All that Jazz oder: Sind so viele Möglichkeiten! Nachlese zum XJAZZ-Festival 2019
Wenn in der schnelllebigen Berliner Szene – wo man nach dreijährigem Bestehen schon als etabliert gilt – ein Festival in sein sechstes Jahr geht, verdient es das Prädikat „nicht mehr aus dem Kulturkalender der Hauptstadt wegzudenken“. Wenn es sich dann auch noch um ein (wenngleich den Genrebegriff extrem weitfassendes) Jazzfestival handelt, muss neidlos konstatiert werden: Hier wurde alles richtig gemacht. Kein Wunder, dass die diesjährige Ausgabe des XJAZZ-Festivals ihren Vorjahresrekord von etwa 11.000 Besuchern mit ganzen 21.000 noch einmal toppen konnte. Das gilt auch für die Zahl der bespielten Venues, die sich traditionellerweise um den U-Bahnhof Schlesisches Tor im dem Festival seinen Namen gebenden Bezirk Kreuzberg gruppieren.
So etwa ist dieses Jahr das durch seine in der Hausbesetzerszene wurzelnde Geschichte berüchtigte, aber bislang eher nicht durch seine Affinität zum Jazz aufgefallene SO36, das laut Selbstverständnis Raumgeber für „harte Töne jenseits des Chartsmainstreams“ ist, neu als Spielstätte mit dabei, das mit der britischen Poetin Kate Tempest gleich für einen würdigen Festivalauftakt sorgte. Diesen prominenten Platz dürfte sich die Südlondonerin, die sich von mit dem genresprengenden XJAZZ-Konzept wenig Vertrauten nicht nur einmal fragen lassen musste, ob – und hier grüßt die ebenso viel zitierte wie negierte Jazzpolizei, die es eben doch gibt – das denn nun Jazz sei, wohl nicht zuletzt durch ihre jüngste Kollaboration mit Shabaka Hutchings‘ The Comet Is Coming gesichert haben. Genau wie dort besticht ihr auf der SO36-Bühne erstmals erprobtes, ab Juni erhältliches Book of Traps and Lessons durch diese unbedingte Dringlichkeit, für die man die Tempest einfach lieben muss. Sie versteht es, eine unmittelbaren Beziehung zu ihrem ergriffen lauschenden Publikum herzustellen, das von genau jenen Fragen umgetrieben wird, die Tempest stellt. Es geht um das ob Selfie-Wahn inszenierte statt gelebte Leben, um die einen beim morgendlichen Weckerklingeln beschleichende Ahnung, dass man einfach alles auch ganz anders hätte machen könnten und nicht zuletzt um lakonische Bekenntnisse in Sachen Liebe: You make me a microscope/you make me a map/some call it love/I call it a trap.
Selbst an jenen Stellen, wo die wortgewaltige Poetin ihre Reime ganz ohne musikalische Begleitung ins Mikrophon diktiert – denn von bloßem „sprechen“ kann hier keine Rede sein –, kann man im ausverkauften SO36 die sprichtwörtliche Stecknadel fallen hören. Die Gemeinde lauscht derart ergriffen, dass man recht eigentlich nicht von einem Konzert, sondern eher einer Art Gottesdienst mit Tempest als Hohenpriesterin sprechen muss. Dabei war der Auftitt von vornherein nicht unumstritten. Kann, ja: darf man die verehrte Künstlerin noch reinen Gewissens hören, seit sie ihre Unterschrift unter eine Petition der dem BDS verschwisterten Gruppe Artists for Palestine setzte, die britische Künstler 2015 dazu aufforderte, nicht in Israel aufzutreten? Man kann, denn der Rattenschwanz aus Boykott und Boykott des Boykotts kann hier die Lösung nicht sein. Tempests Bekenntnis zu AfP mag unsympathisch erscheinen, den Boykott ihres Werks kann aber nur jener Kleingeist anregen, der es nicht versteht, zwischen Künstler und Werk zu differenzieren. Anders sähe es aus, wenn die Künstlerin – übrigens selbst jüdischer Abstammung – in Leben oder Werk mit direkten antisemitischen Äußerungen aufgefallen wäre. Ist sie aber nicht, und mehr gibt es dazu dann auch nicht zu sagen.
Qualität statt Quantität
Wo sich am Mittwoch dank Kate Tempest die Frage, welchen Act man zur Festivaleröffnung sehen möchte, eindeutig beantworten lässt, stellt einen schon der Donnerstag vor nicht zu unterschätzende Entscheidungsschwierigkeiten. Der erste volle Festivaltag macht deutlich, dass ein Programm mit etwa siebzig Konzerten in vierzehn Venues nicht bedeutet, dass man bis Sonntag siebzig Konzerte in vierzehn Venues gesehen haben wird. Sinn und Zweck eines Festivals ist nicht die schiere Menge, sondern die geschickte Auswahl, denn natürlich laufen Konzerte parallel: Möchte ich den zum Jazzer gereiften Elektroniker Dominic Saloe aka Mocky sehen, muss ich sowohl auf den Londonder Drummer Yussef Dayes, der sich mittlerweile vom genialen 70s-Jazz-Funk-Avantgarde-Elektronik-Duo Yussef Kamaal emanzipiert und letztes Jahr mit einer Live-Session in den legendären Abbey-Road-Studios sein Solo-Debüt hingelegt hat, verzichten, als auch auf Mostly Other People Do The Killing-Trompeter Peter Evans, um nur einen weiteren zu nennen. Einzig zum schon um 18:00 Uhr spielenden Neunkopf-Kollektiv Wanubalé wäre es vorher zu schaffen, was auch gut ist, gelten die aus Berlin und Potsdam stammenden Musiker doch als deutsche Antwort auf Jazzfunkdubrockbands wie Snarky Puppy, Fat Freddy’s Drop, Hiatus Kaiyote oder Nubiyan Twist, wobei letztere am Samstag selbst im BiNuu zu hören sind.
Ein Must-See bzw. Must-Hear ist die am späten Donnerstagabend im Prince Charles gehostete Kryptox Labelnight. Die junge deutsche Plattenfirma für Neo-Jazz und Experimentelles präsentiert sich mit dem Londoner Flötisten Tenderlonious, Ralph Heidels Homo Ludens-Ensemble und dem Poets of Rhythm-Gitarristen JJ Whitefield, der sich für sein Krautjazz-Debüt der Unterstützung von Saxophonist Johannes Schleiermacher versichern konnte, der beim letzjährigen XJAZZ-Festival noch mit Shake Stew am Start war und dem aufgrund seines diesjährigen Auftrittes einmal mehr zu wünschen ist, dass sein Spiel endlich die ihm gebührende breite Aufmerksamkeit – und von mir aus auch den Titel des nächsten Shabaka Hutchings – bekommt. Klar ist aber auch, dass Besucher der Kryptox Labelnight die zeitgleich im Monarch bzw. der Emmauskirche stattfindenden Labelnights von We Jazz bzw. K7 verpassen. Man kann eben nicht alles haben. Gute Nachrichten gibt es jedoch für jene, die sich zwischen Mocky und Yussef Dayes nicht zu entscheiden vermochten – sie können Mocky (und im Anschluss eine der drei Labelnights) sehen, denn Dayes wird kurzerhand auf den Freitag verschoben. Das ist toll, stellt aber vor eine neue, schwere Entscheidung: Jene zwischen Dayes und Rymden, der neuen Band von Jazzland-Labelbetreiber Bugge Wesseltoft, dessen Vorstellung sich an dieser Stelle wohl erübrigt. Die Besucherschlangen vor beiden Konzerten sprechen jeweils für sich.
Wer wann wo
Noch ein weiteres Bäumchen-wechsel-dich-Spiel findet am Freitag statt, was die gedruckten Festivalguides endgültig zur Makulatur macht. Man muss schon auf die eigens entwickelte App setzen, um zu wissen, wer wann wo spielt – oder die freundlichen Menschen im XJAZZ-Truck, die einen dorthin zu schicken verstehen, wo die Musik spielt. So etwa erfährt man hier, dass sich der Showcase von Bobby-McFerrin-Tochter Madison, den man unbedingt sehen wollte, vom ursprünglich geplanten Freitag auf den Samstag verschoben hat, wo sie nun sowohl dem Omar Klein Trio, den Londoner Alternative Soulern Hejira, dem Lisa Bassenge Trio oder der wohl einmaligen Kollaboration von Simultansängerinbeatboxerin Sanni Loetzsch aka Kid Be Kid mit Lucia-Cadotsch-Saxophonist Otis Sandsjö Konkurrenz macht. Apropos Konkurrenz: Schon der freitägliche Konzertauftakt verlangt nach der Entscheidung, ob man mit dem schon mehrfach erlebten Urgestein Rolf Kühn auf Bewährtes setzt, sich das für seine ikonischen Neuinterpretationen (z.B. „Everybody Wants To Rule The World“) gefeierte US-Trio The Bad Plus oder lieber den Münchner Pianisten und Komponisten Marc Schmolling gibt.
Ich setze auf den 1929 geborenen Jazzklarinettisten, von dem ich schon bei der 2017er-Ausgabe von XJAZZ glaubte, ihn vielleicht zum letzten Mal live erleben zu können, doch weit gefehlt! Sein Yellow+Blue-Konzert im gut besuchten Lido, Kühns persönlichem Lieblingsclub in Berlin, lässt nicht vermuten, dass er so bald die Klarinette aus der Hand gibt. Und was für eine Band! Pianist Frank Chastenier macht selbst bei den in diesem Set rar gesäten Standards wie „Angel Eyes“ wohltuend klar, wo der Frosch die Locken hat, Bassistin Lisa Wulff – die später am Abend andernorts noch im Duo mit Clara Haberkamp zu hören sein wird – steht ihm in nichts nach, während der von Kühn als „Monster“ betitelte Schlagzeuger Tupac Mantilla mit einer Body Percussion-Einlage begeistert. Groß! Allein bei der Zugabe wird klar, wieviel Anstrengung die Konzerte dem fast Neunzigjährigen mittlerweile abverlangen dürften:
Weiter gehört mein noch junger Freitagabend der in Berlin ansässigen israelischen Nu-Soul-Sängerin J. Lamotta, die im Privatclub den Release ihres neuen Albums Suzume feiert, mich aber auf dem Papier weitaus mehr zu begeistern wusste als während des Auftritts. Vor zwanzig Jahren hätte mich diese Musik geflasht, mittlerweile scheine ich nicht mehr zur Zielgruppe zu gehören. Mein Herz schlägt aktuell für den London Sound der Stunde, zu denen tief im Jazz schürfende Beatmaker wie Alfa Mist gehören, vor allem aber auch Kamaal Williams mit seinem verstimmt wabernden Acid Jazz, der sich über flüsternde tsk-tsk-Beats schraubt und ferner mit blubbernden Basstupfern, Perlendem, Glockendem, Rockigens, aber auch D&B-Grooves und Streichern, kurz: ganz viel feinem Frickelkram zum Genauhinhören aufwartet, der seine Mittel vom Electro, seine Haltung vom Jazz, sein Herz aber vom Soul bezieht. Und natürlich Yussel Dayes, der mit Letztgenanntem im mithin legendär gewordenen Duo Yussef Kamaal die Percussions rührte, mittlerweile aber als Schlagzeuger auf Solopfaden unterwegs ist. Mit Unterstützung des Sun Ra Arkestra-geschulten Synthie-Schraubers Charlie Stacey und Adele-Bassist Tom Driessler bietet er im ebenfalls im Rahmen von XJAZZ erstmals bespielten Festsaal Kreuzberg eine avantgardistische, dabei trotzdem enorm leichtfüßige, um nicht zu sagen: traumverlorene Interpreation von NuJazz, die bei anderen Genreheroen oftmals seltsam bemüht klingt. Es ist ein tolles Konzert, auch wenn durch seine etwa einstündige Verzögerung Arnold Kasar nun leider ungehört bleiben muss. Stattdessen höre ich bei Rosemarine rein, einem von vielen jungen Musikern der Stadt hochgepriesenen Trio, das zur Mitternacht im Privatclub den Release seinen Debütalbums zelebriert.
Erschöpft falle ich ins Bett. Die menschliche Aufnahmefähigkeit für Musik ist, wie ich erst neulich wieder während der jazzahead! feststellen musste, nun einmal begrenzt. Deshalb gibt es für mich am Samstag nur ein Konzert, das allerdings hochspannend zu werden verspricht, vereinen sich hier doch erstmalig zwei meiner Lieblingsmusiker aus völlig verschiedenen Genres zum Duo. Gepaart mit einem voreilenden Drei-Gänge-Menü im Markthallenrestaurant der auch als „Eisenbahnmarkthalle“ bekannten Markthalle IX, wird das Konzert im Austerclub unter dem Motto „Jazz & Dine“ als bequemes Package für EUR 39,20 angeboten, das sich einigen Zuspruchs bei all jenen erfreut, die ihre Spätzwanziger hinter sich gelassen haben. Natürlich ist aber auch der alleinige Konzertbesuch möglich, um die studierte Jazzsängerin und Produzentin Sanni Loetzsch aka Loop Motor aka Kid Be Kid zu hören, die letztes Jahr unter dem Motto „drei Musikerinnen in einer“ inklusive konsequentem Verzicht auf Overdubs, Loops oder Prerecordings ihr NuSoul-Debüt Sold Out vorgelegt hat, auf dem sie sich als Sängerin, Beatboxerin und Pianistin zeigt, und das, anatomische Unmöglichkeit hin wie her, simultan. Das allein ist den Konzertbesuch wert und wird nur durch den Umstand getoppt, dass Loetzsch den schwedischen Saxophonisten Otis Sandsjö als Gast eingeladen hat, dessen speziellen, um allerlei Ventikgeklapper angereicherten Ton ich zunächst bei Lucia Cadotschs Speak Low, dann auf seinem eigenen Projekt Y-Otis kennen- und liebengelernt habe und den ich neben Johannes Schleiermacher und „Lotuseater“ Wanja Slavin aktuell glatt als meinen Lieblingssaxophonisten bezeichnen würde. Nicht ohne Grund gilt mir dieser Abend als persönliches Highlight von XJAZZ 2019.
Klangsatt oder: Wissen, wann genug ist
Dabei ist das gesamte diesjährige Festival nicht eben als arm an Highlights zu bezeichnen. Vielmehr sind es so viele, dass man nicht weiß, wo man mit der Aufzählung beginnen soll. Wer das Glück – oder mit EUR 159,- die finanziellen Mittel – hat, einen Festivalpass sein eigen zu nennen, könnte aufgrund dieses Füllhorns an Musik versucht sein, der Unsitte anheimzufallen, in so viele Konzerte wie nur möglich eben mal für zehn oder fünfzehn Minuten hineinzuhören. Die in fußläufiger Nähe zueinander liegenden Spielstätten machen’s möglich. Aber genau wie bei einem Album, das auch nicht dazu gedacht ist, einzelne Stücke zu überspringen, sondern (zumindest im Idealfall) aufgrund einer ausgeklügelten Dramaturgie auf einer ganz eigenen Spannungskurve fußt, ergo eine untrennbare Einheit bildet, hat der Künstler auch für sein Konzert eine aufeinander aufbauene Abfolge seiner Stücke erdacht, die dem Abend eine bestimmte Richtung, einen bestimmten Schwerpunkt verleihen. Ebensowenig wie ein Album sollte ein Konzert eine zufällige Reihung an Songs sein, in die man an beliebiger Stelle hineinzappen und sie an ebenso beliebiger Stelle wieder verlassen kann. Also, man kann schon. Bringt sich aber selbst um einen nicht ganz unbedeutenden Teil des Musikgenusses. Zu wissen, wann man klanggesättigt genug ist, gehört zur durchaus erlernbaren Kunst des Festivalbesuchs.
Wer am späten Samstagabend noch genug Energie hat, kann noch Erol Sarp & Robert Lippok in der Emmauskirche oder das Ishmael Ensemble im Privatclub hören, sich gar der mitternächtlichen Global Dance Kulture im Fluxbau hingeben. Ich für meinen Teil gehe nach Hause, denn am Sonntag wartet die mittlerweile zur guten XJAZZ-Tradition gehörende Fahrt mit dem Blue Boat auf mich. Mangels Hangover wähle ich nicht den als „Hangover Jam“ beworbenen Cruise Nummer 1, wo sich Sebastian Studnitzky himself, seines Zeichens künstlerischer Leiter des Festivals, mit einer Handvoll Friends die Ehre gibt, sondern setze auf Cruise Nummer 2, den XJAZZ Label Launch. Hier werden mit dem aus dem JIB hervorgegangenen Quartett Die Therapie, Roman Schulers RSxT mit seiner „Contemporary Groove Music“ und Hardylackner, dem Duo-Projekt des amerikanisch-deutschen Pianisten Benny Lackner mit dem Berliner Schlagzeuger Rainer Winch, die ersten drei Signings des brandneuen XJAZZ music labels vorgestellt – für Erst- und Letztgenannte ist es sogar ihr Debüt. Ein Kreis schließt sich, denn immerhin wurde das Festival ursprünglich von den Betreibern des Labels Contemplate gegründet, um den hauseigenen Künstlern eine Bühne zu bieten. Was als Festival zum Label begann, ist mittlerweile derart gewachsen, dass es nun folgerichtig das Label zum Festival gibt.
Ich runde meinen Besuch mit einem Abstecher zum Rahmenprogramm ab, wurde mir doch das schwedisch-deutsche Duo Mattimatti ans Herz gelegt, das mit psychedelischen Stücken von pinkfloydscher Länge, in deren Zentrum der mystische Klang des Hang steht, ein sanftes Übergleiten von fünf Tagen Festivalwahnsinn in den Alltag erleichtert. Ohnehin die Nebenkriegsschauplätze! Da entstehen Dinge wie das neue Album vom Melt Trio mit Jan Bang, das während des Festivals live aufgenommen wurde und am 14. Juni seinen Release feiert. XJAZZ 2019 wird noch lange Schatten werfen. Wer jetzt noch Kraft hat, kann sich die Abschlusskonzerte auf der Schatzinsel oder das allerletzte Konzert des Sonntagabens, gespielt von DJ Acid Pauli und Vibraphonist Ivar Refseth in der Emmauskirche, anhören. Ich habe keine mehr, bin klangerfüllt bis in die Haarspitzen, freue mich aber dennoch schon auf den Mai 2020, wenn das XJAZZ-Festival zum mittlerweile siebten Mal seine stiloffenen Pforten öffnen wird.