Die Energija-Rakete hebt ab – ich aber will nur noch ins Bett – klangverführer | Musik in Worte fassen

Die Energija-Rakete hebt ab –
ich aber will nur noch ins Bett

Das erste Mal im Pfefferberg war ich 1996, die Location ein heruntergekommenes Abrissgebäude, und ich Bandbetreuerin – nein, das ist bei weitem weniger anzüglich als es klingt: es hat etwas mit dem Aufhängen von Garderobe und Bewachen der Instrumente im Backstag-Bereich zu tun – im Rahmen des vom Deutschen Rockmusikerverband gestifteten Berlin Music Award. Danach haben wir uns irgendwie aus den Augen veroren, der Pfefferberg und ich. An zwei, drei Konzerte kann ich mich noch, wenngleich dunkel, erinnern, danach überließ ich die ehemalige Brauerei samt Biergarten den diversen Sanierungsbemühungen. Das erste Mal im „neuen“ Pfefferberg war ich vorgestern, genauer genommen in einem seiner unterirdischen Teile: dem Bassy Club, wo Joan Wasser alias Joan As Police Woman ihre neue Platte vorstellte.

Und gestern dann gleich wieder. Das ist in zweifacher Weise wie Und täglich grüßt das Murmeltier – gleiche Uhrzeit, gleicher Begleiter, gleicher Ort; und dann sind da auch noch die Freundinnen der Jungs von den Cosmonautix, die, bevor der allgemeine Publikumsverkehr einsetzt, eifrig Tische rücken, Plakate ausrollen und überhaupt alles so machen wie ich vor 15 Jahren, während durch eine Tür die Klangfetzen des Soundchecks – genauer: eine Trompete. Eine Trompete? Seit wann gibt es bei den Cosmonautix Bläser? – zu hören sind. Manche Abläufe ändern sich eben nie.

Mr. Bassplayerman trifft ein, genau so übermüdet vom gestrigen Konzertabend wie ich auch, und mindestens genauso überarbeitet. Ja, ich habe mal geschrieben, Radiokonzerte seien schon allein deshalb so toll, weil sie pünktlich über die Bühne gehen müssen und man selbst beizeiten ins Bett kommt. Leider haben wir da vorgestern etwas falsch gemacht. Nach Konzertschluss war es einfach noch so früh, dass der angebrochene Abend dringend noch nach Weiterziehen schrie. So etwas geht meistens böse aus, und das ist es auch diesmal … Und da Arbeitstiere, saßen wir gestern trotzdem um neun schon wieder hinter unseren Schreibtischen. Unsere Verfassung kann man sich also vorstellen, denn wir sind beide keine zwanzig mehr! Wenn einen die Freundin eines Musikers dann auch noch anfängt zu siezen, ist endgültig klar, dass man die magische Altersgrenze überschritten hat. Da hilft auch meine bevorzugte Sündenausbesserungscreme „Anti-Müdigkeit“, die laut Hersteller gegen „Stress, Wechsel der Jahreszeiten und unruhigen Lebensstil“ wirkt, wohl nur noch bedingt …

Alldieweil sorgt der eigens aus Australien eingeflogene DJ Delay mit allerlei Balkantronika (Reinhören? Ein Free Set gibt es hier) und vor allem guter Lautstärke für ein erstes Wiedermunterwerden. Gegen neun dann der Auftritt vom „Unterweltbarden“ Ganef aus Odessa mit seinem „Ganoven-Chanson“, auf dessen Homepage auch ein sehr nett anzuschauendes Hundetier sein (Un-)Wesen treibt:

Ein zweiter Gainsbourg möchte Ganef sein, klingt dann allerdings doch eher nach Wolf Biermann. Wogegen ja auch gar nichts zu sagen ist. Vor fünfund-
dreißig Jahren wäre er unter Studenten sicher toll angekommen, der Mann mit der kratzigen Stimme und der im Gegensatz dazu supersmooth angeschlagenen Gitarre. Konzertmusik ist das allerdings nicht, eher etwas für eine gesellige Runde unter Freunden, wo es Bier gibt, und irgendwann holt dann einer die Gitarre raus. Ich ertappe mich trotzdem dabei, wie ich bei seinem Lied vom Einsamen Wolf ein bisschen heule; ich denke an Kopfhörer-
hund, und der – wie es sich für das Genre gehört – tragisch endende Wolf
tut mir leid. Ich muss wirklich sehr müde und sehr überarbeitet sein.

Eine Stunde später dann kommen die Wiener Niftys, die laut PR „Klezmer-Dub“ machen. Mich allerdings erinnert ihre Musik an die H-Bloxx, die sich im Spielen von Begräbnismärschen versuchen. Von mir aus auch an Nu Metal-Balkan oder Nu Balkan-Metal. Wenn der Manager hier von einer „schwierigen Mischung“ spricht, untertreibt er schamlos. Denn egal wie gut sie sind – und insbesondere der Schalgzeuger und der Bassist sind gut; selten habe ich ein so präzises Timing gehört! -, sie sind vor allem laut und lang. Aber wenigstens hat sich das Rätsel der Trompete vom Soundcheck gelöst – die spielt hier. So sehr ich Balkan Brass ansonsten liebe, so sehr leide ich unter den Niftys – was ich umso mehr bedaure, da ihr extrem hübscher Bassist ein bisschen aussieht wie lecker Adam Levine von Maroon 5. Auch Mr. Bassplayerman leidet. Wir sind beide inzwischen so genervt, dass wir einfach nur noch raus wollen. Die Befürchtung: Egal wie toll die Cosmonautix jetzt spielen, wir werden sie nicht mögen, da mittlerweile jeder Ton einer zu viel ist. Himmlische Ruhe wäre jetzt herrlich – so eine Band sind die Niftys. Sie haben es sogar geschafft, dass sich zwei ansonsten ziemlich tolerante und aufgeklärte Wesen mittlerweile in – wenngleich harmlosen – Österreicherwitzen üben, nach dem Motto, dürfen die hier überhaupt spielen? Bzw. wahrscheinlich fand man sie in Wien so schrecklich, dass man sie einfach abgeschoben hat, die Berliner zu quälen. Schlimme Musik. Ganz schlimme Musik.

Die frische Luft und der Veggieburger auf Blumenkohlbasis – man weiß, dass man im Prenzlauer Berg ist, wenn der nächstgelegene Imbiss so etwas anbietet – helfen gegen den Klangschock. Sogar Mr. Bassplayerman, der wirklich abgenervt ist, lässt sich noch einmal zu einer Rückkehr zum Konzertgeschehen überreden. Da spielen jetzt, kurz nach dreiundzwanzig Uhr, endlich endlich die Cosmonautix.

Diesmal mit einer schicken Elektofidel und einigen neuen Stücken – und natürlich wie nicht anders zu erwarten sehr gut und sehr lustig. Selbst Bassplayerman freut sich, doch noch mal zurückgekommen zu sein. Besonders die Bassbalalaika hat es ihm angetan, und gemeinsam rätseln
wir, ob das Ding trotz Dreisaitigkeit in Quarten gestimmt ist. Tja, hätte ich mal in Instumentenkunde besser aufgepasst! Zu meiner Ehrverteidigung sei gesagt, dass Instrumentenkunde ein Wahlpflichtfach war und ich dessen Alternative, Elektroakustik, belegt habe. Bassplayerman kommentiert trocken: „Heißt also, dass du eins davon gar nicht kannst …“

Ob nun die These zutrifft, je weniger Saiten, desto größer das Stimmintervall, oder in diesem Falle eben nicht, werden wir zumindest an diesem Abend nicht mehr erfahren, denn leider war es keine gute Idee, bei einem Konzert mit drei, zählt man den DJ mit, sogar vier Acts ausgerechnet die letzte Band sehen zu wollen. Nicht, wenn einem noch die Konzertnacht davor in den Knochen steckt. Das ist ohnehin das Problem dieser sogenannten Labelnights, die schnell in konditionszehrende Mini-Festivals ausarten: Der Act, den man sehen will, spielt zum Schluss, und vorher muss man sich noch durch die B- und C-Acts des Labels quälen … Mr. Bassplayerman jedenfalls macht um halb zwölf schlapp. Ich selbst halte mmerhin bis Mitternacht durch, dann rufe auch ich mir ein Taxi. Die Show sehe ich nicht mehr bis zum Ende, und ich mag gar nicht daran denken, dass DJ Deelay auch noch zur Aftershowparty bittet. Wer hält so einen Marathon denn durch?

Ganz einfach: die nächste Generation. Mag sein, dass ich für so etwas mittlerweile gut fünfzehn Jahre zu alt bin, aber die Nachfolger jenes Publikums, die damals zu den Klängen der Grinen Kuzine groovten, feier- und tanzwütig bis in den Morgen, hebt richtig ab. Da wird Polka oder das, was man in Berlin dafür hält, getanzt. Der ganze Saal ist ein einziges Auf- und Niederhopsen. Band und Publikum haben am nächsten Tag vermutlich fünf Kilo abgenommen …

Es ist einfach immer wieder erstaunlich zu sehen, wie die Cosmonautix die ganze Zeit in Bewegung sind, wie die Flummis, und dabei noch überaus akzeptable Töne produzieren! Wie lange muss man trainieren, um für so eine Show fit zu sein? Und dann noch die Ganzkörperanzüge und die Pelzmützen … Vermutlich heißt ihr Debütalbum nicht umsonst Energija. Nicht nur die Cosmonautix scheinen Energie ohne Ende zu haben – die braucht man auch im Publikum. Ich habe sie nicht mehr aufbringen können. Liebe Cosmonautix, dass ich in diesem Zustand überhaupt aus meinem Loch gekrochen bin – das mach ich nur für Bands, die ich richtig, richtig mag. Spielt doch das nächste Mal samstags, Jungs, dann kann ich – wie als Kind zu Silvester – vorschlafen. Oder einfach früher, und auch Euer Publikum Mitte/Ende dreißig wird dann durchhalten …

Fazit: Mit Achim Rinderles Zen-Klarinette hätte ich für diesen Abend die passendere Wahl getroffen …

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