He’s a Soul Man! Fundstück des Monats: Seal, Soul Live – klangverführer | Musik in Worte fassen

He’s a Soul Man!
Fundstück des Monats: Seal, Soul Live

Haben Sie es schon gehört? Seal und Heidi Klum planen eine Eheberatungs-
show im TV. Wie weit muss es mit einem gekommen sein, wenn man sich zu so etwas hinablässt? Noch dazu, wenn man – eigentlich – einer der groß-
artigsten Sänger unserer Zeit ist bzw. es zumindest einmal war? Wie oft schon habe ich dem Seal der Anfangsjahre hinterher getrauert, jener ehrfurchtgebietenden musikalischen Ausnahmeerscheinung, die, nicht zuletzt dank Produzent und Co-Autor Trevor Horn, in eine Reihe zu stellen war mit Künstlern, die man gemeinhin als „a musician’s musician“ bezeichnet! Neneh Cherry mit Woman gehört dazu, Taja Sevelle mit ihren Toys of Vanity, Helicopter Girl mit eigentlich allem, die Topley-Bird natürlich, stellenweise auch Macy Gray oder Prince … solche Leute eben. Man denke nur an Seal-Songs wie Crazy, Future Love Paradise, Kiss From A Rose oder gar die Akustikversion von Whirpool. Lange bevor Nu Soul in aller Munde war, hatten wir hier anbetungswürdigen einen Halbgott. Jetzt haben wir einen Schnulzensänger mit Tendenz zur Moppeligkeit. Ach, Trevor! Ach, Seal!

War es Zufall, dass sich der Künstler einen neuen Produzenten suchte, als
er ein gewisses Top-Model kennenlernte? Das erste Album dieser Phase,
Seal IV, ist jedenfalls auch das letzte, das es in meinen privaten Platten-
schrank geschafft hat. Geprägt von der Aufbruchsstimmung einer noch frischen Liebe finden sich auch hier noch einige wunderschöne Songs, wenngleich sie weniger kantig und roh daherkommen als ihre Vorgänger. Die nur schwer erträgliche, überzuckerte Ballade Love’s Divine wies jedoch schon in die ebenso ästhetisch bedenkliche wie hochkommerzielle Richtung, die der Londoner einschlagen sollte; gleichzeitig trieb sie ihm ein Publikum in die Arme, welches vor den alten Indie-Sachen schreiend davongelaufen wäre. Und dann kam, was kommen musste: Seal und Ms Topmodel gründeten eine glückliche Familie mit vielen Kindern, er gab den Prinz Karneval, wurde ob der deftigen deutschen Küche seiner Schwiegereltern deutlich rundlich und sang gar im Duett mit seiner in dieser Hinsicht nur leidlich talentierten, dafür jedoch mittlerweile angetrauten Frau (Wedding Day, 2007 auf System). Das ganze Glück gipfelte 2008 in einer Coverplatte alter Soulsongs, schlicht Soul betitelt, man hätte die Zuckerkrankheit kriegen können vor so viel süßlichem Gedöns!

Dann aber, vor genau einem Jahr, nämlich am 19. Juni 2009, veröffentlichte der, den ich mittlerweile musikalisch nicht mehr ernst nahm, ein Live-Album. Soul Live hieß es. Und bewies, dass man den Soul-Klassikern durchaus noch einen musikalisch interessanten Anstrich geben kann. Und auch wenn ich eigentlich ein Problem damit habe, wenn sich Religion und Kunst, in diesem Falle Religion und Musik, miteinander vermischen, kann es wohl selbst der hartgesottenste Atheist Seal nicht übelnehmen, wenn er aus der Impressions-Nummer People Get Ready einen gigantischen Gottesdienst macht. Das hat Herz, Blut und ganz viel Seele!

Soul Live beweist ohne Zweifel: Seal ist ein Soulman. Und trotzdem ist es bemerkenswert, wie sich seine Stimme – zum noch größeren Vorteil – ändert, weniger selbstverständlich wird (denn klar, er weiß, dass er’s kann), sondern zurückhaltender, verletzlicher, dafür mit umso mehr Gefühl, wenn er in der Zugabe eine Gänsehautversion von Kiss From A Rose zum Besten gibt. Das ist der Seal, wie ich ihn will. Von dieser Zerbrechlichkeit ist bei der zweiten Zugabe Crazy zwar nichts mehr zu spüren – stimmgewaltig und voller Energie präsentiert hier ein wahrlich großer Sänger seinen ersten Solohit aus dem Jahre 1990. Ich kann mir nicht helfen, ich halte den Seal der frühen Neunziger für den wahren Seal. Oder will ich ihn nur dafür halten?

In jedem Falle aber danke ich Gott auf Knien, dass Soul Live veröffentlicht wurde. Es hat mir den Glauben an das überragende Talent des Seal Henry Olusegun Olumide Adeola Samuel zurückgegeben. Und falls Sie noch kein Exemplar davon Ihr eigen nennen, sollten Sie das ganz schnell ändern.

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