Noch amul! Jüdischer Tango und kein Ende – klangverführer | Musik in Worte fassen

Noch amul! Jüdischer Tango und kein Ende

Da denkt man ja, man wäre mit dem Thema durch. Hat dazu alles gelesen, gehört, erforscht und beschrieben – und glaubt, sogar die Nichtexistenz des Phänomens bewiesen zu haben. Und dann, nach ungefähr sieben Jahren, kommen die Anfragen: Erst von der Wiener Tangozeitschrift el tango – revista Viena, dann von Sarah Ross vom Institut für Musikwissenschaft der Uni Bern, die das Ganze aus der Perspektive von „Übernahme und Anpassung, […] Grenzziehung und -verschiebung“ beleuchtet und dabei freundlich zitiert, und schließlich will es das Online-Magazin aviva-berlin.de genau wissen – jüdischer oder vielmehr: jiddisch-sprachiger Tango liegt in der Luft. Und dann nimmt auch noch Karsten Troyke mit Noch Amul – Tango Oyf Yiddish, Vol. 2 seine zweite CD mit jiddischen Tangos auf und lädt zum Record Release-Konzert in die Berliner Wabe. Da muss ich hin. Es scheint, als würde mir der jüdische Tango doch zu so einer Art Lebensthema werden, ob ich nun will oder nicht.

Ich glaube, es ist mittlerweile mein viertes – doch bestimmt nicht letztes! – Troyke-Konzert; allerdings das erste, das ganz im Zeichen des Tango oyf Yiddish – Tangos auf Jiddisch steht. Besonders freue ich mich heute Abend auch über Trio Scho-Geiger Gennadij Desatnik, der schon beim Auftakt-Instrumental, wo Troyke den Konzertmeister gibt, begeistert, obgleich sein Geigenton zunächst seltsam angezerrt klingt. Dazu aber später noch mehr, denn jetzt kommt auch schon der erste jiddische Tango des Abends: das von Chaim Tauber und Alexander Olshanetsky irgendwann in den 1930er-Jahren geschriebene Ikh Hob Dich Tsufil Lib, das mir erstmals im Rahmen meiner Recherchen für Juden im Tango = jüdischer Tango? Über die (Un-)Möglichkeit eines explizit jüdischen Beitrages zum Werden und Währen des ‚tango argentino‘ in der Version von Brise Parisienne über den Weg gelaufen ist – und schon ist alles wieder da. Wie gut, dass bei Troyke die herzzerbrechende Tragik des Stückes mit einem humoristischen Unterton konterkariert wird!

Nicht nur Ikh Hob Dich Tsufil Lib, auch Neshumele Di Mayns gibt es auf Troykes neuer CD zu hören. Live greift Gast-Klarinettist Jan Hermerschmidt hier zu meinem Lieblingsinstrument, der Bassklarinette – da kann ja schon gar nichts mehr schiefgehen! Ein Karsten Troyke-Konzert wäre aber kein Karsten Troyke-Konzert, wenn das Publikum nicht auch mitarbeiten, in diesem Falle: den „Libe“ und „host lib“-Chor geben, müsste. Damit kriegt der Berliner Chansonnier, der heute Abend mehr denn je auch Entertainer ist, selbst die letzten Skeptiker.

Nach dem Mitzi Spielmann-Song Ach, nenn mich Liebe kommt dann mit Glik nicht nur die Nummer, die Troykes neue CD eröffnet, sondern auch die bislang musikalisch interessanteste. Schon allein wegen dieses von Alexander Olshanetsky (ja, der wieder: manche können es eben!) und Bella Meisell geschriebenen Klassikers des Jiddischen Theaters, der erstmals im Stück Der Letster Tantz am Prospect-Theater in der Bronx aufgeführt wurde, sollte man Noch Amul – Tango Oyf Yiddish, Vol. 2 unbedingt im Schrank zu stehen haben – und ab und zu auch herausholen und spielen. Zumal Tangotexte auf Jiddisch die großen Tango-Sujets, den Moment des letzten Tanzes und die Trauer ob eines unwiederbringlichen Verlustes, immer auch mit einem untergründigen Augenzwinkern wiederzugeben wissen: Glik, du bist gekumen tsu mir, heißt es hier, ober a bisl tsushpet.

In jeder Band gibt es ja jemanden, der gewissermaßen multifunktionell einsetzbar ist. Hier ist es Trio Scho-Geiger Gennadij Desatnik, der sich bei der Milonga Shayn Vi Di Levune mit Troyke einen terzlastigen Zwiegesang liefert und auch schon mal zur Gitarre greift. Das Einzige, was für einen Tango-Abend ein bisschen schade ist, ist die Abwesenheit eines Bandoneons. Aber da das Trio Scho nun einmal mit einem Akkordeonisten besetzt ist, passt das schon, man will ja nicht päpstlicher als der Pabst … und so fort. Einem ganz vorzüglichen Akkordeonisten, übrigens, und das Gleiche gilt auch für den Bassisten. Das Trio Scho kann man sich durchaus auch mal solo anhören, falls „solo“ im Falle eines Trios das richtige Wort ist, aber Sie wissen schon, was ich meine, und ich meine: Bei nächster Gelegenheit nix wie hin!

Mit Habibi bzw. Chavivi steht nun ein Tango-Marsch aus den 1930er-Jahren auf dem Programm. Ganz ehrlich, das Schönste daran ist der hebräische Text. Ich mag es, wenn Troyke Hebräisch singt; die Sprache steht seiner Stimme gut. Ebenfalls aus den Dreißigerjahren ist die Nummer Kiewer Tramway, die schon für den Titel des gleichnamigen Trio Scho-Albums Pate gestanden hat. Da gibt es Tangos, Horas und Swing aus Odessa zu hören, und auch heute Abend greift Trio Scho-Frontmann Desatnik zu Mikro und Gitarre. Das ist lustig, das ist toll und erinnert an jiddisches Theater, ist vor allem aber ein echter Burner, der die Leute von ihren Stühlen reißt! Und weil es gerade so schön ist, überlässt Troyke Desatnik die Bühne ein weiteres Mal, damit dieser einen echten russischen Rock’n’Roll namens Babuschka Rebekka präsentieren kann:

Das ist mit seinem Walking Bass und seinem großartigen Klarinettensolo erstmal was für die Rockabillys unter Ihnen, aber Achtung, mit dem Auftritt Troykes artet das Ganze in eine wilde Speed-Balkan-Party aus! Zum Runterkommen gibt es zwei Duette mit Claudia Koch von Aufwind, Ven Ich Zol Dich Farlirn, das auch auf der CD zu hören ist, und das alte Volkslied Bay dem Shtetl Shteyt a Shtibl (Mit a Grinem Dach), bei dem mich Kochs Stimme an Laura Wetzler auf Klezmer Hechalot von der CD Kabbalah Music: Songs of the Jewish Mystics erinnert. Troyke und Koch im Duett zu hören, ist sehr berührend – im Grunde aber steht der Abend unter dem Vorzeichen spielerischer Leichtigkeit, weshalb auch eine klassische Show-Einlage nicht fehlen darf: Beim CD-Closer (Oi der Mentsch hot) Groisse Oygn will Troyke den Song beenden und von der Bühne gehen, die Band aber spielt unbeirrt weiter, setzt unermüdlich einen weiteren Refrain dran und „zwingt“ den Entertainer somit, ebenfalls zu bleiben. Das mag routiniert sein, ist aber immer wieder effektiv: Die Leute lieben so etwas. Auch ich finde das charmant; beeindruckter allerdings bin ich hier von Hermerschmidt, dessen Phrasierungen mich hier leicht an jenes von Helmut Eisel erinnern. Mit einem guten Gefühl werden wir nach sage und schreibe zwölf Stücken in die Pause entlassen.

Der zweite Teil des Abends gestaltet sich tänzerischer. Los geht es mit Massl, das nicht nur durch einen absurden spanischen Text, in den irgendwo ein Sputnik vorkommt, besticht, sondern sich mit seinem 6/8-Refrain auch als ausgewachsener Tango Waltz entpuppt – oder, in Troykes Worten: „Das ist zum Schunkeln!“ Sein grandioses kabarettistisches Talent zeigt Troyke auch im „Kabarett-Chanson-Tango-ich-weiß-nicht-irgendwas-dazwischen“-Stück Alts Tsilib Parnusse – seine Imitation des kranken Greises ist zum Schreien komisch! Da sei dem Publikum mit dem folgenden Instrumental ein bisschen Erholung vergönnt. Trio Scho und Hermerschmidt spielen einen arabischen Tanz aus einem Musical aus dem Libanon, bei dem der Geigensound, wie schon im gesamten Teil nach der Pause, so klingt, als hätte man ihn absichtlich dem Klarinettenton angepasst. Das ist eine nette kleine Sinnestäuschung, sieht man doch einen Geiger, hört aber etwas anderes.

Troyke kehrt zurück auf die Bühne, um uns sein Lieblingslied aus dem Shir-ha-Shirin – Du hast mein Herz gefangen und über die Weiden Libanons getrieben – zu singen, welches nicht zuletzt durch das Spiel Desatniks berührend wird, der dankenswerterweise auf „Schleimspuren“ beim Lagenwechsel verzichtet, zu denen die süßliche Melodie leicht verleiten könnte: Endlich, endlich erhebt sich das Instrument mit dem einzig ihm zustehenden Ton über all die anderen. Dass Desatnik auch singen kann, wissen wir zwar inzwischen, freuen uns aber trotzdem auf sein Lied vom alten Schneider. Bei dem Benzion Witler-Klassiker Dos Gesang Fun Mein Hartz traut sich dann auch das erste Tanzpaar aufs Parkett. Schön sind die beiden anzusehen, die können das! Und dann wird auch schon das offizielle Ende des Abends mit der schönen Nonsens-Nummer Rebbe Elimelech eingeleitet:

Als Zugabe eins gibt es den russischen Tango Herz mein, als zweite – „ist aber nicht lustig“ – die Nummer Alts Gayt Avek Mit’n Royech, die den Abend deutlich nachdenklicher enden lässt, als er begonnen hat. Dies hat vielleicht auch mit dem nachklingenden Bild des Tanzpaares zu tun, das die innige, zärtliche, vor allem aber melancholische Stimmung des Liedes in Bewegung umzusetzen wusste. In der Tat: nicht lustig. Aber sehr, sehr schön. Mehr kann man von einem Lebensthema eigentlcih kaum erwarten.

Noch Amul – Tango Oyf Yiddish, Vol. 2 bekommen Sie ab dem 1. November 2012 hier.

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