Das Evangelium eines jeden Jazz-Liebhabers: die neue Victoriah’s Music ist online
Es ist schon eine sehr akustikgitarrenlastige Ausgabe von Victoriah’s Music geworden, irgendwo im Spannungsfeld zwischen Matura und Materne. Vielleicht liegt das an der Jahreszeit. Immerhin ist das hier kein Baro-, sondern ein Thermometer, aufgenommen am 6. August:
Fluch und Segen des Südbalkons oder: Rezensieren unter erschwerten Bedingungen
Doch selbst wenn der Hochsommer die Zeit der Akustikgitarren sein sollte, wusste mich bis auf jene Finks keine so recht zu überzeugen. Dafür aber gibt es in der aktuellen Ausgabe von Victoriah’s Music endlich die ausführliche Rezension jener Platte, die das Zeug zu meinem persönlichen Album des Jahres hat – und das nicht, weil sie gänzlich akustikgitarrenbefreit daherkommt, sondern weil der biblische Horn-Pop der acht durchgeknallten Schweden einfach mal genau die Portion Wahnsinn hat, die es braucht:
King Oliver’s Revoler, Gospel of the Jazz Man’s Church
„Wo Summer of Girls dem Schließen möglicher Lücken in der persönlichen Diskothek dient, ist Gospel of the Jazz Man’s Church von ganz anderem Kaliber. Um es gleich vorwegzunehmen: Dem Stockholmer Oktett ist es gelungen, das Album zu machen, welches mich in diesem Jahr bislang am nachhaltigsten beeindruckt und mir gleichzeitig den größten Spaß bereitet hat. Ein Album, das bei mir auch privat auf heavy rotation läuft, dessen Songs mich bis in meine Träume verfolgen und gleich morgens beim Aufwachen wieder präsent sind.
Alles andere hätte mich aber auch enttäuscht, denn King Oliver’s Revolver sind eine Errungenschaft des Hauses Waggle Daggle Records – jenem sympathischen Label aus Freiburg im Breisgau, das mir auf der vorjährigen (Pop Up erstmals über den Weg gelaufen ist und mir dieses Frühjahr mit seinem Signing Major Parkinson einen sehr vergnüglichen Abend irgendwo zwischen Rock und Psychose, Schönheit und Groteske, Zirkus und menschlicher Zwiespältigkeit verschafft hat. Kurz: Es war wild. King Oliver’s Revolver nun stehen den irren Norwegern an Wildheit und Zuhörspaß in nichts nach, vorausgesetzt, man bringt eine gesunde Portion Wahnsinn mit, denn ohne den geht bei Waggle Daggle nun einmal nichts.
Nach einem kammermusikalisch instrumentierten Intro, das den Zuhörer in falsche Sicherheit wiegt, startet Tigris By Starlight gleich den Frontalangriff auf die Lachmuskeln: Hier wird kein noch so plattes ägypto-exotisches Klischee ausgelassen, nicht Moses im Weidenkörbchen, nicht der über Bagdad hängende Mond, nicht die pentatonischen Skalen. Von überraschender Schönheit dann aber die Stelle im Refrain, wo sich die Stimmen von Sänger Tobias Klevebom und die Minna Bolins zum Zwiegesang finden, unterlegt von einem zackigen Tangobeat, der in eine mitreißende Swing-Tanzfete gipfelt, um gleich darauf wieder von einer weinenden Geige konterkariert zu werden. Auch wird die schönste Textzeile des Albums bereits hier aufgebraucht: Through pedantry denies, it’s plain the Bible means/That Solomon grew wise while talking to his queens, die auf Yeats’ On Woman aus dessen Gedichtesammlung The Wild Swans at Coole von 1919 zurückgeht, wobei Yeats Salomon noch mit und nicht zu den Königinnen n sprechen lässt. Es kommen aber noch andere schöne Textzeilen; und ganz grundsätzlich schadet eine gewisse Belesenheit nicht beim Hören von Gospel of the Jazz Man’s Church, ebensowenig eine zumindest ansatzweise vorhandene Bibelfestigkeit.
Der nächste Song startet mit einem wilden Honkey Tonk Piano; hier trifft New Orleans-Feeling auf eine ausgelassene Let’s Go To San Fransisco-Parade. Ohnehin honkey-tonkt das Album ganz schön, was die Tasten von Ola Karlsson so hergeben. Salome wiederum ist pures Maroon 5 zu ihren besten Songs About Jane-Zeiten – gerade in den Höhen hat Klevboms Stimme eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Adam Levine –, während sich auf Penelope, dem nächsten Song, Where The Wild Roses Grow mit Still Got The Blues zu paaren scheint. Yelena erinnert mich an die Titel des russisch-jüdischen Ensembles Daniluschka, und hey! acht Jahre Russischunterricht haben sich dann doch ausgezahlt. Der Song könnte problemlos auch auf dem Kosher Nostra-Sampler zu finden sein; und hätten die Typen aus dem Alten Testament Pop gehört, er hätte so geklungen wie der biblische Horn-Pop von King Oliver’s Revolver!
Während I Know A Place Where The Grass Grows High schon sehr nach Elvis Costello klingt, ist ein weiteres Highlight sicherlich On The Day Of Reckoning. Dieses Album vereint einfach alles, was mir an Musik gefällt: Die Rhythmussektion einer hochgepriesenen Tango-Band, eine dreiköpfige Hornsektion und die wahnhafte Performance des Sängers, verrückt gewordene Banjos und rostige Gitarren, ein gequältes Tenorsaxophon und schräge Chöre. Die Musik kann man nur noch im weitesten Sinne als Jazz beschreiben; hier treiben Swing und eine perfekte Imitation überhaupt all dessen, was man sich in den Zwanzigerjahren so unter „exotisch“ vorgestellt hat, ihr Unwesen. Da steht die großinstrumentierte Ballade neben rauschhafter Zirkusmusik, surfigem Klezmer, funky Bläsern und und und.
Um von Gospel of the Jazz Man’s Church ebenso restlos begeistert zu sein wie ich, sollte man einerseits eine Vorliebe für vielköpfige Multiinstrumentalistenkombos à la 17 Hippies mitbringen, andererseits eine Schwäche für Varieté an der Grenze zum Wahnsinn à la Tiger Lillies hegen. Dann aber will während der Hörens das freudige Grinsen nicht weichen – und das, obwohl King Oliver’s Revolver das Kunststück fertigbringen, lustig ohne albern zu sein. Besser als der Plattentitel lässt sich die Musik der Schweden dann auch nicht zusammenfassen: als Evangelium eines jeden Jazz-Liebhabers. Schlicht und ergreifend grandios!“
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Neben Gospel of the Jazz Man’s Church wurden besprochen: