spielt sie IHN noch. Erst einmal aber kommt Puppet, und ich selbst komme nicht umhin, wieder einmal die Freuden des Bloggertums zu preisen: Während die Kollegen der Tagespresse eingedenk des Redaktionsschlusses schon längst verschwunden sind, nachdem sie ihre Bilder im Kasten hatten, darf ich erleben, wie Naim und ihre Musiker hier schönen Unsinn machen, und auch das Publikum wird zum wechselweisen Bellen und Miauen aufgefordert.
Und dann kommt endlich der Song, auf den alle gewartet haben und den auch diejenigen kennen, die mit dem Namen Yael Naim ansonsten nichts anzufangen wissen: New Soul, das Lied aus der Apple-Werbung, trickreich angekündigt als Song, den sie erst kürzlich geschrieben hätte und der ganz neu sei … Und tatsächlich hat es auch ein paar Takte gedauert, aus dem neuen Arrangement den alten Hit herauszuhören, so sehr wurde er verändert.
Nein, das „Wuff“ bei 2:56 war nicht Kopfhörerhund!
Persönlich gefällt mir diese Version nicht besonders, aber vermutlich ist das komplette Um-Arrangieren von Zeit zu Zeit die einzige Überlebenschance für Musiker, die DIESEN EINEN Song im Repertoire haben, den alle immer wieder hören wollen und den sie wohl bis zu ihrem Lebensende spielen müssen. Auf jeden Fall kann man sich dank dieses Arrangements vorstellen, wie Yael Naims Songs im heimischen Wohnzimmer entstehen, mit den um Miniaturinstrumente versammelten Musikern. New Soul jedenfalls gelingt es, die Energien des jubelnden Publikums geschickt herunterzufahren – und eigentlich müsste der Abend jetzt beendet sein.
Ist er aber nicht, denn Yael Naim und ihre Mannen setzen mit dem ironischen Britney-Spears-Cover Toxic noch einen drauf. Noch einmal wird nach einem verhaltenen Anfang ein fernes Echo des Schwermetalls ausgepackt, und das vorhin auf ein friedliches Nachhausegeh-Level heruntergefahrene Publikum wieder entsprechend aufgepeitscht. So hat sich das Britney Spears sicherlich nicht vorgestellt!
Dramaturgisch vielleicht nicht die schlaueste Entscheidung, denn hiernach gibt es allen Zugabe-Rufen zum Trotz keinen weiteren Song. Dafür aber hat die Menge jetzt genügend Energie, den Kampf mit den Naturgewalten aufzunehmen und sich durch das herunterprasselnde Unwetter auf den Heimweg zu machen. Es ist 22:50 Uhr, Yael Naim hat eine Stunde und fünfundvierzig Minuten gespielt, dabei bis auf If I Lost The Best Thing, der ursprünglich laut Set-List anstelle von Toxic als letzte Zugabe geplant war, alle Songs von ihrem aktuellen Album gespielt, dazu zwei des alten Albums und drei weitere Songs. Wer eine Karte gekauft hat, kann sich wirklich nicht beschweren, für sein Geld zu wenig geboten bekommen zu haben! Ich jedenfalls fühle mich wie nach einem Langstreckenlauf: durchgeschwitzt, vollkommen erledigt – aber sehr glücklich. Und ich glaube, den anderen Menschen im Publikum geht es ähnlich.