Dorthin, wo Jazz ist. Nachlese zur Jazzahead 2019 – klangverführer | Musik in Worte fassen
Dorthin, wo Jazz ist. Nachlese zur Jazzahead 2019

Dorthin, wo Jazz ist. Nachlese zur Jazzahead 2019

Dorthin, wo Jazz ist. Nachlese zur Jazzahead 2019

Letzen Sonntag schloss die vierzehnte Jazzahead in Bremen ihre Pforten.
In den Tagen danach fühlten sich die Besucher des weltweit größten Jazz-Branchentreffs körperlich wie emotional ausgelaugt, nicht wenige sind krank. Die Postings von heilender Hühnersuppe und Ingwertee auf den einschlägigen Social-Media-Profilen jedenfalls steigen überproportional an, die wohl meistgestellte Frage in den Chats ist: „Hast du dich schon wieder regeneriert?“

Weshalb also setzt man sich diesen vier Tagen im Ausnahmezustand, der sich anfühlt als vollzöge er sich in einer Parallelwelt jenseits des normalen Zeit-Raum-Kontinuums, jedes Jahr aufs Neue aus, noch dazu freiwillig? Der norwegische Schriftsteller Lars Saabye Christensen, Keynotespeaker der diesjährigen Opening Ceremony, bringt es auf den Punkt: „Jazz is a different place and that is where we have to go.“ Wir müssen es tun. Wir können nicht anders.

Norwegian Lounge

Neben Saabye Christensen bestreiten zwei weitere Künstler des diesjährigen Partnerlandes Norwegen – das schon auf der Berlinale 2019 zum Schwerpunktland auserkoren war – die Eröffnungszeremonie: Sängerin Karin Krog und der sie an Sopran- wie Baritonsaxophon begleitende John Surman. Mit seinem Kurzauftritt gibt das Duo gleichzeitig einen Ausblick auf die traditionell am Donnerstagabend anstehende Konzertnacht des Partnerlandes: Acht sowohl stilistisch wie qualitativ höchst heterogene Acts bestreiten die Norwegian Night, darunter der Jazzsaxophonist und Ziegenhornbläser Karl Seglem, dessen balsamische Klänge in Zeiten überreizten Gemüts zwar mit schönster Regelmäßigkeit durch meine Boxen kriechen, den ich bislang jedoch noch nie live erlebt habe. Zeit für mein erstes Konzert der Jazzahead, das im benachbarten Schlachthof stattfindet, dessen blutige Vergangenheit glücklicherweise nicht mehr zu erahnen ist. Mit siebenköpfigem Ensemble – darunter gleich zwei Hardangerfiedeln, die ob ihres dank einer acht Wirbel fassenden Schnecke mit einem extrem kurzen Hals aufwarten und immer ein bisschen klingen wie die bucklige Verwandtschaft der Bratsche – beschwört Seglem die der norwegischen Folklore inhärenten Naturtöne vor einem aufmerksam lauschenden Schlachthofpublikum herauf.

Wie immer ist die Zeit viel zu kurz, den Klängen angemessen nachzuspüren – bis weit nach Mitternacht geben sich die verschiebenen Formationen die Klinke, pardon: das Mikro in die Hand. Nicht zuletzt sorgte der harmlos als Partner Country Reception benamste Empfang für einen zwar angenehmen, aber auch nicht zwingend für seine wachhaltenden Eigenschaften verrufenen Alkoholpegel. Gut, dass das European Jazz Meeting am Folgetag erst um vierzehn Uhr beginnt, was nicht nur dafür sorgt, dass man ausschlafen, sondern auch den ersten Meet&Greet-Marathon des Tages absolvieren oder sich das umfangreiche, auch als Professional Program bekannte Konferenzprogramm mit Highlights wie „A Wealth of Music Content, But What’s It Worth?“ zu Gemüte führen kann. In meinem Falle schaue ich nicht nur bei der Müsteraner Enklave der Jazzthetik-Redaktion vorbei, die ich ohne Jazzahead wohl nie treffen würde, sondern richte ich mich auch im sogenannten „Press Office“ häuslich ein, wo ich im Halbstundentakt jene Musiker treffe, mit denen ich mich im Vorfeld verabredet habe. Die Pressereferentin sieht sich das Bäumchen-wechsel-dich-Spiel eine Zeitlang an, bevor sie nur halb im Scherz bemerkt: „Sie lassen hier aber auch einfach kommen, oder?“. Aber warum auch nicht, wo das Press Office doch nicht nur Lebensnotwendigkeiten wie schwarzen Kaffee und Laserdrucker bietet, sondern auch einen ruhigen Platz jenseits der wogenden Menschenmassen und – dieses Jahr neu – eine wechselnde, warme, überaus schmackhafte Tagessuppe mit rauen Mengen an Brot und Butter. Nicht zuletzt die eingeladenen Musiker, jung und hungrig, wissen diese Annehmlichkeiten zu schätzen.

Hannah Köpf

Ich treffe Hannah Köpf, die ich in der aktuellen Ausgabe des Jazzthetik Magazins portraitiert habe; außerdem Gadi Stern und Matan Assayag vom israelischen Jazzrocktrio Shalosh, die mir für die kommende Ausgabe Rede und Antwort stehen. Zwischendurch reicht die Zeit für Gespäche unter Kollegen: Es gibt ein Wiedersehen mit Klaus von Seckendorff und ein erstes Kennenlernen mit einem weiteren großen Mann des Jazzjournalismus, Hans Hielscher. Obgleich er wie ich zurzeit eine Kolumne in der Jazzthetik bestückt, sind wir uns bislang noch nie über den Weg gelaufen, stoßen dafür aber gleich auf interessante biografische Gemeinsamkeiten wie etwa die Straße, in der ich jetzt und Hielscher vor langer Zeit wohnte. Endlich lerne ich auch den Hamburger Jazzschreiber Jan Paersch kennen, mit dem ich zwar das Programm des diesjährigen Elbjazz-Festivals betextet, den ich aber ebenfalls noch nie von Angresicht zu Angesicht gesehen habe. Jazzahead machts möglich. Es ist eben nicht nur ein Branchen-, sondern auch so etwas wie ein Familientreffen, und spätestens ab dem zweiten Besuch der Messe gehört man wie selbstverständlich dazu.

Der grüne Pfeil, Symbol der Jazzahead, hier als Deckenmobile in der BoConcept Lounge

Neben dem European Jazz Meeting, das so unterschiedliche Acts wie die Flat Earth Society, das Adam Bałdych Quartet oder MDCIII auffährt, steht am Freitag auch das Galakonzert an, welches jeweils zwei Acts des Partnerlandes auf die Bühne des im Art-Déco-Stil erbauten Konzerthauses Die Glocke bringt. Dieses Jahr ist die Wahl auf das Quintett des Trompeters Mathias Eick gefallen, das mit Håkon Aase einen wunderbaren Geiger an Bord hat, im Allgemeinen aber einen allzu elegischen Klang zelebriert, der die Grenze zur Langeweile mehr als einmal von der falschen Seite touchiert und nur noch vom zweiten Teil des Galakonzerts mit Trail of Souls feat. Solveig Slettahjell und Knut Reiersrud getoppt wird. Man kann sich des Eindrucks nicht gänzlich erwehren, dass hier jene Spielart des nordisch-mystischen Jazz zum Besten gegeben wird, die sich das deutsche Publikum am liebsten vorstellt: Hach, diese Weite! Oh, diese Wälder! Und sieh nur, die niedlichen Trolle!

Es ist verständlich, dass sich das Galakonzert vor allem auch ans lokale Bildungsbürgertum wendet und die – diesmal übrigens nicht vollständig ausverkaufte – Glocke ihre Ränge füllen muss. In Anbetracht der Tatsache, dass ich hier aber auch schon dank Künstlern wie Avishai Cohen 2013 bei meiner allerersten Jazzahead oder 2016 Nik Bärtsch und Hildegard lernt fliegen rauschende Abende erlebt habe, muss die Frage nach einer zukünftigen Perspektive des Galakonzerts jenseits der Komfortzone, sprich: einem mutigeren Booking erlaubt sein.

Ichiro Onoe

Der Samstag dagegen verspricht, spannend zu werden. Ich treffe den als „Japan’s answer to Paul Motian“ geltenden, in Paris lebenden Schlagzeuger Ichiro Onoe, der mit seinem Quartett traditionelle japanische Musik und Modern Jazz verbindet, indem er zwei klassische japanische Instrumente – die aus siebzehn kurzen Bambuspfeifen bestehende Mundorgel Shō und die Doppelrohrblattflöte Hichiriki – durch Tenorsaxophon und Klavier ersetzt; den swinginspirierten israelischen Pianisten Arik Strauss, der mit seinem Umzug nach Deutschland, dem Land seiner Vorväter, einen Lebenskreis geschlossen und darüber das Album „Closing The Circle“ gemacht hat; den Kölner Schlagzeuger Jo Beyer, dessen brandneues, noch labelloses Album „Party“ mit sperrig-schönen Songtiteln wie „Zwischen Bier in Poll und 37 Grad im Schatten“ oder „Halloween ist doof“ aufwartet; und den Berliner Komponisten und Arrangeur Ruben Giannotti, der gerade mit seinem im Spannungsfeld zwischen NeoSoul, Elektronika und retroeskem Bigbandkrimisoundtrack angesiedelten Large-Ensemble-Projekt aus dem Studio gekommen ist. Wie gut, dass das Press-Office – zweite Neuerung in diesem Jahr – statt um 18:00 erst um 19:30 Uhr schließt!

Komponist Ruben Giannotti spielt am Stand von Chess’n’Jazz um Bier

Und dann widme ich mich ganz der Musik, denn schließlich ist doch sie der hauptsächliche Grund, hier zu sein. Wo sonst lässt sich‘s innerhalb von nur dreieinhalb Tagen aus gut einhundert Konzerten auswählen? Auswahl ist das Stichwort der Stunde, denn Konzerte laufen zum einen parallel, zum anderen scheint der menschliche Geist eine begrenzte Kapazität für die Aufnahme von Musik zu haben. Ist diese erreicht, geht gar nichts mehr. Jazzahead heißt eben auch: Too much Jazz in my Head. Erst einmal aber höre ich im Rahmen der German Jazz Expo Simin Tanders Hochmittelalter- und Renaissance-Adaptionen, die kongenial von Jörg Brinkmann, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob er mir nicht noch besser gefallen soll als Tander selbst, am Cello begleitet werden: Eine höchst sinnliche Vokalistin, die fühlt, was sie singt – und dieses Gefühl weiterzugeben weiß. Das komplette Kontrastprogramm liefern Botticelli Baby, die den Schlachthof mit wildem Balkan-Gipsy-Swing-Funkabilly und Punkattitüde aufmischen. Was soll ich sagen, ich mag dieses nordrhein-westfälische Septett, dessen Sänger (und gleichzeitig Kontrabassist) Marlon Bösherz sich nicht zu entscheiden vermag, ob er nun James Brown in Blue oder lakonischer Shouter sein will. Toll!

Dann geht es auch schon weiter mit der berühmt-berüchtigten Clubnacht, deren Auftakt niemand Geringreres als Beady Belle auf dem Domshof macht. Umsonst und draußen – eine weitere Neuerung des um die Messe herumgestrickten Festivalprogramms vor historischer Kulisse. Wieder toll! Ganz zu Ende sehen kann ich den Auftritt der norwegischen NuJazzer allerdings nicht, wartet doch die Jazzahead-Straßenbahn schon, um die Teilnehmer der VIP Partybahn Tour – einer Art geführten Clubnacht – für den Auftritt von Johanna Borchert in der Kulturkirche St. Stephani einzusammeln. Untermalt vom finnischen Elektroniker Mika Forsling entspinnt diese nicht nur allerlei avantgardistisches Geräusch am präparierten Flügel, sondern auch zauberhafte Lyrics zwischen dringlicher Spoken Word-Performance und zerbrechlicher Dubstep-Ballade.

Hier endet für mich die Führung, denn ich muss dringend ein Taxi in den Bremer Norden erwischen, um Susanna Wallumrød im fernab der Messe gelegenen Kränholm zu hören – immerhin hat sie als Susanna & The Brotherhood of Our Lady mit dem vertonten Hieronymos-Bosch-Gemäldezyklus „Garden of Earthly Delights“ jetzt schon eines meiner Lieblingsalben des Jahres gemacht. Wie bei allen meinen bisherigen Fahrten in den Bremer Norden, wo ich etwa letztes Jahr Noam Vazana im KITO ihre sephardischen Lullabys singen hörte, werde ich auch diesmal nicht enttäuscht. Wallumrød spielt in der intimen Location nicht nur die vor Todsünden triefenden Bosch-Stücke, sondern auch ihre ganz persönlichen Interpretationen von auf der Nachtseite der Musik beheimateten Lieblingssongs wie Leonard Cohens „Who By The Fire“ oder Joy Divisions „Love Will Tear Us Apart“. Ein stilles, ein schönes Messehighlight, nicht trotz, sondern gerade auch wegen des weiten Weges, der zum Nachklingenlassen geeigneter nicht sein könnte. Die Overseas Night, die in Konkurrenz zur Clubnacht noch bis 1:40 Uhr läuft, lasse ich leichten Herzens links liegen und falle beseelt in mein Hotelbett. Jazzahead macht eben nicht nur fertig, sondern auch in höchstem Maße glücklich.

Die Bildqualität des folgenden Videos bitte ich zu entschuldigen. Es wäre aber ein Fehler, das Stück deshalb nicht anzuhören:

Der Sonntag, sonst lediglich für Ausstellerfrühstück, hastiges Abbauen und letzte Verabschiedungen reserviert, bietet eine weitere Neuerung: Gleich nach dem Business Lunch im Schlachthof, bei dem es für mich ein Wiedersehen mit dem letztjährigen Geheimtipp Noam Vazana gibt, steht für das Abschiedskonzert Nordic At Noon das fünfzehnköpfige, mit doppelter Rhythmusgruppe und Elektronik besetzte Paar-Nilssen-Love Ensebmle auf dem Programm, dessen ebenso mann- wie lautstarke Freejazzklänge die Besucher nach drei Nächten des Schlafmangels mitten in die Magengrube treffen, nicht jedoch ohne den einen oder anderen Moment voll stiller Schönheit im Auge des Sturms zu bieten. Auf die Verkündung des Partnerlandes beim traditionellen Goodbye Breakfast hingegen warten wir vergeblich: Da die Jazzahead im kommenden Jahr ihr fünfzehnjähriges Bestehen feiert, hat man sich zum Jubiläum etwas Besonderes einfallen lassen, das erst in den nächsten Tagen enthüllt wird.

Fest hingegen steht schon jetzt, dass die Jazzahead 2019 mit 3.408 (2018: 3.282) Fachteilnehmern aus 64 Nationen und rund 18.000 Besuchern (2018: 17.362) erneut gewachsen ist. Dabei gibt es die Jazzahead genauso wenig wie den Jazz. Jeder erlebt seine eigene Messe. Dies war meine. Es gibt noch 3.407 andere.

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