Die Dominanz des Kleinmädchenschemas, zwei ungehörte Künstler und eine lebensrettende Platte: Fabulous Female Folk im nbi – klangverführer | Musik in Worte fassen

Die Dominanz des Kleinmädchenschemas, zwei ungehörte Künstler und eine lebensrettende Platte: Fabulous Female Folk im nbi

Die Musik der Berliner Illustratorin und Sängerin Ute „Illute“ Kneisel lernte ich im Sommer 2009 kennen. Kopfhörerhund und ich waren gerade in unsere neue Wohnung gezogen, für welche ich beim Unikate-Markt für selbermachende Individualisten DaWanda nach schönen Dingen stöberte. Ich fand solche – nicht immer nützlichen, aber ungemein dekorativen – Sächelchen wie Topflappen in Schellackplattenoptik, einen Stoffplattenspieler als Wandbild – und eben die Illute-CD von 2007, die ich im Shop der Graphikdesignerin Maki Shimizu entdeckte, und von der keiner so richtig weiß, wie sie heißt. „Durchs Herz geschaut“, ist eine Variante. „Berlin 2007“ eine andere. Die Produktbeschreibung versprach in jedem Falle ein Album, das „akustisch, minimalistisch, Bossa Nova, Chanson, Pop“ sei. Genau der richtige Soundtrack also für mein neues Leben! Zudem fand ich die Illustration des Kopfhörermädchens mit Herz ganz zauberhaft – das Album war gekauft.


MAKIS. vs. Illute

Mittlerweile ist auf Analogsoul ein neues Album von Illute erschienen: Immer kommt anders als Du denkst, das im Oktober 2010 in einem kleinen Studio in der Nähe Wiens aufgenommen und dessen erste Single-Auskopplung Viva la Ignorancia, die auch schon auf dem Berlin 2007-Album zu finden war, bei unseren Nachbarn zum Hit wurde – während die gitarre-, kalimba- und percussionspielende Illustratorin hierzulande immer noch ein Geheimtipp ist, der vor allem unter anderen Musikern und ihnen verwandten Geistern kursiert. „A musician’s musician“ nennen die Engländer Phänomene wie Illute. Schöner ausgedrückt hat es einer meiner beiden heutigen Begleiter, der als jo_berlin selbst ganz zauberhafte Lieder macht. Immer kommt anders als du denkst sei eine Platte, „die Leben retten kann“.

Wenn dies alles nicht Grund genug ist, sich die Dame live anzuhören – noch dazu, wo der unter dem Motto „We’ll sing you songs // fabulousfemalefolk“ stehende Abend neben Illute und ihrer Mitstreiterin Daniella Grimm an Violine und Vocals weitere geballte Weiblichkeit auffährt. Schließlich stehen noch Lùisa aus Hamburg, Eleonora aus München und die Berlinerin Donna Stolz auf dem Programm – Letztere ihres Zeichens ebenfalls Illustratorin. Es ist der Abend der malenden Musikerinnen. Oder der musizierenden Malerinnen? Folgt man der Prämisse, dass sich jede Art von Kreativität – egal, in welcher Form sie sich letztendlich äußert – aus der selben Quelle speist, erscheint es nur logisch, dass kreative Menschen designen, komponieren, dichten können. Mit dem Mythos vom Renaissance-Genie hat das wenig zu tun; eher mit einer allgemeinen musischen Veranlagung – und im Zeitalter der Multimedalität auch mit ganz handfesten Gründen. Das Gestalten von Websiten, Einbinden von eigenen Filmen und Musik ist ja nun nicht wirklich selten. Ganz analog geht aber auch:


Das hier ist schon fast so schön wie meine Schallplattentopflappen oder mein Stoffplattenspieler und schreit definitiv „Haben wollen!“

Wie dem auch sei, die fabulous female Folkers – oder vielmehr: Folkerettes – des heutigen Abends sind bis auf Illute auch noch allesamt das, was die Presse gern als Gitarre-spielende Folk-Pop-Elfen bezeichnet – es geht also im Klangblog genauso akustikgitarrenlastig weiter, wie es in Victoriah’s Music aufgehört hat. Auch der gar nicht so geheime Überraschungsgast des Abends, Multiinstrumentalist und Singer/Songwriter Jonathan Kluth, der gestern erst solo & unplugged in der schönen Kreuzberger Wohnzimmerbar hubertuslounge zu hören war, rückt mit seiner Gitarre an, weiß daneben aktuell aber noch mit einem Hundebild auf seiner Homepage zu bestechen. Kopfhörerhund wusste schon, weshalb sie heute Abend unbedingt dabei sein wollte!


Hund (links) vor Hubertus (dahinter)

Was ich zuletzt an Female Folk im nbi gesehen hatte, war allerdings
weniger fabulous – und genau genommen auch kein Folk, sondern der Singersongwriterpop Diane Weigmanns. Das heißt, der heutige Abend
konnte nur besser werden. Leider sollte er sich tatsächlich als nbi-typisch durchwachsen erweisen, mit einer irgendwo zwischen den Polen „oh ja“
und „oh je“ oszillierenden Amplitude.

Eröffnet wird er von einer vor Aufregung hyperventilierenden Donna Stolz mit deutsch-englischer Sprachverwirrung – kleiner Tipp: ein deutsches Publikum kann mit deutschen Ansagen durchaus etwas anfangen, alles andere wäre albern – und einem „Wow, es dreht sich alles“. Im Vergleich zu ihrer vor Nervosität vibrierenden Sprechstimme und dem sehr sehr dünnen Körperchen hat sie allerdings eine erstaunlich kräftige Singstimme, die entspannt und tragend rüberkommt. Das ist allerdings auch schon das einzig Positive, was man über den Auftritt sagen kann. Die Songs von Donna sind plakative Cowgirl-Nummern mit viel Attitüde und wenig Substanz, und ich möchte hier meinen anderen Begleiter zitieren, der treffend bemerkte: „Eigentlich erwarte ich ja von Musik, das ich etwas über den Menschen da auf der Bühne erfahre. Hier erfahre ich nichts.“ Zu allem Übel kann Stolz nicht Gitarre spielen, ist sich dessen charmanterweise aber bewusst: „Can you hear the guitar? I think it’s really soft here – but maybe it’s good for you guys“.


Donna vs. Eleonora

Eleonora aus München beweist danach ganz ohne Band, wie man es besser machen kann. Nicht nur, dass sie genau den richtigen heiseren Biss im Stimmansatz hat, der einem verrät, dass man es hier mit einer Frau und keinem Mädchen zu tun hat, auch erzählen ihre Lieder etwas über das Leben, worin ich mich wiederfinde und was mir bei Donna Stolz gefehlt hat. Eleonora ist echt, ohne hier die vielstrapazierte „Authentizität“ bemühen zu wollen. Nichtsdestotrotz: Eine Kadenz reicht eben nicht, um ein komplettes Set zu füllen, denn vom richtigen Gitarrespiel ist auch Eleonora noch weit entfernt.

Es sei dahingestellt, ob die Mädchen des Abends alle gern Ani DiFranco wären – denn schließlich kann DiFranco Gitarre spielen. Dahingestellt sei auch, ob es eine Korrelation zwischen Rocklänge und musikalischem Vermögen gibt. Fest zu stehen scheint hingegen, dass man als moderne Singer-Songwriterin unbedingt die selbe niedliche Ponyfrisur tragen muss, die man schon als fünfjähriges Mädchen hatte. Wir brauchen erst einmal eine Pause, und mein einer Begleiter fasst den bisherigen Abend zusammen mit einem geseufzten „Wir könnten schon vögelnd im Bett liegen“ – ein Witz, aber einer mit wahrem Kern: Man hätte mit der hier verbrachten Zeit Sinn- und Lustvolleres anfangen können. Zum Auftritt von Lùisa aus Hamburg kann ich deshalb auch nichts sagen: An der frischen Luft ist es schön und wir beschließen, eine Weile vor der Tür zu bleiben. Nichts ärgert so sehr wie belanglose Lieder!

Doch dann, endlich, kommt diejenige, wegen der wir hier sind: Illute mit ihrer Begleiterin Danielle, zudem ihren zwei Wiener Mitstreitern an Akkordeon und Bass – eine schöne Besetzung! Gleich das a-capella-Intro zeigt, dass wir hier einen Qualitäts-, ach was, einen Quantensprung machen – und zum ersten Mal an diesem Abend bin nicht nur ich froh, hier zu sein, sondern auch Kopfhörerhund, der schrammelig gespielte Gitarren nicht mag und bisher rege Fluchttendenzen aufwies, rollt sich entspannt zusammen und schläft. Ein sicheres Zeichen für gute Musik. Schon beim zweiten Song – Ich will weiter gehen/weiter als geplant – bekomme ich eine Ahnung davon, was Jo mit der lebensrettenden Platte meinte – wobei ich die Idee ohnehin gut nachvollziehen kann, ging es mir doch lange Zeit mit Pauline Taylors 1998 auf Intercord erschienenem selbstbetitelten Album – ja, das wo Constantly Waiting drauf ist – genau so. Und tatsächlich hat Immer kommt anders als du denkst alles, was eine Platte braucht, um sie zur Lieblingsplatte zu machen: Lieder, die berühren, eine minimalistische, dennoch ausgeklügelte Produktion, eine handvoll großartige Musiker und den nicht näher bestimmbaren Illute-Faktor, der dafür sorgt, dass man sich selbst bei Liedern, die direkt aus dem Tal der Tränen zu kommen scheinen, seltsam getröstet fühlt. Darüber hinaus das genau richtige Maß an Studiotechnik, das auf eine unnötige Demonstration überflüssigen Könnens verzichtet. Ich mag das Understatement, das Illutes Musik auszeichnet – eine Zurückhaltung, die nicht aus der Not oder gar aus Talentmangel geboren ist, sondern hinter der eine ganze Menge steckt. Eine herrliche Low-Fi-Platte, mit der Illute bei „Fabulous Female Folk“ absolut fehl am Platze ist.

Hier ist nichts bemüht, alles genau so, wie es sein muss, und das heutige Live-Arrangement noch leichter, ätherischer, poetischer als die Platte. Ganz zu schweigen von dem intuitiven Zusammenspiel, dem blinden Verständnis zwischen Illute und Danielle. In die beiden könnte man sich glatt verlieben; das letzte Mal, als ich eine Band schrumpfen und in der Hosentasche mit nach Hause nehmen wollte, damit sie fortan auf meinem Nachttisch für mich spielen, war vor einem Jahr bei A Glezele Vayn. Und jetzt wieder! Bei der Zugabe beweist Danielle obendrein, dass an dem von ihren Vorgängerinnen bemühten „Frauen und Technik“-Klischee nichts dran ist; zudem hat mir der Song den Glauben an die Loop-Station wiedergegeben: Ganz erstaunlich, wie die beiden mit absolut präzisem Timing und blindem Verstehen mit mehreren Schleifen parallel hantieren – mehr davon!

In zweierlei Hinsicht hat mir der Abend bestätigt, weshalb ich schreibend vor und nicht musizierend auf der Bühne stehe. Im Falle von Stolz & Co., weil ich vermutlich ebenfalls nicht über deren spieltechnisches Niveau hinauskäme – und das braucht kein Mensch, auch wenn es nicht regelrecht gestört hat. Im Falle von Illute und Danielle, weil man die Bühne denen überlassen sollte, die es können. Lieblingslied des Abends: Die Single-Auskopplung My Music Is A Boat und das Live-Arrangement von You Go, dessen Album-Fassung ihm nicht das Wasser reichen kann. Auch sehr schön: Eine herrlich schwerelose Version von Peter Schillings Synthie-Pop-Klassiker Major Tom (Völlig losgelöst):

Und wieder einmal rettet Illute Leben oder zumindest uns den Abend. Dafür ein großes Dankeschön! Jonathan Kluth hingegen ereilt das selbe Schicksal wie Lùisa: Er wird heute Abend von uns nicht mehr gehört. Vielleicht nächstes Mal!

Während wir den Abend mit dem Pflichtbesuch beim berühmt-berüchtigten Photoautomaten auf der Kastanienallee krönen, gabelt Kopfhörerhund nachts um halb drei noch einen jungen Liebhaber auf – und ist davon auch noch am nächsten Tag vollkommen geschafft.

Comments (4):

  • sasstroper

    Klangverführer ist ein wahrhaft treffender Name. Was hier zu lesen war, wird diesem Namen gerecht. Musikalisches so verführerisch mit Worten darzustellen, das ist auch Kunst.
    Glückwunsch zu dieser spritzigen, witzigen und schmerzhaft ehrlichen Besprechung.
    Geiler Schluss! Kopfhörerhund ist zu beneiden.
    Viele Grüße an illute tute und daniella. Schade, dass die Tonqualität der beiden Videos so miserabel. Die Bildauswahl der Besprechung ist jedenfalls ebenso genial wie die Wortwahl. Schöner Vergleich mit den Multitalenten der Renaissance. Da ist was dran.
    Hat mich bereichert. Danke!

  • Gloomy Saturday – Krispin spielen das Lied von traurigen Samstag im Zimmer 16 «

    […] tiefe und volle Stimme hat und obendrein Gitarre spielen kann. Ich wünschte, die Mädels der fabulösen Female Folk-Pleite hätten Cathleen gehört – sie würden sich zweimal überlegen, ob sie mit ihrer […]

  • Pussy Power am Potsdamer Platz «

    […] ganz Zauberhaftes damit machen werden. Ganz neu im Boot bei den Pussy Girls ist auch die wunderbare Illute, die auf dem Sampler auch zu hören sein […]

  • Ich kenn‘ dich doch von Facebook: Nikolai Tomás und Krispin Light im art.gerecht «

    […] und was das Puszta-Paprika-Zigeunergeiger-Klischee noch alles so hergibt. Und wenn er dann noch lebensrettende Lieder macht … Zumindest macht er sehr schöne Lieder, irgendwo zwischen Rätselhaftigkeit („Ich […]

Top