Jazz in the City. Interview mit der IG Jazz Berlin zur Jazzwoche
Der Jazz in Berlin ist Weltklasse – die Arbeitsbedingungen der Musiker sind es nicht. Die Jazzwoche Berlin, die auf das Besondere im Normalen abhebt, will das ändern. Wie genau, haben mir Kathrin Pechlof und Bettina Bohle von der IG Jazz Berlin für das am 13. Juni erschienene Stadtmagazin Tip verraten. Da dort aber nur ein Bruchteil unseres Gesprächs angerissen werden konnte, gibt es das ganze Interview hier. Neben der unzureichenden Jazz-Infrastruktur Berlins widmen wir uns der ewigen (und wohl ewig unbeantwortet bleibenden) Frage, was Jazz eigentlich ist, was die Interessen dieses Genres, das von meinen Gesprächspartnerinnen als Kunstmusik verstanden werden will, sind – und der Faszination einer Musik, die im Moment entsteht und den, der dabei ist, für immer verändert.
Victoriah Szirmai: Berlin hatte gerade von Mittwoch bis Sonntag mit dem XJAZZ-Festival fünf Tage voller Jazz mit Besucherrekorden … Es scheint ja nun nicht gerade so zu sein, dass Jazz hier in der Stadt noch nicht angekommen wäre. Wozu braucht es dann noch eine Jazzwoche?
Kathrin Pechlof: Das ist vollkommen richtig, der Jazz ist schon längst da. Und findet statt an sehr vielen verschiedenen Orten – und in einer sehr hohen Qualität, die auch international wahrgenommen wird und Impulse setzt, die weit über die Stadt hinausgehen. Das sieht man an Kooperationen und wie Veröffentlichungen von Berliner Musikern wahrgenommen werden und so weiter. Aber dadurch, dass es keine zentrale Institution, also keine große Spielstätte gibt und alles sehr kleinteilig über die Stadt verteilt ist, bleibt das irgendwie immer auf so einem bestimmten Level, was die Kommunikation in die Stadtgesellschaft betrifft. Die Konzerte finden in kleinen Cafés statt, in Clubs, wo die Reichweite über den Kiez und die eigene Facebookfilterblase nicht hinausgeht. Dass wir darüber hinauskommen, ist unser Anliegen mit dieser Jazzwoche. Um eben mal einen Fokus draufzurichten: Was passiert eigentlich die ganze Zeit schon in der Stadt? Es ist ja auch kein kuratiertes Festival im Sinne von „Wir haben jetzt mal die tollsten Leute zusammengestellt“, sondern wir zeigen … also, es wird in dieser Woche gezeigt, was *immer* passiert!
VSz: Wenn Sie sich jetzt eine Woche herausgegriffen haben, in der Sie zeigen, was ohnehin da ist – woher weiß dann die Stadtbevölkerung: Das ist jetzt die Jazzwoche? Wie wird es zur Jazzwoche, wenn sie das, was da ist, von „unter dem Radar“ auf den Radar heben wollen?
KP: Also ganz einfach: Indem man es so benennt. Und so auch gebündelt präsentiert. Und es medial auch mal mit einer anderen Wirksamkeit vermittelt. Da gibt es eine PR-Agentur, die sich darum kümmert, es gibt ein Logo und eine Webseite im Field-Notes-Magazin. Es ist ganz neu, dass der Jazz in die Field Notes reingenommen wurde. Das Narrativ ist: Wir zeigen das, was schon da ist, nur auf eine Art, dass es eben auch Mal aus einer größeren, einer erweiterten Perspektive gesehen wird. Dazu haben wir aber auch noch ein Rahmenprogramm mit verschiedenen Diskussionsveranstaltungen, wo wir Themen behandeln, die uns relevant erscheinen.
VSz: Apropos Programm: So ein Booking braucht ja immer etwas Vorlauf. Wann wussten Sie, genau da wird die Jazzwoche stehen, wann wussten es die Clubs?
Bettina Bohle: Wir haben tatsächlich letzten Sommer angefangen, das zu vermitteln. Wir werden ja über die Senatsverwaltung für Kultur und Europa gefördert. Als wir den Antrag eingereicht haben, haben wir sofort kommuniziert, dass diese Woche – abhängig von der Förderung – eventuell stattfinden wird, und haben den Veranstaltern vermittelt: Schaut, dass das Programm, das ihr in dieser Woche fahrt, für euer Profil aussagekräftig ist. Gleichzeitig muss man aber wirklich sagen: Das Programm ist tatsächlich einfach *immer* so hochkarätig, man muss sich da gar nicht besonders ins Zeug legen! Man könnte jede beliebige Woche herausgreifen und sie ist immer hochkarätig. Das ist genau der Punkt der Jazzwoche.
KP: Es ist jetzt auch nicht so, dass sich alle Clubs darauf fokussiert haben. Viele hatten tatsächlich ihr Programm für die Woche auch schon gebucht. Es hat eine Weile gedauert, bis klar war, welche Woche es denn sein wird. Es gab so viele verschiedene andere – auch logistische – Faktoren, die beim Finden eines geeigneten Zeitpunktes eine Rolle spielten – und da war bei vielen das Programm einfach schon gebucht. Auch darum glaube ich, kann man guten Gewissens behaupten, dass das ein echter Ausschnitt ist. Es ist jetzt nicht so, dass die auf einmal alle gesagt haben: Ah, jetzt nehmen wir diese Woche mal ganz viel Geld in die Hand und bezahlen einen tollen Star.
VSz: Es bildet ab, was passiert.
KP: Ich finde, wenn man sich das Programm anschaut, ist es eine total gute, authentische Mischung. Es ist jetzt keine PR-Masche oder so, sondern hier passiert, was sonst auch passiert.
VSz: Sie sagen so oft „wir“: Wir mussten gucken, einen Termin zu finden, werden gefördert … „Wir“ ist in diesem Falle die IG Jazz, richtig?
KP: Die IG Jazz Berlin, ja.
VSz: Warum ist die Entscheidung gerade auf diese Woche, die ja gefährlich nah am Sommerloch ist, gefallen? Logistische Gründe?
BB: Also, ein wichtiger Faktor war die Verleihung des Jazzpreises Berlin an Axel Dörner.
VSz: Der generell an diesem Tag oder in dieser Woche verliehen wird?
BB: Der meistens im Juni verliehen wird. Und dann spielten verschiedene andere Faktoren eine Rolle, welcher Tag genau ausgewählt werden sollte und die wir versucht haben, abzustimmen. Wir haben wirklich sehr lange darüber nachgedacht, was ein guter Termin ist. Man wird wahrscheinlich nie einen finden, der allen passt, aber … ja.
VSz: Es ging darum, die Woche mit dem Jazzpreis auszusuchen …
BB: Das wollten wir sehr gerne, ja. Weil wir den Preis auch ursprünglich initiiert haben und deshalb schon finden, dass er dazugehört.
KP: Es ist eine sehr wichtige Einrichtung für die Berliner Szene, dass es ihn gibt. Er wird ja schon zum dritten Mal verliehen …
VSz: Wer waren die letzten Preisträger?
BB: Gebhard Ullmann war der erste Preisträger, dann die Pianistin Aki Takase – und dieses Jahr eben der Trompeter Axel Dörner.
VSz: Und das fand bisher auch im jährlichen Rhythmus statt, also 2017, 2018 und jetzt 2019?
BB: Richtig.
KP: Genau. Und das ist gerade dabei, sich zu etablieren. Es ist für die Szene total wichtig – und auch für die Außenwirkung. Darum war auch klar, dass die Preisverleihung in der Jazzwoche mit drinsein muss. Natürlich hat aber der RBB, der den Preis ausrichtet, auch wieder eigene Zwänge, Dinge wie: wann ist der Saal frei, wie kann das mit dem sonstigen Programm vereinbart werden … Außerdem sollte die Jazzwoche nicht zu nah an XJAZZ sein, und dann musste auch der Vorlauf lang genug sein, es hatte also einfach technische Gründe.
VSz: Die IG Jazz, die den Jazzpreis Berlin initiiert hat – versteht die sich als Interessenvertretung aller Jazzmusiker in Berlin oder ist das ein Verein, der nur die Interessen seiner Mitglieder vertritt? Was genau macht die IG Jazz?
BB: Also, die IG Jazz Berlin steht für die gesamte Berliner Jazzszene. Nicht nur für die Musiker, sondern auch die Veranstalter und Veranstalterinnen, für alle, die sich in dem Bereich Jazz und improvisierte Musik bewegen. Auch Journalisten. Und wir vertreten nicht nur die Interessen unserer Mitglieder, sondern wir versuchen, einfach die gesamte Szene mitzunehmen. Das zeigt sich auch in der Jazzwoche, die sich natürlich nicht nur an die Mitglieder der IG Jazz richtet … Fokus unserer Arbeit ist die Verbesserung der Arbeitsbedingungen.
VSz: Interessenvertretung heißt also in erster Linie Vertretung der wirtschaftlichen Interessen?
KP: Also, eigentlich vertreten wir die Interessen des Genres.
VSz: Welche Interessen hat das Genre denn?
KP: Dass diese Musik überhaupt eine Möglichkeit hat, stattzufinden. Auf diesem Level bewegt sich das im Jazz leider häufig. Dass es darum geht: Wie kann es überhaupt möglich sein, dass diese Musik zu angemessenen Arbeitsbedingungen produziert und aufgeführt wird. Und auch eine angemessene Aufmerksamkeit findet. Das ist ja auch so eine Frage: Da finden die tollsten Sachen statt, und niemand kriegt das mit! In der Stadt. Auf den ganzen internationalen Festivals schon, da wird man dann als Berliner Musiker total gehypt – aber hier merkt es keiner. Und grundsätzlich auch die Möglichkeit zu schaffen, dass sich diese Musik weiterentwickelt. Das ist ja keine statische Musik wie zum Beispiel klassische Musik. Jazz ist eine Musik, die sehr stark im Prozess ist. In einem Arbeitsprozess ist. Die auch Zeit braucht. Die Raum braucht für Entwicklung. Die auch mal einen Irrweg gehen muss. Dieser künstlerische Prozess, der braucht Raum, also tatsächlich physischen Raum in Form von Arbeitsräumen, und der braucht aber auch Geld und Ausstattung. Insofern vertreten wir die wirtschaftlichen Interessen, weil man halt einfach Geld braucht, um Dinge stattfinden lassen zu können, aber wirtschaftlich im Sinne von profitabel – davon sind wir weit entfernt! Also, viele von uns. Und das ist auch eigentlich gar nicht unser Fokus, sondern es geht uns darum, eine Identifikation zu finden: Was ist das eigentlich, Jazz? Wer fühlt sich da zugehörig? Und das ist sehr heterogen bei unserer Mitgliedschaft, da sind Leute aus der improvisierten Musik dabei, aus der Echtzeit, da sind Musiker dabei, die total traditionellen Jazz machen … Es ist sehr, sehr vielfältig! Wir haben aber auch Veranstalter dabei. Uns geht es eher um das Ganze, da macht es eher keinen Sinn, so eine Grenze oder so eine Polarität aufzumachen zwischen Musikern und Veranstaltern. Wir sind alle in einem Boot! Den Musikern geht es gut, wenn es den Veranstaltern gut geht.
BB: Vielleicht kann man dazu auch noch ergänzen, dass wir Jazz tatsächlich inzwischen sehr stark als Kunstmusik verstehen. Das hat sich so entwickelt, dass das eigentlich so … so anspruchsvoll ist und so avantgardistisch, in Teilen zumindest, dass es auf jeden Fall gefördert werden muss, weil es nie … zumindest in Teilen … nie eine Wirtschaftlichkeit erreichen kann, wo sich die Veranstalter oder die Musiker rein über Publikumszuspruch tragen können. Deswegen treten wir sehr stark für Förderung in den verschiedenen Bereichen – also: Künstlerförderung, aber eben auch Veranstalterförderung – ein. Wir treten insbesondere für eine Basisförderung für Jazzorte ein, weil es da bisher noch überhaupt keine Förderung gibt und man merkt, es gibt keine Art von professioneller Möglichkeit, Veranstalter zu sein. Die meisten machen es nebenher als Hobby – die machen das sehr engagiert, aber es reicht wirklich hinten und vorne nicht. Und das setzt sich dann fort, dass eben auch die Musiker nicht richtig auf ihre Kosten kommen. Deswegen sehen wir das immer als ganzes System, wo der Jazz zu seinem Recht kommen soll als Kunstmusik, die gefördert gehört.
VSz: Kunstmusik als Gegenteil zu populärer Musik?
KP: Ja, zu Unterhaltungsmusik. Es gibt ja diese unselige Trennung zwischen U und E, und da ist der Jazz ins U eingeordnet und wird dann gern auch mal in Verbindung mit Jazz, Rock & Pop gebracht …
VSz: So heißen ja auch die Studiengänge. Ich hab tatsächlich noch „Jazz, Rock & Pop studiert“, jetzt heißt es der Einfachheit halber „Popular Music Studies“ …
KP: Genau, das begegnet uns an ganz vielen Ecken. Und das ist auch so ein Ding, wo wir versuchen, diese Identität als Kunstmusik in den Vordergrund zu stellen.
VSz: Jazz als E-Musik, also.
BB: Am besten wäre es, diese Unterschiede aufzuheben. Es gibt auch avantgardistische Pop-Musik, die sich auch nicht als U-Musik verstehen würde.
KP: Genau, aber der Jazz hat sich halt jetzt schon, sagen wir: mehrheitlich wegentwickelt von diesem Bild, wie das in den Fünfzigerjahren war.
VSz: Easy Listening, Swing, Bigband?
KP: Naja, wo er sozusagen einfach eine Unterhaltungsmusik und Tanzmusik war. Also, eine Bigband, das waren ja viele Musiker, damit es laut ist, damit man in einem großen Raum tanzen und sich unterhalten lassen kann. Das ist dann natürlich spezieller geworden, aber das ist sozusagen diese Ur-Bild. Und die Realität heute ist, dass sich das davon total wegentwickelt hat. Es ist eine Musik, die ist zum Teil extrem leise …
VSz: Konzertant.
KP: Ja, konzertant. Die braucht einen Konzertraum, da kann nicht nebenher die Kaffeemaschine angehen [Anspielung auf die aktuelle Interviewatmosphäre, die ständig von der Kaffeemaschine getrübt wird]. Ein großer Teil des Genres entwickelt sich in diese Richtung, das hat auch mit der Ausbildung zu tun, wir haben jetzt wahnsinnig viele Studiengänge an den Hochschulen, wo Leute akademisch ausgebildet werden. Man lernt heute nicht mehr, indem man in der Band von jemandem jahrelang mitspielt und dann plötzlich Meisterschüler ist. Durch diese Akademisierung hat der Jazz auch eine Intellektualisierung erfahren.
VSz: War Jazz nicht schon immer, zumindest zum Teil, Musik für Intellektuelle? Wir sprechen jetzt nicht von Hot Jazz, von New Orleans Jazz, sondern davon, was hier in Europa stattfindet. Das ist doch das Klischee, das die meisten Leute mit Jazz verbinden: Der gutsituierte, ältere Akademiker gießt sich einen Whisky ein, zündet sich eine Zigarre an und legt genüsslich eine ECM-Platte auf seinen teuren Plattenspieler …
KP: Den gibt es auf jeden Fall! Aber es gibt, Stichwort XJAZZ, auch Bestrebungen, dem wieder genau entgegenzuwirken. Klar ist, dass es einfach unglaublich vielfältig ist.
BB: Es kommen ja auch ganz viele junge Leute zu den Konzerten, wie man bei XJAZZ sieht oder im Donau 115. Es entwickelt sich ja auch weiter.
VSz: Sie haben, Stichwort Jazz als Kunstmusik, schon anklingen lassen, was Jazz für Sie ist. Was ist Jazz heutzutage? Was ist moderner Jazz heutzutage? Die Pressemittelung spricht davon, dass dies eine der Fragen sein wird, die auf der Jazzwoche aufgeworfen werden.
KP: Ja, also, diese Frage – ich kann die jetzt eigentlich nicht beantworten. Da gibt es auch keine Antwort drauf.
VSz: Die IG Jazz hat auch keine Antwort?
KP: Auf gar keinen Fall! (alle lachen) Wir wollen uns da eigentlich auch so ein bisschen raushalten, wir wollen ja keine bestimmte Klientel besonders vertreten – aber wir finden diese Frage relevant. Und deswegen werfen wir die auf diesem Panel auf. Weil es natürlich schon eine Sache ist, die man diskutieren muss: Wie ist das Selbstverständnis, wie das in der öffentlichen Wahrnehmung? Da kommt dann nämlich auch die Frage ins Spiel, welche Segmente des Jazz es eigentlich aus dieser Nische heraus schaffen. Wie das vermittelt wird, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, was findet da statt, wenn Jazz überhaupt im Fernsehen stattfindet, wie ist die Rolle der Rundfunkanstalten … Das gehört alles dazu, und diese Frage nach dem Narrativ, was der Jazz heute eigentlich ist, die ist total wichtig. Die spielt natürlich auch für unsere Arbeit eine Rolle, die spielt aber auch für die Musik selbst eine Rolle. Dem wollen wir versuchen, so ein bisschen nachzugehen, so ein bisschen zu sortieren, aber ich erwarte jetzt eigentlich nicht, dass es danach eine abschließende Antwort gibt.
VSz: Es gibt ja diese beiden Extreme. Einerseits die „Jazzpolizei“, die fragt, was an Kate Tempest auf XJAZZ denn jetzt Jazz gewesen sei, die also behauptet, durch die XJAZZisierung von Jazz – wenn man sagt, alles ist Jazz – werde Jazz beliebig, und die andere Seite, die sagt, tatsächlich ist alles Jazz, weil Jazz eigentlich immer die moderne Musik war, die alle aktuellen Einflüsse aufgreift und absorbiert … Also, zwischen diesen Polen bewegt es sich.
KP: Genau. Als Musikerin würde ich jetzt antworten, ein ganz wesentliches Element vom Jazz ist die Improvisation. Und das ist für mich schon mal zumindest ein Kriterium, wo man ansetzen kann.
VSz: Das heißt, wenn ich mich jetzt hinsetze und den Real-Book-Standard so singe, wie er da steht, ist das kein Jazz.
KP: Doch natürlich, da wird eine andere Verbindung aufgemacht.
BB: Also, ich komme ja von außen, aus der klassischen Musik und bin selber gar keine Musikerin … Was mich wahnsinnig fasziniert hat an den Leuten, die in der Jazzszene unterwegs sind, war, dass die wahnsinnig gut ausgebildet sind, wahnsinnig viel Wissen über Musik haben und dann daraus eigene Antworten darauf finden. Man merkt einfach, dass die mit dem harmonischen, dem melodischen Material ganz, ganz frei umgehen können, das hat mich wahnsinnig beeindruckt.
VSz: Virtuosentum als Kriterium?
BB: Naja, die technischen Grundlagen schon, aber dann eben dann auch wieder, sie ganz minimalistisch einsetzen zu können. Es geht um dieses Verfügen über den Bereich, über den musikalischen Bereich und das Material, und damit dann ganz verschiedene Lösungen zu finden, was es dann heißt, aktuelle Musik zu machen.
KP: Also eigentlich auch diese Variabilität, mit Material umzugehen. Und das unterscheidet uns jetzt auch von dieser Form von Popmusik, die da gern in der Nähe assoziiert wird. Da ist es doch klar, wie die Form ist, und dann spielt man die einfach. Und das klingt dann jeden Abend gleich …
VSz: Oder zumindest sehr ähnlich …
KP: … und was den Jazz in seiner Gesamtheit ausmacht, so würde ich das jetzt als Musiker definieren, dass es genau nicht vorgegeben ist. Man hat musikalisches Material, und das klingt mit den einen Leuten so, und mit den anderen wird es völlig anders ausgearbeitet – im Moment!
VSz: Kommunikation, die im Moment stattfindet, quasi.
KP: Genau, Kommunikation im Moment. Sozusagen in Echtzeit einen musikalischen Verlauf schaffen, eine Form schaffen, eine Dramaturgie schaffen, die jedes Mal eben komplett anders ist. Und das ist eben das, was Jazz für mich ausmacht. Ob das jetzt mit Beats ist oder ohne oder mit welchen Instrumenten, das spielt gar nicht so eine Rolle, aber diese Offenheit in der Binnenstruktur. Trotzdem würde ich, um auf die Frage zurückzukommen, jetzt auch nicht sagen, dass es verboten ist, wenn bei XJAZZ jetzt Pop-Acts auftreten. Dieses X steht ja auch für etwas, das da noch dazukommt.
VSz: Ist das so? Ich dachte immer, das X stünde für Kreuzberg …
BB: Es ist eine der Deutungen, sagen wir mal so. In der Szene wird es aber eigentlich schon als Jazz plus X wahrgenommen.
VSz: Der X-Faktor!
BB: Genau, der X-Faktor beim Jazz.
KP: Das ist ja auch sein Wesensmerkmal: Er ist immer eine Art Melting Pot.
VSz: Dass er zu Pop ebenso Berührungen hat wie zur Neoklassik, beispielsweise.
KP: Ganz genau. Und genauso zur Elektronischen Musik, zur zeitgenössischen E-Musik, zu folkloristischen Musiktraditionen der ganzen Welt und noch vielem mehr. Und das war ja historisch auch immer so. Er hat sich ja immer schon von verschiedenen Musikgenres inspirieren lassen und war immer schon eine Vermischung von etwas. Das hat sich herausgeschält, das hat sich elaboriert, das wurde wieder aufgegriffen von anderen Musikern, die haben es wieder transformiert … Also, Jazz ist quasi eine Musik, die in ständiger Transformation begriffen ist. Und ein Wesensmerkmal unserer heutigen Zeit ist ja dieses aus-dem-Elfenbeinturm-raus, Demokratisierung, soziale Medien und so weiter, da passt das eigentlich gut dazu. Was ich meine, ist diese Abkehr davon, so streng in Schubladen zu denken und die Dinge einordnen zu wollen, das vermischt sich eher.
VSz: Ist es aber nicht ein Grundbedürfnis von Menschen, vom Publikum, Dinge irgendwo einordnen zu können, um sich gut und sicher zu fühlen? Weil es erschreckt, wenn ich Dinge nicht einordnen kann?
KP: Aber das ist ja die Aufgabe von Kunst, die Menschen dazu zu bringen, sich zu öffnen. Weil … wenn man das immer bedient, dann bedeutet das ja pure Stagnation! Dann ist ja eine Weiterentwicklung unmöglich! Damit das sich alles weiterentwickeln kann, ist ja auch diese Auseinandersetzung nötig, und da muss es dann auch manchmal weh tun, oder da gibt es dann auch manchmal Leute die sagen, hey, das hat darin gar nichts zu suchen, das darf nicht sein.
BB: Für mich war gleich von Anfang an dieser Live-Aspekt wahnsinnig wichtig, wo Musik wirklich in dem Moment selbst entsteht. Es gibt ja viele Jazzmusikerinnen und Jazzmusiker, die auch komponieren, die gehen dann auch von dem komponierten Material aus und trotzdem klingt da kein Konzert wie das andere! Das hat auch mit dem Publikum zu tun, das hat mich von Anfang an wahnsinnig fasziniert, dass man selbst quasi Teil dieser Musik wird. Das wurde mir später auch berichtet von den Musikerinnen und Musikern, aber ich hab das auch gleich von Anfang an gespürt, dass man in diesem Raum auch gemeinsam ist und gemeinsam etwas erlebt. Und gleichzeitig gefiel mir immer … was natürlich für die Musikerinnen und Musiker auch ein bisschen schwierig ist … dass ich da meinen Wein auch trinken kann. Dass es da nicht so steif ist, dass man das Gefühl hat, man kommt in etwas, wo man die Regeln noch nicht richtig versteht, dass man gar nicht teilhaben darf. Ich finde, die Hemmschwelle ist … war für mich beim Jazz relativ gering. Ich hatte immer dieses Gefühl, Jazz ist auch etwas Suchendes, etwas Anbietendes, wo alle gemeinsam dabei sind. Das hat mich wahnsinnig fasziniert.
VSz: Wir haben jetzt über diese (Stil-)Offenheit gesprochen, die sich eben nicht in Schubladen stecken lässt und vielleicht auch Leute erschrecken, wenn nicht gar abschrecken könnte – haben Sie da nicht die Befürchtung, dass vielleicht die Leute, die ohnehin schon so ein offeneres Mindset haben, sich eher angesprochen fühlen, oder, umgekehrt gefragt, wie soll denn der Jazz, was auch immer „der“ Jazz jetzt ist, in die breitere Masse gebracht werden? Wie hat die IG Jazz oder die Jazzwoche es vor, den Jazz auf den Radar des jetzt vielleicht nicht schon von vornherein für das Genre offenen Hörers zu bringen?
KP: Naja, erst einmal, indem wir überhaupt feststellen, dass er da ist. Weil ich glaube, ganz oft wissen die Menschen einfach gar nicht, dass Jazz stattfindet. Die kennen die Orte nicht, und ehrlich gesagt, muss man in Berlin wirklich ziemlich tief drin sein in der Szene, weil angesichts dieser zunehmenden Gentrifizierung und der daraus entstehenden Raumproblematik die Orte oft wechseln, verschwinden, wieder neu auftauchen …
VSz: Wenn man jetzt von Klassikern wie A-Trane oder B-Flat oder Quasimodo absieht …
BB: Daneben gibt es ja noch wirklich viele kleine! Wir reden hier von fünfundvierzig Clubs, die teilnehmen.
KP: Ja, da weiß ich dann selbst nicht … wenn mich jemand anruft, der in die Stadt kommt und fragt, wo soll ich denn heute Abend hingehen, dann muss ich selbst erstmal auf verschiedenen Webseiten gucken und überlegen, ach, gibt es den und den Club überhaupt noch?
BB: Deswegen ist diese Field-Notes-Erweiterung total wichtig. Dass es jetzt einen zentralen Anlaufpunkt gibt.
KP: Wenn ich hierherkomme, oder ich wohne hier in der Stadt und ich interessiere mich dafür, was da jetzt stattfindet – dann zu wissen, die Leute können an einen bestimmten Ort gehen, da können sie sich informieren und da kann man was lesen. Und natürlich ist es dann immer noch jedem Einzelnen überlassen, was er wirklich macht Wer lieber bei der Vorabendserie zu Hause bleibt, den wird man auch mit einer neuen Anlaufstelle nicht erreichen. Das ist aber auch nicht der Anspruch.
BB: Ich glaube ja, dass es tatsächlich ein ganz großes Potential an Zuhörern gibt, die noch gar nicht wissen, dass das hier alles stattfindet. Es gab ja in den letzten Jahren sehr wichtige und weitverbreitete Alben, die Jazzmusik integriert haben, David Bowie auf seinem Album „Black Star“ …
VSz: Halten Sie das für jazzintegriert? Black Star???
BB: Ja, klar! Also, da sind zumindest Jazzmusiker beteiligt, das ist dann halt die Frage, in wie weit das Jazz ist. Diese Frage möchten wir gerne offenlassen, aber das sind Leute wie Donny McCaslin, die sonst einfach in der Jazzszene unterwegs sind. Oder Kendrick Lamar. Oder Robert Glasper. Leute, die sozusagen sehr an den Grenzen sind und die ganz, ganz viele Leute mitziehen und in den Jazzbereich reinbringen, die dann sagen, okay, ich würde mir das gern mal live anhören, aber wohin muss ich dafür gehen? Ich glaube, es gibt hier schon ganz viel abrufbereites Publikum, eine große Offenheit für Jazz. Wir müssen die Leute nicht erst von ihren Sesseln hochholen: Die sind schon da und wollen eigentlich. Und wir versuchen, das zu vermitteln.
VSz: Das beantwortet ja quasi auch die Frage, was diese Jazzwoche will. Ich würde gern noch einmal auf Sie in ihrer Eigenschaft als Musikerin zurückgreifen: Was bedeutet diese Jazzwoche für den Berliner Jazzmusiker?
KP: Das erste Wort, das mir da in den Sinn kommt, ist Hoffnung. Dass sich was verändert. Weil … ich bin Jazzmusikerin, ich lebe in Berlin und ich arbeite hier, es ist mein Arbeitsmittelpunkt und ich arbeite mit vielen Berliner Leuten zusammen. Mein Geld verdiene ich aber außerhalb von Berlin. Einen sehr, sehr geringen Anteil meines Jahreseinkommens verdiene ich mit Konzerten in Berlin. Einfach, weil hier die Infrastruktur nicht gegeben ist. Und es ist schon ein zentrales Anliegen, sichtbar zu machen, dass zwar die Musik da ist, das Publikum da ist, aber die Infrastruktur einfach nicht. Und die muss verbessert werden. Einfach darauf aufmerksam zu machen, im ersten Schritt: Wir sind hier, uns gibt es und hier passieren unglaublich viele wirklich herausragende Dinge. Hier werden die echt neuen Sachen entwickelt – und die, die sie entwickelt haben, spielen hier in der Kneipe auf’n Hut und fahren am nächsten Tag zum internationalen Festival, wo sie ihr Geld verdienen. Und das passt halt nicht richtig zusammen. Das jetzt so ein bisschen aneinander anzugleichen ist es, was ich mir langfristig erhoffe.
VSz: Das ist eigentlich ein schönes Schlusswort – es sei denn, es gibt da etwas, was Sie noch unbedingt zur Jazzwoche loswerden wollen, wonach ich nicht gefragt habe, was aber essenziell dazugehört.
BB: Also, ich hätte jetzt nur noch ergänzt, dass die Jazzwoche in dem Sinne nicht nur ans Publikum, sondern auch an die Politikerinnen und Politiker gerichtet ist.
VSz: Das heißt, wenn sich Infrastruktur verbessern soll, das kann nicht aus der Szene heraus passieren, da muss von außen Geld in die Hand genommen werden.
BB: Richtig.
VSz: Es geht um Förderung.
BB: Genau. In dem Sinne sind wir dann auch ganz Interessenvertretung, das ist für uns ein Anliegen.
KP: Und, wenn Sie mich jetzt noch einmal als Musikerin fragen, dann will ich einfach, dass diese Musik gehört wird. Sie ist so reich und vielfältig – und auch bewegend! Wenn man aus einem guten Jazzkonzert kommt, geht man anders raus, als man reingegangen ist, weil man eben nicht das Erwartete präsentiert bekommt.
VSz: Ich hoffe ja, das passiert bei jedem guten Konzert oder Buch oder Bild. Aus einem guten Buch gehe ich anders heraus, als ich in das Buch hineingegangen bin.
KP: Das stimmt.
VSz: Weil es einen verändert.
KP: Ja. Aber dieser Live-Aspekt, der ist nochmal besonders. Da kann ich jetzt auch als Komponistin sprechen: Ich habe ein Stück, und das spiele ich mit drei verschiedenen Bands dreimal total anders. Und dreimal arbeitet man sich anders rein. Es ist eben sehr individuell, es hat sehr viel mit den Persönlichkeiten zu tun, mit der Historie jedes einzelnen Musikers. Und wenn man das als Publikum mitnimmt, auch diesen Aspekt der Improvisation, der Spontaneität – das ist ja auch was, was fürs Leben relevant ist! Also, sich einfach diesem Unbekannten so vertraut zu machen. Und sich hinzugeben dem, was man nicht kennt. Ich glaube, das ist ein zentraler Aspekt, der im Jazz besonders eine Rolle spielt im Vergleich zu anderer Musik.
Die erste Jazzwoche Berlin findet vom 24.-30. Juni 2019 in verschiedenen Spielstätten statt.